Vorwort
Das ist ein Buch für Menschen. Menschen, denen die Natur etwas bedeutet und die ihr Glück nicht nur drinnen und unter ihresgleichen suchen, sondern auch draußen, unter freiem Himmel. Ob nur hin und wieder, vielleicht im Sommer in den großen Ferien, bei einer schweren Erkrankung oder sonst einem Kummer, oder immer wieder, jeden lieben Tag.
Die Zahl dieser Menschen ist zuletzt stark gestiegen. Die Corona-Pandemie hat eine ganze Welle von Neu- und Wiederentdeckungen der Natur ausgelöst. Die Rede ist dabei nicht nur von Sport und Erholung in frischer Luft, einem schonenderen Umgang mit dem Klima oder einer nachhaltigeren Nutzung endlicher natürlicher Ressourcen. Die Rede ist auch von Freude und Seligkeit in der Natur, vom Staunen über das, was es dort alles gibt, was einfach so da ist. Von der Geborgenheit und dem Trost, den wir in der Natur finden können.
Der Niedergang der Religion hat dieser Erfahrung der Schönheit und Sinnhaftigkeit der Natur den Boden unter den Füßen weggezogen – oder so hat es zumindest den Anschein. Viele der Menschen, denen die Natur heute etwas bedeutet, glauben ja nicht unbedingt, es gäbe da einen, den lieben Gott, der ihnen mithilfe der Natur etwas zu bedeuten hätte oder sagen wollte. Trotzdem spüren sie, dass da etwas ist und dass es ihnen gut tut, in und mit der Natur zu sein. Was ist da und warum tut es gut?
Die Wissenschaft und das heißt vor allem die philosophische Ethik und insbesondere Ästhetik der Natur gibt kaum eine Antwort auf diese Fragen. Das Feld der Naturästhetik wird seit Jahrzehnten nicht mehr recht bestellt. Es ist nahezu verwaist. Die Menschen werden weitgehend allein gelassen mit ihrer Resonanzerfahrung und der Angst, dass die Natur um sie herum bald ganz verschwindet.
Eine andere Methode für die Naturethik
Das ist in diesem Buch anders. Es will die Naturerfahrung der Menschen ernst nehmen und in ihr Recht setzen. Im Unterschied zu den meisten wissenschaftlichen Publikationen wendet es sich auch nicht an die Kolleginnen und Kollegen aus der eigenen akademischen Zunft, jedenfalls nicht in erster Linie. Es tritt vielmehr heraus aus dem Elfenbeinturm und will den Menschen, die die Erfahrung der Schönheit der Natur trotz allem machen, etwas an die Hand geben. Es will Brücken bauen von der Lebenswelt in die Wissenschaft und wieder zurück. Es will die Wichtigkeit der naturästhetischen Erfahrung für das Glück eines jeden menschlichen Lebens rechtfertigen. In anderen Worten will es ein Menschenrecht auf Natur begründen. Denn die naturästhetische Erfahrung ist keine rein subjektive Angelegenheit. Sie gehört auch nicht in das Luxussegment der Angebote an Selbstverwirklichung. Unerträglich die Vorstellung, dass wir auf eine Welt zutreiben, in der nur noch einige Reiche und Mächtige Zugang zu den letzten Resten an intakter Natur haben. Und die vielen Anderen ihr Leben in hochtechnisierten Beton- und Agrarwüsten fristen müssen. Was das Buch somit anbietet, ist eine Ethik der Natur, in deren Zentrum eine Ästhetik der Natur steht, und zwar für alle.
Wie aber kommt man an diese menschliche Naturerfahrung heran? Wie «er-innert» man sie, sodass sie nicht nur eindeutig identifiziert ist, sondern auch lebendig spürbar wird in ihrem vollen Wert? Mit empirischer Messung, Begriffsdefinition und logischer Argumentation, der üblichen wissenschaftlichen Methodik also, ist es da nicht getan. Versuchen Sie nur einmal zu definieren, wie die Farbe Grün aussieht, wie sie sich anfühlt. Das wird Ihnen nicht gelingen. Und die Natur ist natürlich nicht einfach nur grün. Zusätzlich zu wissenschaftlicher Präzision braucht es die prägnante Vergegenwärtigung, die plastische Vorführung dessen, was auf dem Spiel steht. Dann kann es sich in seiner Selbstevidenz zeigen und ohne dass man dazu extra den moralischen Zeigefinger erheben müsste.
