Eine Demonstration der "Extinction Rebellion"

Rechtfertigt der Klimawandel zivilen Ungehorsam?

Eine komplexe, moralische Frage, für die wir nicht nur Fakten der Klimaforschung brauchen, sondern vor allem unser Verständnis von Gerechtigkeit

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    Aktivisten, die im Namen des Klimaschutzes die Schule schwänzen oder den Straßenverkehr, Wälder, Tankstellen oder Kohleabbau blockieren, richten nicht nur wirtschaftlichen Schaden an, sondern stören das öffentliche Leben und brechen mutwillig das Gesetz. Während die Protestierenden aus moralischer Überzeugung handeln und sich zu zivilem Ungehorsam verpflichtet fühlen, um das Wohl der Menschheit zu retten, sehen ihre Gegner vor allem ideologie-getriebene, radikale (linke) Systemkritiker, deren Aktionen in einer rechtsstaatlichen Demokratie nie toleriert werden dürfen. Zwischen diesen beiden extremen Positionen ist Platz für eine differenzierte, moderate Haltung: Unter bestimmten Bedingungen ist ziviler Ungehorsam ein wichtiger Bestandteil einer demokratischen Gesellschaft. Das heißt, dass viele gesetzeswidrige Protestformen zu verurteilen, andere aber zu tolerieren sind. Wie unterscheiden wir die einen von den anderen?

    Die Taten von Martin Luther King und Mahatma Gandhi gelten als Paradebeispiele für berechtigten zivilen Ungehorsam, sehen wir doch zumindest einige ihrer damals gesetzeswidrigen Protestkationen als moralisch richtig, gar heroisch an. Oft werden die jeweiligen Umstände also als Maßstab für moralisch legitimen zivilen Ungehorsam genommen. Doch der direkte Vergleich bedarf einer genauen Analyse der historischen Ereignisse und ist daher schwierig.1 In Recht und Medien wird daher die politische Philosophie der 1970er und 80er herangezogen, vor allem die Theorien von John Rawls, Hannah Arendt und Jürgen Habermas sind weit verbreitet und anerkannt. John Rawls definiert in A Theory of Justice zivilen Ungehorsam als öffentliche, gewaltlose, gewissenbestimmte, aber politische gesetzwidrige Handlung, die eine Änderung der Gesetze oder der Regierungspolitik herbeiführen soll.2 Ziviler Ungehorsam ist dann moralisch gerechtfertigt, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind: Erstens sind die Proteste darauf ausgerichtet, die Änderung von Gesetzen oder Regeln zu erzielen, die eine Ungerechtigkeit verursachen. Zweitens sind bereits normale Versuche, dieses Ziel zu erreichen, gescheitert. Und drittens dürfen die Proteste nicht zu ernsthaftem Chaos und der Unterminierung der rechtsstaatlichen Ordnung führen. Ähnlich wie Rawls sieht auch Habermas zivilen Ungehorsam als notwendige letzte Instanz im konstitutionellen System, um im Ausnahmefall „Irrtümer im Prozess der Rechtsverwirklichung zu korrigieren oder Neuerungen in Gang zu setzen.“ 3

    Die Theorien von Rawls und Habermas erklären, wann und warum bestimmte gesetzeswidrige Protestaktionen moralisch richtig sein. Sie sind weit akzeptiert, aber nicht unkontrovers, basieren sie doch unter anderem auf Überlegungen zur Legitimität des Rechtsstaates und dessen Revisionsbedarf. Für eine philosophische Auseinandersetzung mit diesen Grundlagen ist hier leider kein Platz, und so will ich die moralischen Theorien zur Beantwortung der Titelfrage als plausibel annehmen. Immerhin erklären sie einleuchtend, wie die Pflicht, das geltende Gesetz zu achten, mit dem Recht auf Widerstand gegen Ungerechtigkeit zusammenhängt. Ganz allgemein gilt: Es bringt Klarheit in den Diskurs, wenn wir die moralischen Theorien oder Grundsätze, die unseren Urteilen über falsch und richtig zugrunde liegen, explizit darstellen, auch wenn wir diese nicht bis zum Schluss rechtfertigen können. Denn so lässt sich feststellen, ob Dissonanzen im Bereich des Moralischen bzw. Normativen (was ist wichtig, was richtig, wie soll es sein?) liegen, oder im Bereich der deskriptiven Fakten (was ist der Fall?). Hier könnten wir einerseits über die moral- bzw. rechtsphilosophischen Theorien des zivilen Ungehorsams von Rawls und Habermas streiten, andererseits über soziale oder klimatische Gegebenheiten, die empirisch nachprüfbar sind.

