Essaywettbewerb - Der digitale Mensch

Der digitale Mensch

Kaya Milena Schallers Essay für den nationalen Essaywettbewerb 2020

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    Die Digitalisierung ist ein Segen und ein Fluch zur gleichen Zeit. Die Digitalisierung erschafft Möglichkeiten, die äusserst positiv genutzt werden können. Gerade zur jetzigen Zeit, wenn aufgrund des Corona-Virus der physische Kontakt zwischen den Menschen auf ein Minimum reduziert werden sollte, sind wir dankbar dafür. Dank den digitalen Technologien können wir von Zuhause aus arbeiten, zumindest in vielen Bereichen. Allerdings sollte man sich als Individuum nicht von diesen Möglichkeiten abhängig machen, denn so setzt man sich mehr Stress aus und dieser macht uns unglücklich. Wir müssen erreichbar sein, jederzeit. Dies ist nicht nur im Moment der Fall, auch wenn es zur Zeit verstärkt auffällt.

    Die Möglichkeit, auch an Dingen teilzuhaben, bei denen wir nicht physisch zugegen sein können, wirkt wie ein Wunder, doch wird sie sehr bald einmal schon zu einem Problem. So wird von uns oftmals erwartet, dass wir an mehr Anlässen Teil haben, als uns auf analogem Wege überhaupt möglich ist. Bald schon sind wir in einer Abhängigkeit dessen, was eigentlich eine Erleichterung hätte sein sollen. Auch hat der Zwang, ständig erreichbar zu sein, Auswirkungen auf uns. Wir stehen unter ständigem Stress, den viele von uns nicht mal mehr wahrnehmen, bis zum Zeitpunkt, wo es ihnen zu viel wird.

     

    Dies ist nicht das einzige Beispiel dafür, wie eine Möglichkeit oder auch eine Fähigkeit, die wir durch die Digitalisierung erreicht haben, negative Auswirkungen auf ein Individuum haben kann. Viele Fähigkeiten, die wir uns aneignen, eignen wir uns deshalb an, um die Anerkennung von anderen zu gewinnen. Egal ob wir sie erreichen oder nicht, werden wir nach Perfektionismus streben, um die Anerkennung, die wir wollen, zu erhalten oder sie aufrecht zu erhalten. Und selbst wenn alles perfekt scheint, wird man immer noch jemand besseren finden. Wer sich immer weiter mit anderen vergleicht, wird sich unglücklich wiederfinden. Gleichzeitig nimmt das Individuum eine Rolle in den sozialen Medien ein. Es steht für etwas, sei dies nun eine politische Aussage, eine Fähigkeit oder einfach nur für schöne Bilder oder Videos.

     

    Das “digitale Ich“ ist eine Rolle, welche mal mehr und mal weniger mit dem Individuum, welches dahintersteht, übereinstimmt. Dieses Individuum ist beeinflussbar und wird, mehr oder weniger absichtlich, von anderen geformt. Auch sollte es sich bewusst sein, dass es in einer Blase gefangen ist, in der es glaubt, der Mehrheit anzugehören und die oftmals auch durch Informationen mit anderen Meinungen gar nicht mehr erreicht wird. Dies verdankt man den Algorithmen, welche dafür sorgen, dass uns Inhalte angezeigt werden, welche unseren Interessen entsprechen.

     

    Das Individuum inszeniert sich, egal, ob es authentisch zu sein versucht, oder eine Kunstrolle dabei einnimmt. Dies kommt neben den eigenen Kriterien der Selbstdarstellung auch dadurch zustande, dass man die Erwartungen anderer zu erfüllen versucht. Dabei entsteht ein “digitales Ich“, welches zwar in fast allen Fällen Parallelen zum “analogen Ich“ aufweist, jedoch nicht komplett mit ihm übereinstimmt. Eine Diskrepanz entsteht zum Beispiel dadurch, dass man sein Privatleben nicht, oder nur in eingeschränkter Form, mit der Aussenwelt teilt. Eine weitaus grössere, wenn eine Kunstrolle eingenommen wird. Dabei stellt sich dann die Frage, ob die Kunstrolle wirklich das “digitale Ich“ ist, oder das “analoge Ich“. Ob also in der analogen Welt eine Rolle gespielt wird, oder in der digitalen. Als Beispiel kann man sich hier einen biologischen Mann denken, der lieber eine Frau sein möchte. Dieser hat in der digitalen Welt die Möglichkeit, als Frau aufzutreten womit er näher an seinem “echten Ich“ ist, als im echten Leben. Denn in der digitalen Welt können auch Dinge ausgelebt werden, für die das Individuum in der analogen keine Möglichkeit hat.

