Aus Anlass des Essaywettbewerbs 2020 von philosophie.ch werde ich in essayistischer Form versuchen, im nachfolgenden Text die Frage "Wie stellt die Digitalisierung die traditionelle Vorstellung vom Individuum in Frage? Und welche Szenarien können wir uns für Einzelpersonen und Gemeinschaften in der nahen Zukunft vorstellen?" schrittweise zu beantworten.
Mit der Frage geht eine Grundannahme über das Vorhandensein von einem Individuum, respektive von einer Vielzahl von Individuen in einer Gemeinschaft einher. Diese wird als wahr angenommen, da es um diese zu klären mehr als die zugelassene Seitenanzahl bedürfte. Aus diesem Sein der Individuen, werde ich des weiteren annehmen, dass mit dem Sein auch gewisse, nicht näher erörterte Merkmale des Seins einhergehen, welche man gemeinhin als Eigenschaften von Individuen betrachtet, im folgenden Text jedoch als individuelle Daten bezeichnet werden. Eine genauere Begriffsuntersuchung folgt später im Text.
Ob alle diese Seinsmerkmale, also alle diese Daten zusammengenommen vollständig das Sein des Individuums abbilden, wird im folgenden Text nicht untersucht. Es wird jedoch angenommen, dass das Sein des Individuums durch diese Gesamtmenge aller Seinsmerkmale sehr nahe approximiert werden kann.
Aus diesen Grundannahmen folgt, dass die erwähnten Daten, welche das Sein von Individuen abbilden, also grundsätzlich vorhanden sind. Damit beliebige Entitäten, im Folgenden der Fokus auf Individuen, über diese Daten Aussagen treffen können, müssen diese erfasst werden können. Im weiteren Verlauf des Textes wird, wenn von Daten gesprochen wird, stets von erfassbaren Daten ausgegangen, jedoch soll dabei die Möglichkeit von nicht-erfassbaren Daten nicht ausgeschlossen werden.
Das Erfassen von Daten über ein Individuum geschieht immer durch ein erfassendes Individuum.
Daraus folgt die Unterscheidung in Subjektive Daten als die vom Individuum erfassten Daten und Objektiven Daten als die über das Individuum erfassten Daten, bei welchen das Individuum das erfasste Objekt ist. Dieses Erfassen bildet den ersten, also den Primärzugang zu diesen Daten. Man könnte diesen auch als ersten Blick darauf verstehen. Der Zugang zu den Daten ist deshalb zwingend als erstes bei dem erfassenden Individuum. Ebenso das Wissen darüber, dass Daten erfasst wurden, befindet sich als erstes beim erfassenden Individuum. Jeder weitere Zugang ist ein Sekundärzugang, der von einem Individuum mit Zugang (Primär oder Sekundär) durch Teilen dieses Zugangs, erstellt wird. Auf das Erstellen von Sekundärzugängen kann auch verzichtet werden.
Das Selbst des Individuums wird durch die Gesamtmenge dieser objektiven und subjektiven Daten mit Bezug zu diesem Individuum wie erwähnt stark angenähert. Also aus der Menge aller Daten, die von diesem Individuum selbst erfasst wurden (subjektive Daten) und diejenigen die über dieses Individuum erfasst wurden, das Individuum also zum Inhalt haben (objektive Daten). Je grösser dabei die Menge dieser erfassten Daten ist, desto näher ist das Selbst des Individuums durch diese approximiert. Dabei gibt es natürlich auch eine Schnittmenge dieser objektiven und subjektiven Daten, also diejenigen Daten die vom Individuum selbst erfasst wurden und sich gleichzeitig auch zum Objekt haben. Diese Daten könnte man reflexive Daten nennen. Diese reflexiven sowie die subjektiven Daten spielen im weiteren Verlauf des Textes nur eine untergeordnete Rolle. Wichtig sind unter anderem die rein objektiven Daten der Individuen. Zu den rein objektiven, also nicht reflexiven Daten seines Selbstes, hat das Individuum keinen Primärzugang, da es nicht Erfasser dieser Daten ist. Zu diesen objektiven Daten des Individuums wird folglich ein Sekundärzugang benötigt. Da das Individuum als Objekt jedoch nicht immer weiss, dass es Objekt ist, kann es keine vollständige Übersicht über das Vorhandensein objektiver Daten haben. Ein Sekundärzugang wird jedoch nicht wie ein Primärzugang automatisch, sondern kann nur durch aktives Teilen eines Primärzugangs erstellt werden. So besteht mindestens zu denjenigen Daten, zu denen kein Wissen über ihr Vorhandensein besteht, auch kein Zugang. Ein Sekundärzugang zu allen objektiven Daten des Individuums kann folglich nicht gewährleistet werden. Das Individuum kann folglich keinen vollständigen Zugang zu den Daten seiner Selbst haben. Grundsätzlich ist dies nur eine natürliche Folgerung der Subjektbeschränktheit eines jeden Individuums. Bedeutsam wird diese Folgerung später in Bezug zur Digitalisierung.
