Persönlichkeitsentwicklung

Ein Beitrag von der Psychoanalytikerin Marianne Meister zum Thema Selbstwerdung und Reifung zu sozialer Verantwortung.

·

    In meinen folgenden Gedanken zur Persönlichkeitsentwicklung, Selbstwerdung und Reifung zu sozialer Verantwortung spielt der Psychoanalytiker C.G. Jung eine grosse Rolle, da er den Begriff der Individuation, wie er in den folgenden Ausführungen zur Anwendung kommt, geprägt hat. Individuation aus Jung’scher Sicht ist ein lebenslänglicher, natürlicher Entwicklungs- und Differenzierungsprozess, der die altersgemässe Bewältigung von vielerlei Entwicklungsaufgaben voraussetzt, die das Individuum und seine Beziehung zur Sozietät betreffen. Denn Jung versteht unter Individuation einen Selbstwerdungsprozess, der ohne die Beziehung zur Umwelt undenkbar ist: „Die Beziehung zum Selbst ist zugleich die Beziehung zum Mitmenschen, und keiner hat einen Zusammenhang mit diesem, er habe ihn denn zuvor mit sich selbst“ (GW 16, § 445).

    Individuation als natürlicher Entwicklungsprozess - das tönt ja vielversprechend, denn wenn die Individuation ein natürlicher Entfaltungsprozess ins Leben hinein ist, die Natur uns also dafür ausgestattet hat, dass wir uns entwickeln und entfalten können und sollen, haben wir eine starke Verbündete auf unserm Weg zu uns selbst. Dabei ist jeder Mensch einzigartig, wie auch sein Weg, den er geht bzw. auf den er gerät.

    Und so variieren von Mensch zu Mensch sowohl die natürliche Disposition zur Selbstentfaltung als auch die unabdingbaren äusseren Bedingungen, die jedes Individuum für sein Wachstum braucht. Diese Tatsache lässt sich gut vergleichen mit dem Bild eines Gartens: in der Tiefe der Erde können Keime von verschiedenen Blumen, Sträuchern und Bäumen liegen, die sich unter  günstigen Umständen und richtiger Pflege zu starken, gesunden Gewächsen entwickeln. Der geeignete Standort, also die passende Art von Erde, die richtige Menge von Licht und Wasser, genügend Platz und zuträgliche Temperaturen sind dabei für das ungestörte Wachstum einer Pflanze ausschlaggebend.

    So wie in einem zarten Keim der spätere starke Baum schon enthalten ist, so kann sich potentiell jedes Neugeborene unter genügend guten Bedingungen auf seine ganz individuelle Weise zu einem starken Kind, Jugendlichen und schliesslich Erwachsenen entwickeln. Sind dagegen die anlagemässigen und / oder die äusseren Bedingungen partiell oder ganz ungünstig, ist eine gesunde und ungestörte Entwicklung in Frage gestellt.

    Ich gehe davon aus, dass Sie anhand Ihres eigenen Lebensweges sowie durch Anschauung von Entwicklungsverläufen von Familienmitgliedern, Verwandten, Freunden und vielleicht auch Widersachern oder bei fremden Menschen beobachten können, dass der Selbstwerdungsprozess viele Gesichter hat und selten linear verläuft. Vielmehr kann es zu Verzögerungen, zu Brüchen, zu Umwegen, zu Abwegen, zu einer eigentlichen Selbstentfremdung bis zum Selbstverlust kommen.

    Es ist also gar nicht selbstverständlich, dass wir uns zu starken, autonomen, mutigen, selbstverantwortlichen und sozialen Individuuen entfalten - obwohl jeder von uns die Möglichkeit dazu in sich trägt. Warum gelingt dies denn dann den einen besser als den andern? Die diesbezüglichen Unterschiede zwischen den einzelnen Menschen sind offenkundig, erst recht, wenn wir unsere eigene sozio-kulturelle und politische Sphäre verlassen und die Menschen weltweit in den Blick nehmen - man denke beispielsweise an das kriegsversehrte Syrien.