     

    Aufgrund der Kritik durch andere Menschen, sowie dem Willen, keine Schwäche zuzugeben, weitet sich der Leistungsdruck vom Arbeitsleben auch ins Privatleben aus. Obwohl dies in beiden Welten geschieht, ist dieser Effekt in der digitalen um ein Vielfaches stärker. Dies ist dadurch zu erklären, dass durch die digitalen Wege mehr Kritik fliesst und eine grössere Anzahl von Individuen die Möglichkeit haben an privaten Events teilzuhaben. Dieser Effekt wird noch verstärkt dadurch, dass künftige Arbeitgeber oftmals in den sozialen Medien nach den Bewerbern suchen, da die Seriosität der Firma durch ein unüberlegtes Bild eines Mitarbeiters in Frage gestellt werden kann.

    Freizeit und Arbeit stehen somit oftmals näher im Zusammenhang, als es gut für ein Individuum ist, denn durch die ständige Möglichkeit der Überprüfung wird die Freiheit des Individuums eingeschränkt.

    Ebenso kann, und oftmals auch will, sich ein Individuum den sozialen Medien nicht entziehen. Denn ein Grossteil des Lebens spielt sich in ihnen ab: Wir informieren uns im Internet, nicht selten in Foren, wir diskutieren miteinander, teilen Bilder von unseren Ferien und verbringen viel unserer Freizeit damit, sie in irgendeiner Weise zu nutzen.

     

    Bei vielen Persönlichkeiten der digitalen Welt kann man ähnliche Verhaltensweisen wie bei Persönlichkeiten der analogen Welt beobachten. Auch wenn sich diese Grenze nach und nach auflöst. Viele, die zu viel Aufmerksamkeit bekommen, halten sich für unantastbar, so als hätten sie einen Sonderstatus, der alle Misstritte ungültig macht. Sie übernehmen sich und scheinen teilweise zu glauben, dass jeder sie kennt und sich die Welt nur noch in ihre Fans und Hater aufteilt. Dieses verzerrte Weltbild ist weder gesund noch berechtigt. Diese Blasen kann man auch in geringerem Mass finden. Effektiv kann man sich ihnen nicht entziehen, nicht nur in der digitalen, sondern auch in der analogen Welt. Sobald kommuniziert wird, werden sich Gruppen von Gleichgesinnten finden, welche sich bald mal für die überwiegende Mehrheit halten, oder sich einfach nur für eine grössere Gruppe halten, als sie effektiv sind. Auch wenn man diese Blasen in beiden Welten findet, verstärkt die digitale Welt diese Überschätzung noch. Neu findet man Gleichgesinnte nämlich nicht nur im eigenen Wohnort, sondern über das ganze Land, oder sogar über die ganze Welt verteilt.

    Die Tatsache, dass Meinungen öffentlich in grossem Masse ausgetauscht werden und jeder Leute findet, die ihn in seiner Meinung bestärken, könnte durchaus der Grund sein, wieso man in vielen Ländern eine Tendenz zur Radikalisierung findet. Das Problem hierbei ist jedoch nicht der Meinungsaustausch an sich, sondern vielmehr wie diese Meinungen oftmals vertreten wird. So werden viele, die eine begründete Meinung veröffentlichen, als “linksversiffte“, “Nazis“ oder ähnliches beschimpft, obwohl sie nicht zu diesen Gruppen gehören. Je extremer ein Individuum, welches unsicher ist oder sich im Allgemeinen nicht integriert fühlt, beschimpft wird, je mehr sucht es Bestätigung. Wenn es diese dann von Leuten aus den extremen Lagern bekommt, wird es sich auch immer weiter in diese Richtung entwickeln, bis es dann schlussendlich zu den extremen Gruppen gehört, als welche es anfangs beschimpft wurde. Auch über Musik und Onlinespiele rekrutieren solche Gruppen neue Individuen, welche dann immer weiter in die radikale Szene gezogen werden (Einstieg Rechts, EX – Rechte Rotlicht Rocker – Philip Schlaffer (YouTube)).

     

    Oft wird Perfektion vom Individuum erwartet. Es wird erwartet, dass es sich in der digitalen Öffentlichkeit immer korrekt verhält; wenn es das nicht tut, können soziale Sanktionen oder auch Folgen für die Berufswelt drohen. Wenn ein Individuum seinen ganzen Tag online stellt, kann sogar etwas wie eine Totalüberwachung entstehen. Es ist also wichtig, einen bewussten Umgang mit der digitalen Welt zu haben und sich auch bewusst zu sein, dass auch sie kein rechtsfreier Raum ist. So, dass der Umgang miteinander respektvoll bleibt und man sich nicht zu sehr dem Druck anderer digitalen Individuen hingibt.

     

    Bei allen Tätigkeiten in der digitalen Welt hinterlassen wir, oftmals unbewusst, Spuren.