Unser wissenschaftliches Zeitalter überschätzt das explizite «Sagen dass» und unterschätzt das direkte Zeigen. Es überschätzt den Diskurs und unterschätzt die Evokation. Es überschätzt den Verstand und unterschätzt das Gefühl. Das Herz hat nämlich seine Gründe, von denen der Verstand nichts weiß. Zwar ist in Zeiten von Fake News, Verschwörungstheorien und zunehmender Respektlosigkeit gegenüber den Traditionen und Institutionen des Wissens unbedingt die Vernunft hochzuhalten. Doch Vernunft und wissenschaftliche Rationalität sind zwei Paar Stiefel. Die Vernunft sieht das Ganze. Sie schaut auf alle Facetten eines Problems und bemüht dabei neben dem Verstand auch das Gefühl. Der Spagat zwischen gefühlter Prägnanz und rationaler Präzision ist nicht leicht. Doch man muss auch an das Herz herankommen, wenn sich in unserem Umgang mit der Natur etwas grundlegend ändern soll.
Prägnante Evokation aber ist die Stärke der Literatur. Daher setzt dieses Buch auch auf Literatur und nicht nur auf wissenschaftliche Philosophie. Es arbeitet mit dichterischen Passagen von großer Leuchtkraft. Diese Passagen sollen einerseits eigene Naturerfahrungen wieder aufrufen und bekräftigen. Andererseits sollen sie sie zusätzlich anleiten, verfeinern und vertiefen. Und sie sollen zum Weiterdenken und zum Andersleben anregen.
Alle Passagen stammen von einem einzigen zeitgenössischen Dichter, aus einem einzigen Werk. Dadurch entsteht eine hohe Verweisdichte unter den Passagen, welche wiederum ihre Leuchtkraft steigert. Eine solche Intensität erreicht man kaum, wenn man zwischen Zitaten aus verschiedenen Epochen, von verschiedenen Autorinnen und Autoren und deren Werken hin- und herspringt. Es hat Jahre gedauert, bis wir «unseren» Autor, sein Werk und die passenden Zitate gefunden haben. Wir sind auch die Ersten, welche das Werk dieses Dichters mit Blick auf die Natur lesen.
Jedes Kapitel unseres Buches beginnt also mit einer solchen Passage. Oft wird dabei nicht schlicht eine Textstelle zitiert, sondern das Zitat wird mit Bild und Ton angereichert. Es hat Gemälde und Fotografien, es hat Audiolinks und Transkriptionen. Alsdann wird die eindringliche dichterische Stimme in einem «close reading» mit verschiedenen eher auf begriffliche Unterscheidung, argumentative Ordnung und Verbindlichkeit bedachten philosophischen Stimmen ins Gespräch gebracht. Teilweise stammen diese Stimmen von uns, dem Autorenteam, teilweise handelt es sich um Glanzstücke aus diversen Bereichen der philosophischen Forschung, nicht nur aus der Moralphilosophie und der Ästhetik, sondern auch aus der philosophischen Anthropologie, der Emotionstheorie, der Erkenntnistheorie, der Religionsphilosophie, der verstehenden Soziologie oder der politischen Ökonomie. Denn genauso wenig wie den Elfenbeinturm können wir uns Fachidiotentum leisten.
Unser wissenschaftliches Zeitalter überschätzt fachliche Spezialisierung, das Immer-weiter-Vorpreschen im Kleinen, und unterschätzt Ganzheitlichkeit, das Zusammenfügen des Einzelnen zu einem großen Ganzen. Auch die Integration von Wissen ist anspruchsvoll, soll sie auf dem neuesten Stand sein, nicht unzulässig simplifizieren und das Gewichtigere vom nicht so Gewichtigen scheiden. Expertentum mag zwar förderlicher sein für die wissenschaftliche Karriere als Umsicht. Doch letztere ist unabkömmlich, will man der Sache in ihrer Gesamtheit dienen.
