1. Einleitung: Problemlage und Adressat
Philosophen haben schon seit der Antike darüber nachgedacht, was ein guter Mensch ist und wie man gut lebt, aber: Für wen ist philosophisches Nachdenken über die Lebensführung überhaupt nützlich und sinnvoll? Ist die Art, das eigene Leben zu führen, nicht eine höchst persönliche und subjektive Entscheidung und damit kein relevanter Gegenstand des wissenschaftlichen Nachdenkens?
Natürlich muss bejaht werden, dass die Art der Lebensführung eine zutiefst persönliche Entscheidung ist, die niemand an Stelle des Betroffenen treffen kann. Allerdings ist es noch nicht ausgemacht, dass eine persönliche Entscheidung in dem Sinne subjektiv ist, dass sie für andere unverstehbar und für den Betroffenen unbegründbar ist. Die ganz alltäglichen Gespräche befreundeter Menschen deuten vielmehr daraufhin, dass wir davon ausgehen, dass unsere Entscheidungen sinnvoll und damit auch für andere nachvollziehbar sind. Zugleich gelingt es uns eben nicht immer, lebensausrichtende Entscheidungen zu treffen, die wir auch im Nachhinein bejahen. Angesichts der Vielfalt der gegenwärtig möglichen Lebensformen scheint die Erfahrung der eigenen Irrtumsmöglichkeit eine existentielle Verunsicherung hervorzurufen, die das Bedürfnis nach Lebensberatung im weitesten Sinne weckt. Dass dieses Bedürfnis als so genannte Orientierungslosigkeit ein umgreifendes gesellschaftliches Phänomen unserer Zeit darstellt, kann man in zahlreichen Feuilletons nachlesen und an den wachsenden Regalen mit Ratgeberliteratur verschiedenster Art in jeder größeren Buchhandlung beobachten. Mit der Nachfrage solcher Bücher scheinen die Menschen die Frage, ob die Lebensführung ein sinnvoller Gegenstand auch des wissenschaftlichen Nachdenkens ist, grundsätzlich zu bejahen. Es bleibt allerdings die Frage, auf welche Weise fremdes Nachdenken bei der Lösung der persönlichen Lebensfrage helfen kann.
Bezeichnend für unsere Zeit und die Stellung der akademischen Philosophie zum Leben ist, dass wir auf der Suche nach Antworten auf die Lebensfrage keineswegs als erstes zu philosophischen Werken greifen. Obwohl die Frage nach dem guten Leben eine Grundfrage der Philosophie darstellt, ist die akademische Philosophie der Gegenwart so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass die Relevanz ihres Nachdenkens für die Lebenswelt fraglich erscheint. Der Orientierungssuchende wird also eher zu einem Lebensratgeber greifen als bspw. zu einem Werk von Aristoteles oder Hume. Der aufmerksame Ratsuchende findet im Buchhandel zahlreiche Lebensratgeber. Diese Ratgeber lassen sich grob drei Gruppen zuordnen.
Die erste Gruppe von Ratgebern enthält mehr oder weniger verallgemeinerte Beschreibungen der eigenen Lebensführung des jeweiligen Autors, der aus bestimmten Gründen der Ansicht ist, sein Leben sei gelungen und könne deshalb als Vorbild für andere dienen. Der Lesende wird im Grunde zu einem Beobachter der fremden Lebensführung und ggf. der Lebensentscheidungen, ob und wie er seine eigenen Lebensfragen angehen kann, muss er sich selbst überlegen.