    Wenn wir die Frage nach den notwendigen Bedingungen für eine ungestörte Persönlichkeitsentwicklung hin zu einem autonomen, kreativen, mutigen und sozial oder politisch engagierten Individuum stellen, geht es auch um die Frage nach den Bedingungen, die der Entfaltung eines empathischen und ethisch eingestellten Individuums förderlich sind. So ist beispielsweise nicht jeder Mensch fähig, Zivilcourage zu zeigen. Vielmehr gibt es nicht wenige Zeitgenossen, die ihr Fähnchen nach dem Winde hängen – sei es aus Angst, angegriffen und ausgegrenzt zu werden, oder sei es aus einer nur den eigenen Vorteil verfolgenden, berechnenden Haltung heraus, die sich nicht um die Mit-Verantwortung im sozialen und gesellschaftlich Umfeld schert oder das Umfeld zur Erlangung eigener Vorteile kaltblütig ausbeutet. Ich wage die Äusserung zu machen, dass eine Gesellschaft nur so gut ist wie ihre einzelnen Mitglieder. Deshalb muss es im Interesse eines Staates – zumindest einer Demokratie – sein, so viele autonome und starke Bürger wie möglich zu haben. Es ist leider eine Tatsache, dass dagegen eine despotische Regierung, die natürliche Menschenrechte wie freie Meinungsäusserung und Mitbestimmung missachtet, aus naheliegenden Gründen der Entfaltung von starken und selbstbewussten Bürgern entgegenwirkt.

    Doch wie kommt es zu einer - im besseren Fall – gesunden Entwicklung eines Menschen? Das Zauberwort heisst Beziehung. Denn der Mensch ist in seinem Gedeihen auf die verlässliche Beziehung zu einem Du angelegt, nur so kann er auch eine Beziehung zu sich selber aufbauen und sich selbst in seinem So-Sein zu erkennen beginnen.

    Wenn es in der frühen Kindheit nicht gut geht und es zur Selbstentfremdung kommt

    Wenn das Neugeborene und das junge Kind von früh auf gezwungen ist, seine natürlichen Bedürfnisse und Emotionen zurückzustellen und sich widernatürlicherweise an die willkürliche Verfügbarkeit der Eltern anzupassen, sei es bezüglich Zeitpunkt der Nahrung und des Gepflegtwerdens, der emotionalen Zuwendung, des notwendigen Augen-und Körperkontakts und des Spielens, stellt sich in ihm das Gefühl eines abgrundtiefen Verlorenseins in einer kalten Welt her. Nicht nur Not und Entbehrung wie in Hunger-und Kriegsgegenden können zu einer tiefgreifenden Selbstentfremdung führen, sondern auch dispositionelle Faktoren wie eine fehlende Passung zwischen dem Kind und seinen primären Bezugspersonen. E. Neumann, ein verstorbener, aber immer noch bekannter Autor Jung’scher Schule, beschreibt solche Prozesse der Selbstentfremdung in «Das Kind» eindrücklich und zeigt, wie das sich ungeliebt fühlende Kind ein primäres Schuldgefühl und daraus ein «Not-Ich» entwickelt. Der Begriff des «Not-Ichs» hat gewisse Ähnlichkeiten mit dem falschen Selbst von D.W. Winnicott und bezeichnet ebenfalls die Entfremdung des Kindes von sich selbst. Winnicott kam aus der freudschen Schule, war ein begnadeter Kinderpsychiater und prägte das zentrale Konzept der «good enough mother».

    Wenn ein Kind jedoch primäre Bezugspersonen hat – ausser den biologischen Eltern können dies auch soziale Eltern sein -, die aus verschiedenen Gründen nicht zu genügen vermögen, bekommt das Kind zwar nicht die wünschenswerte optimale Betreuung und Förderung, es überlebt jedoch in der Regel. Wenn es dagegen überhaupt keine Mutter, keinen Vater oder eine andere Bezugsperson erlebt, an die es sich emotional binden kann, ist es an Leib und Leben bedroht, selbst wenn es genügend Nahrung und Kleidung bekommt. Dazu gibt es sehr traurige Video-Aufnahmen von R. Spitz, die er anfangs des letzten Jahrhunderts in Waisenhäusern gemacht hatte. Man sieht in hygienisch einwandfreien Bettchen apathische Säuglinge liegen, er nannte diese Erscheinung anaklitische Depression, in deren Folge die betroffenen Säuglinge gehäuft starben. Diese hohe Säuglingssterblichkeit war die Folge von einem Mangel an Mutter-Liebe, an Beziehung, an Wertschätzung, an Freude, denn die wenigen Pflegerinnen, die eine grosse Anzahl von Babys betreuen mussten, waren damals darauf gedrillt, die Kinder allein auf der körperlichen Ebene hygienisch einwandfrei zu versorgen. Viele dieser Kinder erkrankten und starben an Liebesmangel (psychischer Hospitalismus). Inzwischen sind fast 100 Jahre vergangen und man weiss seit mehreren Jahrzehnten, wie wichtig die ganzheitliche Umsorgung durch eine genügend gute Mutter («good enough mother», Winnicott) für die gesunde Entwicklung eines Kindes ist. Wie schon angedeutet, kann die «good enough mother» auch durch den Vater oder eine andere liebevoll und konstant auf das Kind bezogene Person repräsentiert sein.