Zu hoch im Kurs heutzutage steht außerdem der wissenschaftliche Hang zu vorschneller Abstraktion, die Theorieversessenheit, denn sie geht mit einem Mangel an Bodenhaftung und Respekt vor der konkreten Vielfalt der Welt einher. Es bringt bei unserem Thema nicht viel, in die Höhen der ethischen und ästhetischen Theorie abzuheben, eine soundsovielte Meinung im endlosen Streit der Theorien zu vertreten und sie dann, sozusagen im Nachgang des eigentlichen philosophischen Geschäfts, auf die Praxis anzuwenden. Wir gehen in diesem Buch daher genau den umgekehrten Weg: von unten nach oben, «bottom up», und nicht von oben nach unten, «top down». Wir fangen mit der konkreten menschlichen Naturerfahrung und ihrer literarischen Evokation an, und bewegen uns dann mithilfe philosophischer Unterscheidungen und Begründungen auf einer mittleren Ebene zwischen spezifischer Erfahrung und theoretischer Reflexion. Das sind philosophische Unterscheidungen wie die zwischen Verstand und Vernunft, Präzision und Prägnanz, Empathie und Mitgefühl oder Grundbedürfnis und Interesse. Und es sind philosophische Argumentationen wie die für ein Verständnis von Gerechtigkeit, in dessen Kern nicht die gleiche Berücksichtigung der Interessen aller steht, sondern die Garantie der Möglichkeit zur Erfüllung von Grundbedürfnissen. Die immense Komplexität, die sich bereits auf dieser mittleren Ebene auftut, straft ohnehin das Ansinnen Lügen, man könne all dem mit einer einzigen Theorie «Herr» werden. In den Höhen der Theorie ist die Luft zu dünn, ist die Sprache zu blass, ist der Abstand zum gelebten Leben zu groß, als dass man damit praktisch viel anfangen könnte.
Unser Buch setzt sich damit in seinem Vorgehen zwischen viele Stühle: zwischen die Lebenswelt und die Wissenschaft, zwischen die Philosophie und die Literatur und auch noch die Literaturwissenschaft sowie zwischen die Vielzahl an internen Fachrichtungen und Theorien. Auch dass das Buch von einem Autorenkollektiv geschrieben wurde, ist ungewöhnlich. Trotz all dem oder gerade dadurch bietet es eine klare Orientierung für das praktische Leben.
Und ein anderer Inhalt
Unkonventionell ist jedoch nicht nur die Methode, sondern auch, wie eingangs schon betont, der Inhalt des Buches. Es legt den Fokus auf die Schönheit der Natur und damit auf etwas, das zwar viele von uns privat empfinden und wertschätzen, das jedoch in der politischen Arena eher belächelt wird, wenn es nicht regelrecht schlechtgemacht wird. Landschaft hat bisher keine Lobby. Es braucht Mut, um im politischen Kampf mit den harten Fakten und Zahlen der Klima- und Wohlstandsentwicklung das immaterielle Bedürfnis nach schöner Natur überhaupt zu erwähnen. Den Mut dazu wollen wir machen und das Rüstzeug dafür liefern.
Auch in der Naturethik, der Lehre vom moralischen Umgang mit der Natur, spielt die Schönheit der Natur kaum eine Rolle, obwohl es zumindest in der geschützten akademischen Welt nicht allzu viel Mut bräuchte, um sie mitzudenken und einzubringen. Die Naturethik ist vielfach erstarrt in einem krassen Gegensatz zwischen Anthropozentrik und Ökozentrik. Die Anthropozentrik verteidigt dabei das moralische Recht des Menschen, die Natur nach Belieben zum eigenen Vorteil zu benutzen, solange dies nur einigermaßen nachhaltig geschieht und nicht zu sehr auf Kosten von Menschen in der Zukunft und in anderen Regionen der Welt.