Die zweite und größte Gruppe bietet Regeln und Techniken für den Umgang mit sich selbst und anderen in verschiedensten Zusammenhängen an. Innerhalb dieser Gruppe gibt es sehr große Differenzen zwischen den Empfehlungen, da die Techniken stets vor dem Hintergrund einer größeren Theorie vom Menschen und seinem Glück stehen. Die Autoren dieser Ratgebergruppe haben oftmals einen wissenschaftlichen, bspw. psychologischen, gelegentlich aber auch einen esoterischen Hintergrund. In den Empfehlungen kommt folglich unausgesprochen eine Hintergrundtheorie über den Menschen zum Ausdruck, ohne dass der Leser wissen kann, warum gerade diese Sicht auf den Menschen und sein Glück den Anspruch auf Richtigkeit erheben kann. Im Grunde muss sich hier der Ratsuchende die zu seiner Vormeinung passende Empfehlung aussuchen. Wenn der Ratsuchende sich aber an die Fachleute gewandt hat, weil er existentiell verunsichert war, dann wird er mit seinem eigentlichen Anliegen allein gelassen.
Darüber hinaus gibt es noch eine dritte kleine Gruppe an Ratgebern, die den Leser dazu anregen will, die Wertvorstellungen, aufgrund derer er sein Leben bisher geführt und beurteilt hat, zum Gegenstand der Reflexion zu machen. Denn, wie verunsichert der Ratsuchende auch sein mag, insofern er überhaupt noch handelt und urteilt, legt er unbewusst bestimmte Wertvorstellungen als Maßstäbe seines Handelns zugrunde. Hierbei wird nun doch auf Werke verschiedener Philosophen verwiesen, die die eine oder andere Möglichkeit der Lebensbegründung schon vorgedacht haben. Wer also derart nachdenklich ist, kann die philosophische Literatur als Anregung zur Reflexion der eigenen Lebensgrundlagen nutzen, um herauszufinden, welche Vorstellung vom Guten seiner bisherigen Lebensführung zugrunde lag. Ist man sich der eigenen bisher unbewussten Glückvorstellung bewusst geworden, dann kann man anschließend ggf. die passenden Techniken aus der zweiten Ratgebergruppe auswählen.
Das eigentliche Anliegen des Orientierungssuchenden wird allerdings auch von diesen Ratgebern nicht thematisiert: Zur Lektüre der Lebensratgeber bewegte ihn eine existentielle Verunsicherung, die aus als falsch erlebten Entscheidungen resultierte. Wenn er nun weiß, auf welcher unbewussten Grundlage er diese früheren Entscheidungen getroffen hat, zusätzlich bessere Techniken der Umsetzung kennt und sogar ein entsprechendes Vorbild anschaulich vor Augen hat, wieso sollten jetzt die Lebensentscheidungen auf derselben Grundlage besser sein als vorher?
Damit ist der Adressat philosophischer Lebensreflexion umrissen. Sie soll den Orientierungssuchenden ansprechen, der sich fragt, welches Leben für ihn gut ist. Verfolgt er diese Frage konsequent genug, so verschärft sie sich zu der Frage, ob das, was man bisher für gut gehalten hat, auch tatsächlich gut ist. Für diese radikalisierte Fragestellung ist es natürlich nicht zwingend notwendig, dass der Fragende sich durch die einschlägige Ratgeberliteratur gelesen hat. Relevant sind einzig die eigene existentielle Betroffenheit und die Feststellung, dass es zunächst unklar ist, welche der vorhandenen Lebensmöglichkeiten die richtige, gute und glückliche ist. Versucht der Orientierungssuchende zwischen diesen Antworten eine begründete Entscheidung zu fällen, kommt er nicht umhin, die Antworten auf irgendeine Weise abzuwägen und zu prüfen. In diesem Stadium seines Nachdenkens über die Lebensfrage ist der Orientierungssuchende im Grunde über die bloße Suche nach Antworten hinaus, da er nun beginnt, die vorgefundenen Antworten zueinander ins Verhältnis zu setzen.