    Diese Spuren mögen für viele auch unsichtbar sein, jedoch nicht für alle. Nicht selten hört man davon, dass über Anbieter XY persönliche Daten an Dritte weitergegeben wurden. Bei diesen Daten kann es auch um grössere Themen gehen, als bloss darum, individualisierte Werbung anzuzeigen. So konnten auch die Wahlen von Donald Trump durch solche privaten Daten beeinflusst, wenn nicht sogar nur deshalb gewonnen werden (Fake America Great Again, Thomas Huchon, ausgestrahlt auf Arte, 12.11.2019, 21:10). Somit wird das Individuum immer mehr objektiviert und als Datensatz angeboten.

    Zusammenfassend lässt sich sagen, dass durch die Digitalisierung das Individuum immer mehr objektiviert wird, wobei es sehr oft bloss als Datensatz gesehen wird, mit dem man Macht oder auch Geld generieren kann.

     

    Kritisch sollte man es auch sehen, Sicherheit durch Überwachung erreichen zu wollen. Denn dies funktioniert zwar vom Prinzip her, doch wird sie sich vermutlich zu weit ausbreiten.

    Angenommen, eine Stadt hat eine sehr hohe Verbrechensrate. Nun beginnt die Stadt mit Überwachungskameras die kriminellsten Orte zu überwachen. Die, die Unrechtes tun, werden jedoch nicht einfach aufhören. Sie werden sich an anderen, unüberwachten Orten neu sammeln. Die Stadt wird sich gezwungen sehen, erneut zu handeln. Was sie tut, indem wiederum Kameras an den neu zu kriminell gewordenen Orten installiert werden. Wenn wir diese Überlegung bis zum Ende weiterziehen, dann kommen wir darauf, dass sogar private Räumlichkeiten überwacht werden müssten.

    Kurz gesagt, es wird die Kriminellen zwar vertreiben, oder zumindest die meisten, aber es würde dazu führen, dass wir jederzeit überwacht und beobachtet werden. Selbst wenn die Kriminellen dieses System nicht unterwandern und das System nicht von sich aus korrupt werden sollte, würde mir wohl ein Grossteil der Menschheit zustimmen, wenn ich sage, dass ich nicht Tag und Nacht überall beobachtet werden will.

     

    Beim oben genannten Beispiel kann man jetzt leicht sagen, dass es niemals soweit kommen würde. Dass sich die Bevölkerung dagegen wehren würde, was vermutlich auch stimmt. Doch wie sieht es denn dann mit der digitalen Welt aus?

    Können wir in dieser nicht auch beobachtet werden? Natürlich können wir das, wenn schon eine Plattform wie Facebook über manche Menschen mehr weiss, als ihre Verwandten und Bekannten. Und wir können nicht behaupten, dass wir uns als Gesellschaft dagegen wehren. Gute Beispiele hierfür sind die Facebook Skandale, schon nur, dass es mehr als einen gibt und dennoch viele Leute diese Plattform nutzen. Aber auch, dass gerade Facebook eine entscheidende Rolle bei der oben erwähnten Beeinflussung der Wahl von Donald Trump gespielt hat. Ja, es hat eine öffentliche Welle der Empörung gegeben und ja, viele Nutzer haben Facebook gelöscht. Dennoch gibt es nach wie vor sehr viele Nutzer. Andererseits ist es fraglich, ob andere Plattformen vertrauenswürdiger sind. Hinzu kommt, dass heute sehr viele Menschen, mich selbst eingeschlossen, Whatsapp nutzen. Whatsapp gehört mittlerweile ebenfalls Facebook, was die Sicherheit dieser App zweifelhaft macht. Aber oftmals hat man keine andere Wahl als diese zu nutzen, wenn man sich sozial nicht ausschliessen will.

     

    Ich würde gerne daran glauben, dass künftige Technologien die Welt verbessern, und zum Teil mag das auch so kommen. Doch warnt uns die Erfahrung davor, das so zu glauben, da diese zeigt, dass es in der Vergangenheit doch eher anders gelaufen ist. Viele Technologien, die durchaus Leuten helfen können, werden zur gleichen Zeit auch für das Gegenteil verwendet. Ein Beispiel hierfür ist der Verlauf der Atomforschung, die neben Atomkraftwerken auch zu den Atombomben geführt hat. Dies zeigt auch schön, dass der Mensch Technologien verwendet, bevor er deren Ausmass versteht. Und noch viel öfter dafür, Geld oder Macht zu generieren, wobei selten auf die Kollateralschäden geachtet wird, die manchmal auch aus den Leben anderer Menschen bestehen. Aus Technologien, die eigentlich allen zugänglich sein sollten, wird Geld gewonnen. Projekte, die für alle wichtig wären, werden liegen gelassen, weil sie zu wenig abwerfen.

    Bei allem gilt der Grundsatz, dass es nicht die Möglichkeiten, wie die digitalen Medien, sind, die gut oder schlecht sind, sondern der Mensch, der sie dazu macht.