    Ein erwachsenes Individuum, das zwar eine kalte Kindheit überlebt hat, dem es jedoch nicht vergönnt ist, auf natürliche Weise eine starke Verankerung in sich selbst aufzubauen, muss die ganze Lebensleistung durch die Hilfe des sogenannten falschen Selbst  bzw. Not-Ichs erbringen, indem es gelernt hat, einseitig auf Rationalität und Leistung aufzubauen. In der Regel gehen damit die Herausformung von übertriebenem Perfektionismus, von Zwanghaftigkeit und Kontrollbedürfnis, von Rigidität sowie von einem Mangel an Spontaneität und Kreativität einher. Ebenfalls weitverbreitet ist heutzutage der narzisstische Trieb nach Aufmerksamkeit, Macht und Geltung, der sich je nach Anlage aufgrund der erwähnten Problematik des Mangels an Beziehung eines Menschen besonders stark entwickelt. Nicht selten entwickelt sich eine Depression, die im Kindesalter oft als ADS oder ADHS diagnostiziert wird, die jedoch, wenn unbehandelt, weit ins Erwachsenenalter hineingetragen wird und oft jahrelang als larvierte oder agitierte Depression unerkannt und unbehandelt bleibt. Diesem in unseren Breitengraden recht weit verbreiteten Typus von übermässig strukturierten Individuuen steht eben so oft der Strukturmangel, das Chaos, gegenüber: Menschen mit mangelhafter Bemutterung und Bevaterung verlieren sich nämlich oft auch in Strukturlosigkeit, Chaos und dem weitverbreiteten Suchtverhalten in seinen mannigfaltigen Ausprägungen.

    Mangelnder Selbst-Bezug und mangelnder Du-Bezug

    Es braucht nicht viel Phantasie, um zu erkennen, dass ein Mensch, der entweder sehr rigide und kontrollierend oder sehr chaotisch ist – oder beides in je unterschiedlichen Situationen -, sich selbst nie gefunden oder unterwegs verloren hat. Wer mit sich selbst ungelöste Probleme hat, trägt diese in Partnerschaften hinein und affiziert diese negativ. In der psychotherapeutischen Praxis nämlich erweist es sich täglich, dass ohne Selbstbezug, Selbsterkenntnis und Selbstakzeptanz auch kein lebendiger Bezug zum Du/ zum Andern möglich ist. Denn man kann nur soviel von sich in eine Partnerschaft einbringen, als man selber bei sich ist, und so ist man mehr oder weniger mitverantwortlich für die Qualität einer jeden Beziehung, in der man steht.

    Eigener Standpunkt, Anerkennen von andern Standpunkten und Demokratie-Fähigkeit

    Die Fähigkeit zu Selbstkontrolle, Selbstverantwortung und sozialer Verantwortung wird bereits in der Kindheit angelegt. Anhand der psycho-sexuellen Entwicklungsphasen von S. Freud zeigt Winnicott die Voraussetzungen für ein gutes Gedeihen auf: Wenn alles gut geht, erlebt das Baby eine ungestörte orale Phase mit der notwendigen Omnipotenz-Phase, in der die Grenzen zwischen Kind und Mutter bzw. Mutterfigur noch weitgehend aufgehoben sind. Die zweite Voraussetzung zur Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit ist eine geglückte anale Phase, in der der eigene bewusste Wille erwacht und in der Auseinandersetzung mit einer verständnisvollen Umwelt konstruktiv erprobt wird. So wächst im Kind die Fähigkeit, klare Grenzen zwischen dem eigenen Willen und dem Willen der Aussenwelt zu setzen und die unterschiedlichen Positionen als Tatsache zu erkennen und zu respektieren. Unschwer ist darin eine Grundfähigkeit zu erkennen, ohne die keine demokratischen Prozesse denkbar sind. In der darauffolgenden phallischen Phase, die etwa mit 3 ½ oder 4 Jahren einsetzt, präsentiert sich das Kind, das sich bisher ungestört entfalten konnte, in seiner vollen Kraft und in seinem vollen Charme, den es in seine aufblühenden weiteren sozialen Beziehungen spielerisch einzubringen vermag. Nach der Latenzphase (Primarschulalter), in der das Kind normalerweise gut ausbalanciert ist, kommt es in die Pubertät (genitale Phase), in der die Geschlechtsreife eintritt und die Ablösung vom Elternhaus und damit verbunden das Finden der eigenen psychischen und sexuellen Identität Hauptthemen sind. Spätestens gegen Ende der Pubertät schliesslich bilden sich auch Ziele für die persönliche, berufliche und soziale Weiterentwicklung heraus – «wenn alles gut geht», um mit Winnicott zu sprechen.

