Stand in der Geschichte der Philosophie die reflexive Selbstbestimmung in anthropologischer Absicht auf dem Programm, spielte lange die besondere Betonung und Wertschätzung der geistigen Fähigkeiten des Menschen die erste Geige. Formeln wie animal rationale oder homo sapiens sapiens sind dafür einschlägige Belege. Doch melden sich in jüngerer Zeit mehr und mehr Stimmen zu Wort, die auch die körperliche Seite der menschlichen Existenz in ihrer philosophisch-anthropologischen Bedeutung berücksichtigen wollen. So ist der Mensch für den schottischen Moralphilosophen Alasdair MacIntyre etwa ein »abhängiges rationales Tier«1. Die gängige Charakterisierung als Vernunftwesen ist hier zwar nicht verschwunden, jedoch sieht MacIntyre den Menschen zuallererst als Naturwesen, als menschliches Tier. Zuallererst deshalb, weil der natürliche Verlauf eines menschlichen Lebens in körperlichen Zuständen beginnt und endet, die kaum oder gar nicht durch intellektuelle Fähigkeiten oder rationale Leistungen gekennzeichnet sind. Das Menschenkind kommt zur Welt als absolut ausgeliefertes und unselbstständiges Wesen, das allein auf sich gestellt keinen einzigen Tag überlebensfähig ist, das in Gänze dem fordernden Takt seiner körperlichen Grundbedürfnisse zu folgen gezwungen ist und erst allmählich, nach und nach zu einem eigenständigen Exemplar seiner Gattung heranreift. Es dauert Monate und Jahre, bis ein neugeborener Mensch sich alleine und ohne Hilfe fortbewegen, ernähren und sprachlich differenziert verständlich machen kann. Und am Ende des Lebens wird der in seiner Lebensmitte von hochgeistigen Fähigkeiten und kognitiv-rationalem Bewusstsein durchdrungene Kopfmensch Schritt für Schritt wieder zu dem, was er zu Beginn war: ein von der Hilfe und Pflege anderer abhängiges, mehr und mehr unter der Macht von Primärbedürfnissen und eingeschränkten Körperfunktionen stehendes, unselbstständiges Wesen. Im Tod und in der Geburt ist der Mensch kaum Geist, kaum Verstand und Vernunft, aber völlig Körper.
Abhängig ist der Mensch aber nicht nur an den Polen seiner Existenz, auch während seines Lebens ist er grundsätzlich und dauerhaft der Möglichkeit ausgesetzt, verletzt, gestört und beschädigt zu werden. Dabei ist die grundsätzliche Disposition der Verletzbarkeit allerdings kein Merkmal, das dem Menschen alleine zukommt und ihn von anderen Lebewesen, Pflanzen und Tieren abhebt. Auch Bäume, Blumen, Vögel, Insekten und Säugetiere sind in ihrer organisch-körperlichen Verfassung prinzipiell bedroht, können verwundet, beschädigt und zerstört werden. Was den Menschen jedoch in besonderer Weise kennzeichnet, ist sein Bewusstsein von und sein Umgang mit dem Umstand seiner Vulnerabilität.
Im Grunde lässt sich die gesamte Zivilisations- und Kulturgeschichte auch verstehen als Prozess der Herausbildung und Verfeinerung von Praktiken und Techniken zur Vermeidung von Beeinträchtigungen der für Schädigungen aller Art anfälligen physischen Konstitution des Menschen. Mittlerweile hat sich der Mensch in einem recht komfortablen Leben eingerichtet, angefangen bei bequemen und funktionalen Behausungen mit Zentralheizung und Klimaanlage, bis hin zu einem weitverzweigten System der Lebensmittelproduktion und -versorgung, das die lückenlose Bereitstellung aller erdenklichen Nahrungsmittel weit über das Maß der Befriedigung der überlebenswichtigen Bedürfnisse hinaus garantiert. Die Lebensumstände (jedenfalls in der westlichen Welt) haben einen Standard erreicht, der einen Großteil der externen Gefahren und Bedrohungen im Normalfall bannt. Der vulnerable Mensch hat sich ein schützendes Gehäuse gebaut und hat Fertigkeiten zur Nutzung seiner Umwelt entwickelt, um seiner prekären Lage zuvorzukommen und sich ein Leben in Wohlstand, Sicherheit und Unversehrtheit zu ermöglichen.