Die gegenwärtig recht verbreitete Empfehlung, einfach nach dem Gefühl zu entscheiden, ist im Grunde selbst eine der Positionen, die geprüft werden sollen. Denn sie unterstellt, dass das gute Leben eines ist, das ganz von meinem subjektiven Gefühl geleitet wird. Macht der Fragende mit seiner Frage und folglich mit der Prüfung ernst, dann kann er diesen Maßstab nicht unhinterfragt anlegen. Das gleiche Problem würde sich mit jedem anderen Maßstab wiederholen. Im Grunde muss dieser Fragende also erst das Prüfen lernen, um seine Frage nach dem Grund eines guten Lebens beantworten zu können.
2. Lösungsansatz: Aneignung der Fähigkeit, Lebensbegründungen zu prüfen
Unter den uns noch heute bekannten Philosophen ist Sokrates der erste, der sein Leben in völlig radikaler Weise der Prüfung des für gut Gehaltenen verschrieben hat. Er hat seine besondere Art zu prüfen entwickelt und ging in seiner Verteidigungsrede vor Gericht (Platons „Apologie“) soweit zu behaupten, dass diese Prüfung selbst das größte Gut für die Menschen darstellt. Ein ungeprüftes Leben ist laut Sokrates nicht lebenswert. Konsequenterweise nahm er die Todesstrafe des Athener Gerichtes auf sich, als er vor die Wahl gestellt wurde, mit seiner prüfenden Gesprächsführung aufzuhören oder zu sterben. Dank Platon können wir noch heute das sokratische Prüfen nachvollziehen und bei Bedarf erlernen.
Der große Vorteil der sokratisch-platonischen Tugenddialoge besteht darin, dass in diesen Texten nicht bloß eine Theorie des Prüfens entfaltet wird, d.h. es wird nicht einfach darüber gesprochen, wie man prüfen könnte. In den Tugenddialogen werden stattdessen konkrete Vorstellungen davon, was einen Menschen und sein Leben gut macht, geprüft. Der Orientierungssuchende kann also im Nachvollzug eines Tugenddialoges die Prüfungstätigkeit des Sokrates direkt erfahren und daran eine eigene Fähigkeit entwickeln. Ein Tugenddialog ist zudem so aufgebaut, dass Sokrates aus einem mehr oder weniger alltäglichen Gespräch die Frage nach einer Tugend entwickelt. Die Gesprächspartner des Sokrates schreiben diese Tugend jemandem lobend zu – sich selbst oder anderen – und beanspruchen damit das Wissen über diese Tugend. Sokrates fragt nach: was ist die beanspruchte Tugend, Tapferkeit, Gerechtigkeit oder Besonnenheit? Im folgenden, gemeinsamen Gespräch mit dem Antwortenden untersucht Sokrates, ob die vorgebrachte Antwort dem anfänglich erhobenen Anspruch genügt. Diese Antworten sind, ganz unabhängig davon ob sie die sokratische Prüfung bestehen können, sehr lehrreich auch für den heutigen Orientierungssuchenden. Sie stellen zwar ganz konkrete inhaltliche Antworten dar, zugleich können sie aber auch als grundsätzliche, exemplarische Möglichkeiten, den Grund eines guten und glücklichen Lebens zu bestimmen, verstanden werden. Ich will hier die Ergebnisse eines solchen Nachvollzugs anhand des Dialogs „Charmides“ über die Besonnenheit skizzieren.
Im ersten Anlauf im „Charmides“ wird die Besonnenheit als Bedächtigkeit bestimmt. Damit wird die Begründung des Glücks als eine ganz bestimmte Art zu Handeln aufgefasst: man müsste alles ruhig und langsam tun. Die Unzulänglichkeit dieser Bestimmung ist schnell einsichtig, denn gelegentlich, bspw. in einer Notlage, ist beherztes, schnelles Handeln das einzig sinnvolle und gute Handeln. Darüber hinaus kann man feststellen, dass auch jede andere Handlungsweise als solche nicht zur Lebensbegründung geeignet ist. Schnelles Handeln ist bspw. ebenso ambivalent wie langsames, da es durchaus Situationen gibt, in denen Schnelligkeit unangemessen oder gar gefährlich ist. Charmides’ eigene Beispiele sind Sprechen und Überqueren der Straße.