Diese oben erwähnten Gedanken werden nun in einen konkreten, historischen Kontext gesetzt. Das Erfassen von Daten durch und über Individuen geschieht vermutlich seit es Individuen zu erfassen gibt und Individuen erfassen können. So stellen beispielsweise die alten Ägypter ein antikes Volk von erfassenden und erfassten Individuen dar: Mithilfe der Hieroglyphenschrift wurden beispielsweise Daten über Herrscherindividuen erfasst und damit festgehalten. Mit Blick auf beliebige geschichtliche Kontexte, lässt sich folgende Behauptung aufstellen: Jede Gesellschaft von Individuen, welche erfassen kann, tut dies auch, sofern sie beliebig simple oder komplexe Möglichkeiten dazu besitzt.
Im Laufe der Menschheitsgeschichte entstanden durch neue Entwicklungen der Technologie, neue stets komplexere Möglichkeiten des Erfassens. So insbesondere während der Zeit des technischen Fortschritts während und nach der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts. Damals neuartige Erfindungen wie die Fotografie oder die Röntgenstrahlung ermöglichen dieser Zeit neue Formen des Erfassens. Diese Entwicklung von neuartigen Möglichkeiten Daten über Individuen zu erfassen, ging rasant voran und tut dies auch heute noch. Insbesondere seit der Entwicklung der ersten Formen von Computern startete ein neues Zeitalter, das Informationszeitalter, welches eine vergleichsweise riesige Bandbreite an Möglichkeiten der Datenerfassung kennt.
Als Teil der technischen Entwicklung setzt (historisch) nun während diesem Fortschreiten des Informationszeitalters die Digitalisierung ein. Was kann man darunter verstehen?
Im Wesentlichen folgen mit der Digitalisierung zwei Neuerungen in Bezug auf Daten und deren Erfassung, welche hier relevant sind. Die erste dieser Neuerungen, ist die Möglichkeit von neuen Arten des Erfassens und damit auch des Festhaltens von Daten. Namentlich das digitale Erfassen von individuellen Daten und der damit entstehende digitale Primärzugang. Ein Beispiel ist an dieser Stelle eine digitale Fotografie, welche als Datei abgespeichert wird. Der Zugang zu dieser Datei bildet den Primärzugang.
Im Gegensatz zur ersten Neuerung, welche es im Verlauf der Geschichte immer wieder gab (siehe oben), ist die zweite Neuerung eine noch nie zuvor dagewesene. Gemeint ist das Internet, welches etymologisch ein ‘Internationales Netz’ bedeutet und dadurch bereits auf die eigentliche Neuerung hinweist. Das Internet ermöglicht ein historisch beispielloses Verknüpfen und Vernetzen vorhandener Daten mit völliger Unabhängigkeit von physischen Standorten.
Was folgt aus diesen Neuerungen für das Individuum? Durch die Digitalisierung bestehen mehr Möglichkeiten der Datenerfassung und unter der historisch bestätigten Behauptung, dass jede Gesellschaft von Individuen, welche die Möglichkeiten des Erfassens besitzt, dies auch tut (siehe oben), folgt auch für die heutige Gesellschaft, dass Individuen im Allgemeinen mehr Daten erfassen (subjektive Daten) und auch mehr Individuen in Daten erfasst werden (objektive Daten). Durch diese Menge an individuellen Daten, sind die Selbste der Individuen, näher approximiert, als sie es je zuvor waren.
Diese Daten sind durch die Möglichkeiten des Internets zu einem grossen Anteil miteinander, also mit weiteren Daten, verknüpft. Insbesondere dabei diejenigen Daten über Individuen, welche über im Internet eingebettete Technologien erfasst werden. So wie beispielsweise Dienste und Produkte von Firmen wie Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft, welche im Folgenden gemeinsam als ‘GAFAM’ bezeichnet werden.
Dabei ist zu bemerken, dass bei solchen (im Internationalen Netzwerk ‘Internet’ eingebetteten) Technologien, welche durch private Firmen angeboten werden, der Primärzugang den individuellen Daten und damit auch das Wissen über den Akt des Erfassens, stets beim Anbieter des Technologieprodukts liegen kann und nicht zwingenderweise wie man annehmen könnte, beim anwendenden Individuum, welches die Daten mithilfe des Technologieproduktes erfasst. Wenn dies der Fall ist, bedeutet dies, dass wenn individuelle Daten durch diese Produkte erfasst werden, das Individuum lediglich einen Sekundärzugang zu denjenigen Daten erhält, welche es scheinbar ‘selbst’ erfasst. Zu denjenigen Daten, welche vom Produkt oder der Dienstleistung ohne das Wissen des Anwenders erfasst werden, hat das Individuum keinen Zugang.