     

    Angenommen also die aufgeführten Kriterien für berechtigen zivilen Ungehorsam sind plausibel. Sind sie im Kontext des Klimawandels erfüllt – allem vorausgesetzt, die Proteste sind gewaltfrei?4

    Fast überall auf der Welt legitimieren die geltenden Gesetzte eine Wirtschafts- und Lebensweise, welche (durch den Ausstoß von Treibhausgasen) die Erderwärmung und damit extreme regionale Kälte- oder Hitzewellen, Dürren oder Überschwemmungen und den Anstieg des Meeresspiegels verursacht. Unter den Folgen leiden schon heute Menschen, vor allem diejenigen auf der Südhalbkugel, die am wenigsten zu der Entwicklung beigetragen haben. In Zukunft wird jedoch die weltweite Bevölkerung direkt oder indirekt betroffen sein.5 Ökonomen erkennen einstimmig an, dass bei einer CO2-intensiven Wirtschaftsweise sogenannte „Externalitäten“ entstehen: Kosten, die von unbeteiligten Dritten getragen und nicht kompensiert werden.6 Doch müssen wir vor allem die Ungerechtigkeit darin anerkennen. Denn mit den anfallenden „Kosten“ sind die schädlichen Folgen der CO2-intensiven Wirtschaftsweise gemeint. Einer Person bewusst Schaden zuzufügen, bzw. dies in Kauf zu nehmen, ist nach allgemeinem Verständnis eindeutig ungerecht (sofern nicht ein Ausnahmefall wie Selbstverteidigung vorliegt). Also legitimieren Gesetze, die das Wirtschaften mit „externen Kosten“ erlauben und fördern, auch, dass Dritten Unrecht zugefügt wird.7 Sofern sich Klimaproteste gegen eben diese Gesetze und Regierungsmaßnahmen richten, scheint Rawls’ erste Bedingung für berechtigten zivilen Ungehorsam folglich erfüllt: die Proteste zielen auf ungerechte Gesetzte ab. Es ist wichtig, dass die illegalen Protestaktionen auch tatsächlich mit eben dieser Gerechtigkeitsüberlegung begründet sind, und nicht etwa das Ziel haben, bestimmte Ideologien oder Interessen einzelner Gruppen zu verbreiten (z.B. Antikapitalismus), auch wenn die jeweiligen Forderungen im konkreten Fall übereinstimmen können. Anders als übliche Demonstrationen muss ziviler Ungehorsam an den Gerechtigkeitssinn der Allgemeinheit appellieren.8 Es muss allgemein nachvollziehbar sein, dass die AktivistInnen sich primär nicht für ihre eigenen Interessen einsetzten, sondern für die Grundrechte anderer, auch zukünftiger Generationen.

    Zweitens verlangt Rawls, dass ziviler Ungehorsam die letzte Instanz sei. Normale Versuche, das Ziel zu erreichen, müssen bereits ausreichend unternommen und gescheitert sein. Die Auswirkungen von Emissionen auf das Klima und damit auf das globale Wirtschaften und Leben sind spätestens seit der Aufnahme der UNFCCC in Rio de Janeiro 1992 und Paris 2015 weltweit von Regierungen anerkannt. Trotz zahlreicher internationaler Staatsverträge, immer mehr aktiven NGOs, wissenschaftlichen Reports und zivilen Protesten wurde von Wirtschaft und Politik nicht ausreichend unternommen, um den Trend der steigenden Emissionen umzukehren.9 Rawls’ zweite Bedingung scheint daher erfüllt. Normale Versuche, den notwendigen Klimaschutz durch entsprechende Gesetze und Maßnahmen zu sichern, sind bislang gescheitert.