Der Orientierungssuchende kann also beim Durchdenken der verschiedenen Antworten exemplarisch die Reichweite bestimmter Antworttypen für die eigene Lebensbegründung durchschauen und damit auch die eigentlichen Anforderungen an eine solche Begründung verstehen. An der skizzierten Antwort Bedächtigkeit wird bspw. deutlich, dass wir zur Lebensorientierung etwas benötigen, das uns bei der Entscheidung hilft, wann welches Verhalten angemessen und sinnvoll ist. Ein solcher Maßstab darf deshalb selbst nicht so ambivalent sein, wie die Verhaltensweisen es sind. Wir unterstellen schon im Begriff „Maßstab“ oder „Grund“ eine Eindeutigkeit über verschiedene konkrete Lebenslagen hinweg. Im Verlauf der sokratischen Prüfung im Dialog vertiefen sich die Antworten der untersuchten Gesprächspartner, so dass der Orientierungssuchende immer grundlegendere Möglichkeiten der Lebensbegründung exemplarisch durchdenken kann.
Was kennzeichnet also die sokratische Prüfung?
Im Wesentlichen lässt sich die sokratische Prüfung als eine schrittweise Bemühung beschreiben, die beanspruchte Begründung der Lebensführung zu verstehen und zu verwirklichen. Dem selbst geführten Dialog geht die Einsicht voraus, dieser Begründung noch zu bedürfen, kombiniert mit der Überzeugung, zu dieser Einsicht grundsätzlich fähig zu sein. Im ersten Gesprächsteil (Vorgespräch) findet im Tugenddialog eine Umkehr der üblichen Denkrichtung auf die Lebensbegründung hin statt. Im zweiten Gesprächsteil (Hauptgespräch) wird die eingeschlagene Denkrichtung schrittweise verwirklicht.
Was ist mit einer Umkehr unserer alltäglichen Denkrichtung gemeint? Im Alltag gehen wir von einer unterstellten Wertvorstellung aus und urteilen von diesem Vorurteil her über uns und andere. Wir denken dabei nicht über die Richtigkeit unserer zugrunde liegenden Wertvorstellungen nach, sondern betrachten nur ihre möglichen Anwendungsfälle. Sokrates wendet das Denken um und macht die unterstellten Vorstellungen selbst zum Gesprächsgegenstand.
Der zweite Schritt stellt den Vollzug der eingeschlagenen Denkrichtung dar und füllt das gesamte Hauptgespräch. Die sokratische Prüfung setzt an dem beurteilten Phänomen an, bspw. an der Selbsterfahrung des als gut beurteilten Menschen, und schreitet in der Untersuchung der Reflexionsergebnisse konsequent bis zu der tiefsten Begründung der Lebensführung fort.
Im Dialog „Charmides“ ist das Hauptgespräch zusätzlich zweigeteilt. In dem ersten Teilgespräch mit Charmides beginnt der Begründungsversuch mit einer Beschreibung der Handlungspraxis. Die Besonnenheit soll Bedächtigkeit sein. Charmides unterstellt damit, dass bestimmtes Handeln ein gutes Leben begründet. Wie schon oben angedeutet, lässt sich aufzeigen, dass eine bestimmte Handlungsweise nicht unter allen Umständen sinnvoll ist. Der nächste Schritt führt weiter zu der Einsicht, dass die eigene Bewertung einer Handlungsweise von der eigenen Einstellung oder noch allgemeiner von dem eigenen Lebensprinzip abhängt. Im Dialog bringt das Prinzip, jeder solle das Seinige tun, Charmides’ zurückhaltende Lebensführung auf den Begriff.