Vulnerabilität und Bioethik
Doch auch der Mensch des 21. Jahrhunderts ist freilich nicht unverletzlich. Auch er hat einen Körper und ist ein leibliches Wesen, das verwundet und lädiert werden kann. Unabhängig von Alter, Geschlecht, vom jeweiligen Wohlstand, dem Bildungsgrad oder ähnlichen persönlichen Faktoren kann jeder Mensch prinzipiell jederzeit verunglücken, sich verletzen oder erkranken. Insofern lässt sich eine weitere Großinstitution menschlicher Kultur auf die Grundbedingung der Vulnerabilität zurückführen: die Medizin. Als Praxis der Hilfe für Menschen in gesundheitlicher Not und Beeinträchtigung hat die Medizin die Abhängigkeit des Menschen im Zentrum ihrer Bestimmung. Alle fundamentalen Zielsetzungen ärztlichen Handelns leiten sich aus dem anthropologischen Umstand der Vulnerabilität ab. Und nicht nur die Ausrichtung der medizinischen Tätigkeit selbst, sondern auch die damit aufs engste verknüpfte ethische Dimension ist ohne Bezug auf die Hinfälligkeit des Menschen kaum verständlich. Für die australischen feministischen Bioethikerinnen und Philosophinnen Wendy Rogers, Catriona Mackenzie und Susan Dodds scheint Vulnerabilität demgemäß »das Herzstück der Bioethik zu sein«2.
Vulnerabilität und Solidarität
Diesem Zentralmoment eines Teilbereichs der angewandten Ethik kommt damit eine weit über den Kontext der Medizin hinausreichende politische Relevanz zu: Da es gerade die vulnerable Grundsituation ist, die allen Menschen gleichermaßen zukommt, ist sie auch dasjenige Moment, das alle verbindet. Und die ohnehin ethisch-anthropologisch grundierte Unternehmung der Medizin wird erkennbar auch als ein Projekt der Solidarität, worauf Rogers, Mackenzie und Dodds in ihrem Plädoyer für eine entsprechende Theoriebildung in der Bioethik abstellen: »Ein Fokus auf Vulnerabilität betont unser gemeinsames Menschsein und bietet eine Grundlage für Solidarität.«3 Die Einsicht in die vulnerable Natur des Menschen, die jedem einzelnen inhärent ist, und die Akzeptanz dieses Aspekts, vermögen insofern eine der stärksten Quellen bilden für die Herausbildung von echtem menschlichen Gemeinsinn und humaner Verbundenheit. Dies hat auch MacIntyre im Sinn, wenn er die Abhängigkeit des rationalen Tieres, das wir alle sind, ins Zentrum seiner Anthropologie und Ethik stellt. Er unterstreicht, dass sich Solidarität und Hilfe keinesfalls in bloß einseitigen Beziehungen vollziehen, in denen ein gesunder Mensch einem hilfsbedürftigen Mitmenschen Beistand leistet und dieser die Wohltaten nur empfängt. Die Anerkennung der menschlichen Abhängigkeit umfasst weit mehr als nur das Einsehen einer anthropologischen Unausweichlichkeit, sie vollzieht sich vielmehr in Momenten der Begegnung und des Sich-selbst-im-Anderen-Erkennens:
»Von Bedeutung ist nicht allein, dass in dieser Gemeinschaft Kinder und Behinderte Gegenstand von Fürsorge und Aufmerksamkeit sind. Entsprechend bedeutsam ist auch, dass jene, die keine Kinder mehr sind, in anderen Kindern wiedererkennen, was sie einst waren, dass jene, die noch nicht die Behinderung des Alters erfahren, in den Alten erkennen, was sie selbst einst sein werden, und dass jene, die nicht krank und verletzt sind, in den Kranken und Verletzten erkennen, was sie selbst oft waren, sein werden und jederzeit sein könnten.«4
1 Alasdair MacIntyre, Die Anerkennung der Abhängigkeit, Hamburg 2001.
2 Wendy Rogers/Catriona Mackenzie/Susan Dodds, Warum die Bioethik ein Konzept von Vulnerabilität benötigt, in: Nikola Biller-Andorno/Settimio Monteverde/Tanja Krones/Tobias Eichinger (Hrsg.): Medizinethik. Grundlagentexte zur Angewandten Ethik (im Erscheinen), S. 191-221, hier S. 192.
3 Rogers/Mackenzie/Dodds, Warum die Bioethik ein Konzept von Vulnerabilität benötigt, S. 211.
4 MacIntyre, Anerkennung der Abhängigkeit, S. 172f.