In mehreren Datenschutzskandalen der Vergangenheit hat sich diese Annahme bereits gezeigt. Grosse Anbieter von digitalen Internetprodukten haben den primären Zugang zu individuellen Daten, die von ihren Produkten erfasst wurden und damit auch die Möglichkeit Sekundärzugänge und damit Wissen über den Akt des Erfassens zu schaffen oder dies auch zu unterlassen. Diese Entscheidungsfreiheit setzt Individuen gegenüber den Anbietern in ein Abhängigkeitsverhältnis, da diese Freiheit nicht bei den Individuen selbst, sondern bei den Anbietern liegt. Die Anbieter sind frei, diese in ihrem eigenen Interesse zu nutzen, so beispielsweise zur Kapitalsteigerung durch Datenverkauf (und damit Verkauf von Anteilen an digitalen Selbsten).
Dies ist oft auch das eigentliche Technologieprodukt, welches das Individuum von den Anbietern dieser Produkte/Dienste bezieht: Der Sekundärzugang zunächst zu den eigens erfassten individuellen Daten (welcher Teil des eigenen digitalen Selbst ist), danach zu denjenigen, die von anderen Individuen erfasst wurden und deren Sekundärzugang mit ersterwähntem Individuum geteilt wurde.
Durch das enorme Wachstum von solchen Anbietern wie GAFAM, deren gemeinsamer Marktwert das Bruttoinlandprodukt einiger Industriestaaten übersteigt, steigt deren Menge an Primärzugängen sehr stark an, da der grössere Teil der menschlichen Individuen in irgend einem beliebigen Zusammenhang mit mindestens einem Produkt oder einer Dienstleistung einer dieser Konzerne zu tun hat, und damit auch Daten über diese Individuen bestehen.
Als Folge dieser immensen Bedeutung auf dem Gebiet der digitalen Datenerfassung, rücken Individuen, welche Produkte oder Dienstleistungen solcher oder auch anderer Grosskonzerne verwenden immer stärker in dieses Abhängigkeitsverhältnis.
Dies suggeriert ein zukünftiges Szenario, der steigenden Abhängigkeit gegenüber privaten Grosskonzernen. Der Primärzugang zu individuellen Daten und dem damit verbundenen Wissen über Seinsmerkmale von Individuen, sowie die Entscheidung über die Freigabe von Sekundärzugängen liegen immer weniger beim Individuum selbst und immer mehr bei den Anbietern der digitalen Internetprodukte. Dies hat zur Folge, dass die Freiheit von Einzelpersonen darüber zu entscheiden, wer Zugang zu welchen individuellen Daten ihrer Selbst hat, sinkt, respektive immer mehr an private Firmen abgetreten wird. Denkt man diese Entwicklung dystopisch weiter, so kann man sagen, dass die Seinsmerkmale von Individuen, also Daten, mehr und mehr zu einem gehandelten Produkt von gewinnorientierten Konzernen wird.
Nun lässt sich auch ein hoffnungsvolleres Alternativszenario entwickeln. Denn neben privaten Anbietern von digitalen Internetprodukten, gibt es auch sogenannte OpenSource-Produkte, welche derzeit noch eine klare Minderheit darstellen. Bei diesen sind es nicht private, gewinnorientierte Firmen als Anbieter, sondern grundsätzlich jedes Individuum mit Interesse. Die Entwicklung und Ausgestaltung der Digitalprodukte und insbesondere der Datenzugänge, ist jedem Individuum zur Mitarbeit offen. So liesse sich beispielsweise eine Bandbreite von digitalen Datenerfassungsmöglichkeiten entwickeln, bei welchen klar (da öffentlich einsichtig) ist, wo die Primärzugänge liegen, respektive wird dadurch transparent möglich die Primärzugänge und die Entscheidung über Sekundärzugänge zu Daten vollständig bei den (mit diesen Produkten/Diensten) erfassenden wie erfassten Individuen zu belassen. Auch eine Bereitstellung von Sekundärzugängen von Daten an eine breite Öffentlichkeit liesse sich grundsätzlich so realisieren, um so beispielsweise den medizinischen Fortschritt in Zusammenhang mit digitalen Technologien zu fördern.
Um die ursprüngliche Frage zusammenfassend zu beantworten: Die Digitalisierung, insbesondere das digitale Erfassen von individuellen Daten, ermöglicht der Gesamtgesellschaft starken Einfluss auf die Individuelle Datenfreiheit auszuüben. Obwohl die Tendenz der letzten Jahre eine zunehmende Einschränkung dieser suggeriert, geben Möglichkeiten wie OpenSource der Gesamtgesellschaft die Chance, die individuelle Entscheidungsfreiheit über ihre Daten und damit ihre digitalen Selbste wesentlich zu stärken.