Ist man bei der Untersuchung der eigenen Lebensgrundlagen soweit fortgeschritten, so kann man problemlos erklären, wieso anfänglich das ruhige oder schnelle Verhalten als wertvoll erschien. Die Bewertung war jeweils Ausdruck der tiefer liegenden Bemühung, sich nur um die eigenen Angelegenheiten (das Seinige) zu kümmern und sich nicht in fremde Angelegenheiten zu mischen. Die vielen Einzelhandlungen des konkreten Lebensvollzuges werden auf diese Weise in ihrem inneren Zusammenhang sichtbar, so dass das eigene Leben als Ganzes erfasst und verstanden werden kann.
Allerdings behält Sokrates weiterhin die umgekehrte Denkrichtung bei und vertieft damit die Prüfung. Die Unterstellung, die auf dieser Ebene der Selbstreflexion bewusst wird, ist die Vorstellung zu wissen, was die eigenen Angelegenheiten sind. Dieses Wissen scheint für uns das Selbstverständlichste zu sein. Allerdings scheitern die Gesprächpartner im Dialog bei dem Versuch, das „Seinige“ inhaltlich so auszufüllen, dass sie sich erstens selbst und anderen nicht schaden und zweitens wissen, was sie tun. Daran wird deutlich, dass gerade das Verständnis der eigenen Angelegenheiten nicht unterstellt werden darf. Vielmehr müsste sich der Orientierungssuchende als erstes darum bemühen. Die Frage nach der richtigen Lebensführung darf also nicht äußerlich verstanden werden, sondern betrifft den Fragenden vorrangig in seinem Selbstverständnis.
An dieser Stelle der Prüfung wird das Begründungsverhältnis von Handeln und Denken einsehbar. Wenn erst das richtige Verständnis des Begriffs „das Seinige“ ihn zum Maßstab der Lebensführung erhebt, dann lässt sich schlussfolgern, dass das richtige Denken das richtige Handeln und damit auch das gute Leben begründet. Sokrates verdeutlicht in der Prüfung also die fundamentale Angewiesenheit unseres Handelns auf ein begründendes Denken. Da der Antwortende im Dialog auf seine Lebensführung reflektiert, die so gebildeten Bestimmungen aber seinen eigenen Anspruch auf ein gutes Leben nicht erfüllen können, deutet sich an, dass das gesuchte richtige Denken auf einem anderen Wege erworben werden muss. Die nachträgliche Reflexion der eigenen Lebensführung reicht also als Lebensbegründung nicht aus. Das Scheitern dieser Art der Reflexion rechtfertigt zugleich das prüfende Denken des Sokrates, das sich dadurch als überlegen darstellt, dass es die Schwierigkeiten der nachträglichen Reflexion aufzeigen kann. Dann liegt die Deutung nahe, dass Sokrates im Vollzug der Prüfung eine Begründung für seine Tätigkeit erreicht, ohne sie vorher voraussetzen zu müssen. Das würde allerdings bedeuten, dass Sokrates in der Prüfung die Art des Denkens vollzieht, die sein Gesprächspartner unterstellt und die für den Orientierungssuchenden als Vorbild dienen kann.
In dem zweiten Teil des Hauptgesprächs tritt ein weiterer Gesprächsteilnehmer Kritias mit dem Anspruch an, das richtige Denken vorweisen zu können. Konsequenterweise wird nun behauptet, dass die Lebensbegründung durch Selbsterkenntnis zu erreichen ist. Die Untersuchung dessen, was der geprüfte Kritias unter Selbsterkenntnis versteht, ist nicht leicht nachzuvollziehen. Allerdings kann zusammenfassend folgendes festgehalten werden.