    Das dritte Kriterium besagt (kurzgefasst), dass Proteste die öffentliche Sicherheit und das Funktionieren der Verfassung nicht gefährden dürfen. Es scheint, dies könne bei strikt gewaltfreien Klimaprotesten garantiert werden. Denn die Forderung nach Klimaschutz richtet sich nur gegen bestimmte klimarelevante Gesetzte. Die Legitimität des demokratischen Rechtsstaates wird nicht infrage gestellt. Selbst die häufige Forderung „System Change – not Climate Change“ scheint mit dem kompatibel, sofern nicht das Bestehen eines Rechtssystems an sich gemeint ist, sondern darauf angespielt wird, dass einige Gesetzte systemische Auswirkungen auf die Nutzung der natürlichen Ressourcen (und das Klima) haben.

     

    Es folgt, dass nach Rawls’ Kriterien einige Formen des zivilen Ungehorsams im Klima-Aktivismus gerechtfertigt sind. Ob man zu dieser Protestform greift, muss – so Rawls – jeder für sich selbst entscheiden, und dabei auch praktische Faktoren beachten, wie z.B. aktuell das Einhalten der Hygiene-und Abstandsregeln. Doch zumindest Toleranz für die Proteste ist gefragt; radikale Ablehnung bedarf der Begründung. Denn es ist nicht auszuschließen, dass auch im Rechtsstaat einige regelwidrige Proteste zum Aufrütteln notwendig sind, um im demokratischen Prozess jene neuen Normen zu formulieren und zu etablieren, die eine gerechte globale Gesellschaft im 21. Jahrhundert ermöglichen können.


    1 Lyons, David (1998) "Moral judgment, historical reality, and civil disobedience." Philosophy & public affairs 27.1: 31-49.

    2 Rawls, John (1971) A Theory of Justice. Harvard University Press.

    3 Habermas, Jürgen (1983) "Ziviler Ungehorsam-Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. Wider den autoritären Legalismus in der Bundesrepublik". in Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat. Hrsg.: Peter Glotz. Frankfurt: Suhrkamp. S.40.

    4 Ohnehin zeigen Studien der letzten Dekade, dass gewaltfreie Proteste im Schnitt doppelt so effektiv wie gewaltsame sind, um Wandel zu bewirken. (Chenoweth, Erica, Maria J. Stephan, and Maria J. Stephan. Why civil resistance works: The strategic logic of nonviolent conflict. Columbia University Press, 2011. Schock, Kurt. "The practice and study of civil resistance." Journal of Peace Research 50.3 (2013): 277-290).

    5 UN Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) Report “Global Warming of 1.5 ºC” (https://www.ipcc.ch/sr15/)

    6 Mankiw, N. G., and Mark P. T. (2018) Grundzüge der Volkswirtschaftslehre. Schäffer-Poeschel.

    7 Vgl. Broome, John. (2012) Climate Matters – Ethics in a warming world. WW Norton & Company.

    8 Hier gibt es im Kontext des Klimawandels mehrere Besonderheiten: Zum einen kann gegen die meisten Gesetzte, die Anlass der Proteste sind, nicht direkt verstoßen werden. Blockaden und ähnliche Handlungen haben im Kontext des Klimawandels daher oft symbolischen Charakter. Außerdem stellt sich die Frage, inwieweit auch Unternehmen und Institutionen gegeben ihres Einflusses auf den Klimawandel ins Visier genommen werden dürfen.

    9 Obwohl weltweit so gut wie wissenschaftlicher Konsens herrscht, dass die anthropogene Erderwärmung bereits ca. 1°C beträgt und auf 1,5°C begrenzt werden muss, um dramatische Einbrüche in Gesundheit, Ernährungssicherheit, Trinkwasserverfügung und Wohnraum zu verhindern, erreichen wir bei heutigen Kurs in 2100 prognostizierte 3-5°C (https://www.ipcc.ch/sr15/chapter/spm; https://www.un.org/en/climatechange/assets/pdf/cas_report_11_dec.pdf).