    Jungs Archetypenkonzept und Komplextheorie

    Doch wie wird denn die Persönlichkeitsentwicklung aus Jung’scher Sicht erklärt, und wo ist Jungs Link zu Winnicott und Neumann? In Kürze lässt sich sagen, dass Jung mit seinem Archetypenkonzept die Voraussetzungen einbringt, auf denen die Entwicklungspsychologen aufbauen können. Denn Jungs grosse Leistung, die ihn schliesslich die Freundschaft mit Freud kostete, war ja die Entdeckung des Kollektiven Unbewussten, das Sammelbecken aller Archetypen. Es wird jedem Menschen vererbt, denn es handelt sich um die gesammelten Erfahrungen aller unserer Vorfahren. Das heisst, jeder Mensch wird mit einer grossen, a priori gegebenen Potentialität, Erfahrungen zu machen, geboren. Jung unterscheidet den «Archetyp per se», also diese reine, unanschauliche, strukturelle Potentialität für Erfahrung, vom bildgewordenen Archetyp, der sich in der Erfahrung konstelliert.

    Wenn C.G. Jung von der Ich-Selbst-Achse spricht, die wir herstellen sollten, wenn wir starke, autonome Individuen werden möchten, meint er etwas ähnliches wie Winnicott mit der Entfaltung des «wahren Selbst». Die notwendigen Bedingungen dazu, nämlich eine genügend gute Umwelt, haben wir schon angesprochen. Wenn nun ein Mensch mangels genügend guter Bezogenheit auf die Aussenwelt nicht das Glück hatte, den Bezug zu seiner inneren Persönlichkeit wachsen zu lassen – ist dann ein solcher Mensch verdammt dazu, seine Potentialität ewig im Unbewussten schlummern zu lassen? Nein, es gibt eine Möglichkeit, mit der Jung und natürlich alle, die seine Konzepte schätzen und diese in der Arbeit mit dem Unbewussten fruchtbar machen, also wir heutigen Jung’schen Psychoanalytiker und Therapeuten, diese Schätze von ungelebtem Leben zu heben. Dies geschieht im Rahmen der therapeutischen Beziehung durch die Methoden der Traumarbeit, der aktiven Imagination, des Malens und des Sandspiels,  in denen sich neben dem persönlichen Unbewussten, das verdrängte Erfahrung beinhaltet, auch das kollektive Unbewusste mit seinen archetypischen Bildern manifestiert. Von einer solchen Nachreifung können Menschen jeden Alters profitieren, Kinder, Pubertierende sowie erwachsene Menschen jeden Alters. Neben dem Weg in eine Jung’sche Praxis bieten sich auch andere Wege zur Bewusstwerdung an, wobei das Augenmerk auf der Stärkung des Selbstbezugs und des Du-Bezugs liegen sollte, Merkmale eines in sich und in der Welt verankerten Individuums, das entsprechend verlässlich und fähig ist, Verantwortung für sich selbst und seine Umgebung zu übernehmen.

    Damit wären wir beim mündigen Bürger angelangt, den schon Immanuel Kant in seiner Schrift «Was ist Aufklärung?» leidenschaftlich gefordert hatte.


     

    Frage an die Leserschaft

    In einer politischen Gemeinschaft braucht es mündige Bürger, die gerne Verantwortung übernehmen und sich politisch engangieren.
    Wie schätzen Sie diesbezüglich aktuelle Lage in der Schweiz ein? Fördert das politische Milizsystem solche Bürger?  Können "wir" genügend mitmachen? Wird die soziale Verantwortung sorgfältig übernommen?