Kritias versteht Selbsterkenntnis als ein Wissen des Wissens. Zur Plausibilisierung dieser Antwort hilft es, wenn wir uns daran erinnern, welche große Bedeutung das Wissen, oder modern gesprochen Information, für unsere Entscheidungen hat. Je genauer wir über etwas informiert sind, desto begründeter und angemessener können wir auf diesem Gebiet handeln. Der Grad der Informiertheit oder eben der jeweilige Kenntnisstand unterscheidet den richtig handelnden Fachmann von dem mehr oder weniger hilflos agierenden Laien, so dass die Deutung der Selbsterkenntnis als eine Reflexion des Wissens im Hinblick auf den Grund einer gelungenen Praxis gar nicht so abwegig erscheint. Allerdings will Kritias die fragliche Selbsterkenntnis nicht auf ein bestimmtes Gegenstandsgebiet bezogen wissen, sondern unabhängig von Einzelgegenständen auf das Erkennen als solches. In der Folge der Wissensreflexion soll der Mensch ein Bewusstsein seiner Erkenntnisse erworben haben und unterscheiden können, ob aktuell eine Erkenntnis vorliegt oder nicht.
Wie eine solche Selbstreflexion des Wissens vollzogen werden kann und was ihr Nutzen für den Menschen sein könnte, kann Kritias nicht erläutern. Das Fazit ist denkbar einfach: dieses Wissen vom Wissen ist nicht die gesuchte Selbsterkenntnis, die zum Verständnis des Seinigen führen und das gute Leben begründen könnte. Kritias reagiert im Grunde gar nicht auf das Zwischenergebnis der sokratischen Prüfung, das auf die Notwendigkeit, das Seinige zu verstehen, hinwies. Vielmehr setzt seine Art der Selbsterkenntnis voraus, dass der Handelnde das Seinige implizit schon kennt und sich nur dieses Wissens bewusst werden muss als eines der reflektierten Wissenstatbestände neben anderen.
Die genaue Auseinandersetzung mit dieser Antwort, ebenso wie ihre Schwierigkeiten, ist sehr vielschichtig. Für den Orientierungssuchenden ist daran vorrangig, dass gerade die Unterstellung zu wissen, was das Seinige ist, die Selbsterkenntnis verhindert. Denn wer davon ausgeht, das Seinige zu kennen, bemüht sich nicht um diese Einsicht. Wer allerdings diese Bemühung unterlässt, wird auch die in dem Seinigen unterstellten Vorurteile vom eigenen Guten nicht prüfen. Er befindet sich damit in eben jener Lebenssituation, die am Anfang dieses Aufsatzes beschrieben wurde: dieser Mensch trifft Lebensentscheidungen, die er in der Folge nicht mehr bejahen kann.
Auf der sokratischen Seite des Denkvollzugs lässt sich etwas anderes festhalten. Sokrates verdeutlicht, dass das richtige Denken sich auch ausweisen können muss. Dann erst kann es als solches die Begründung eines guten Lebens darstellen und der von vielen Faktoren abhängigen Handlungspraxis Festigkeit verleihen. Auch im sokratischen Denken nimmt also die Selbsterkenntnis eine zentrale Stellung ein. Allerdings kann diese Selbsterkenntnis angesichts des Textgeschehens nicht als Wissensreflexion verstanden werden.
Der skizzierte Dialognachvollzug legt die Deutung nahe, dass Sokrates im Vollzug die im Vorgespräch eingenommene Orientierung auf die Lebensbegründung (die Umkehr) verwirklicht, indem er die notwendigen Zusammenhänge aufdeckt und sich ihnen unterordnet. Diese Bemühung um Begründung verwirklicht ein offenbar im Menschen angelegtes Vermögen, das vorher nur der Möglichkeit nach vorhanden und von den Geprüften als verwirklicht unterstellt war: die Vernunft. Dieses Denken in Sachzusammenhängen ist das Neue, das Sokrates im Vollzug der Prüfung verwirklicht. Sokrates scheint eben dieses Denken als das größte Gut des Menschen zu bezeichnen, auf dessen ständige Aktualisierung er auch bei Androhung des Todes nicht verzichten will.
3. Fazit: Lebensorientierung im Vollzug der Frage
Kehrt man zu der anfänglichen Frage nach dem Nutzen philosophischen Nachdenkens für die Lebensführung zurück, so scheint eine gewisse Ergebnislosigkeit vorzuliegen: mit einer Frage beginnt und endet das Nachdenken. Doch bei genauer Betrachtung kann man feststellen, dass sich die Frage verändert hat. War die anfängliche Frage ein Ausdruck der Verunsicherung, so ist sie im Verlauf des Nachdenkens selbst zu einem tragenden Grund geworden, der den geprüften Antworten überlegen zu sein scheint. Diese Veränderung lässt sich in vier Schritten skizzieren.
Die anfängliche Frage nach der richtigen Lebensführung war eine Reaktion auf die Vielfalt möglicher Lebensformen angesichts der erlebten Unzufriedenheit mit den bisherigen Lebensentscheidungen. Anders formuliert, war die Frage eine Reaktion auf die Erfahrung des eigenen Irrtums und stellt damit den rationalen Ausdruck eines existentiell erlebten Mangels dar. Woran es dem Fragenden eigentlich mangelt, ist zunächst ungeklärt.
Der zunächst nahe liegende Umgang mit dieser Frage ist der Versuch, sie mithilfe von Ratschlägen zu beantworten und damit loszuwerden. In diesem Schritt wird deutlich, dass dem Fragenden nicht wirklich Antworten fehlen, weil er gerade von der vorliegenden Vielfalt möglicher Lebensformen verunsichert die Frage entwickelt. Vielmehr zeigt sich, dass dem Fragenden eine Begründung der Lebensmöglichkeiten fehlt, die ein Urteil über deren Richtigkeit erlauben würde.
Der zweite Anlauf, die Frage zu beantworten, indem der Fragende die Lebensbegründung bei bedeutenden Philosophen nachliest, ist im Grunde von derselben Haltung getragen. Der anfänglich erlebte Mangel wird als ein Wissensmangel gedeutet, der durch eine Aneignung von Wissen behoben werden kann. Allerdings fordert die Vielfalt der philosophischen Systeme dazu heraus, diese Haltung zu verändern. Der Fragende muss nun stärker aktiv werden und die verschiedenen Begründungen eines guten Lebens prüfen.
Im dritten Schritt wird die direkte Beantwortung der eigenen Lebensfrage zunächst etwas zurückgestellt, um am Vorbild des Sokrates das Prüfen von Begründungen zu erlernen. Die Fähigkeit, eine Bestimmung des Lebensgrundes immanent an den für ihn erhobenen Ansprüchen zu prüfen, kann sich der Fragende allerdings nicht mehr als Wissen aneignen. Der Fragende muss die Prüfung vielmehr selbst nachvollziehen und einüben. Im diesem Nachvollzug zeigt sich eine Besonderheit des prüfenden Fragens: die Fähigkeit, Antworten auf die Lebensfrage zu prüfen, begründet sich an dem Scheitern der Antworten selbst. Mit diesem Schritt kann der ursprüngliche Mangel ganz anders verstanden werden: Der Fragende bedarf keines weiteren Wissens. Die gesuchte Begründung ist vielmehr eine von dem Menschen selbst eingebrachte Wirklichkeit des Gewussten.
Im vierten Schritt kann nun der Versuch unternommen werden, vorgefundene Begründungen selbst immanent zu prüfen und so das eigene Denken zu transformieren.
Für den Orientierungssuchenden kann abschließend festgehalten werden, dass eine eigene Orientierung im Leben nicht durch bloße Zurkenntnisnahme fremder Orientierung erreicht werden kann. Die Orientierungssuche fordert vielmehr die eigene Auseinandersetzung mit den vorgefundenen Lebensentwürfen und ihren Begründungen. Erst durch eine solche Auseinandersetzung werden die philosophischen Konzepte eines guten Lebens für das eigene Leben fruchtbar. Das herausragende Vorbild dafür stellt Sokrates in den platonischen Tugenddialogen dar.