Der ökozentrischen Opposition gilt die Anthropozentrik als Inbegriff des Bösen, als Sündenfall des Menschen, als Entwürdigung der Natur. Denn warum sollte nur der Mensch eine Würde, einen moralischen Eigenwert haben, und nicht auch GAIA, die Natur, die doch so viel älter und größer ist als wir und alles am besten weiß und der wir nur zu folgen hätten? Der Natur kommt in dieser ökozentrischen Sichtweise fast etwas Göttliches zu. Die anthropozentrische Gegenposition hält die steilen ökozentrischen Behauptungen denn auch für nicht allgemein begründbar und wittert Esoterik, Dogmatik, Fanatismus bis hin zu Ökofaschismus.
Die Kluft zwischen den beiden Seiten ist also denkbar groß. Das kann bei dem rasenden Tempo der Naturzerstörung zu einer gefährlichen Spaltung der Gesellschaft in Jung gegen Alt, Arm gegen Reich, Ökologisch-Erleuchtet gegen Hoffnungslos-Humanchauvinistisch führen. Die Wut der «Fridays for Future»-Bewegung, die sich freilich teilweise auch noch innerhalb des anthropozentrischen Weltbildes verstehen lässt, mag da nur ein leiser Vorgeschmack sein. Der Riss muss geheilt werden, bevor er zu tief wird.
Er lässt sich auch heilen. Und zwar indem man den Blick auf das richtet, was zwischen den Extremen der anthropozentrischen Degradierung der Natur zu einer bloßen Ressource und der ökozentrischen Vergöttlichung oder zumindest Personifikation der Natur liegt. Dazwischen liegt, ja, genau, der ästhetische Umgang mit der Natur. In diesem Umgang erscheint die Natur nicht als Ressource, die man abgreift, sondern als Gegenüber, das einem zu fühlen und zu denken gibt und dem man selbst auch etwas schuldet. Naturästhetische Resonanz erfordert ein Leben im Einklang mit der Natur. Das ist nicht bloß ein edles Gefühl, eine hehre Idee, sondern verlangt, ganz praktisch, dass man anders lebt: anders wohnt, anders arbeitet, sich anders ernährt und sich anders fortbewegt.
Damit sind wir bei dem literarischen Werk, das wir für unser Buch ausgesucht haben. Es ist der Roman Vorabend von 2011 des Frankfurter Schriftstellers Peter Kurzeck. Dieser Roman feiert die ästhetische Resonanz des Menschen mit der Natur. Er macht aber auch die existenzielle Heimatlosigkeit schmerzlich spürbar, die uns mit dem Verlust der Natur droht. Wir befinden uns wahrlich am «Vorabend», am Abend vor einer ästhetischen Rettung der Natur oder vor ihrem und unserem seelischen Niedergang. Wer Peter Kurzeck liest, erlebt ein Wechselbad der Gefühle von Himmelhoch-Jauchzend bis Zu-Tode-Betrübt. Er oder sie «be-greift», dass «die Bäume in den Himmel zeigen» und «wir die Erde nicht hätten aufgeben sollen».
Eine widersprüchliche Erfahrung und die Einsicht, zu der sie führt
Wer Peter Kurzeck liest, macht aber auch noch eine andere, sonderbare Erfahrung. Er macht die Erfahrung, dass Tiere und Pflanzen, Flüsse und Berge, die Sonne und der Mond sprechen können und uns etwas zu verstehen geben, obwohl er weiß, dass weder Tiere noch Pflanzen noch der Rest der Natur wirklich sprechen können, so wie wir Menschen sprechen können. Diese widersprüchliche Erfahrung kann man zwar auch mit anderen literarischen Texten machen, vor allem mit Texten aus der Epoche der Romantik, etwa bei Eichendorff, für den die Welt «hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort.» Kurzeck ist in der Tat ein Romantiker, jedoch ein moderner Romantiker, der uns Heutige unmittelbar zu erreichen und zu berühren vermag.
Widersprüche kann man beseitigen, indem man eine der beiden Seiten aufgibt. Also entweder so: Was da in der Natur spricht, das ist doch nur der Kurzeck, der seine eigenen Ansichten der Natur in den Mund legt. Oder so: Wer sagt denn, dass die Natur nicht sprechen kann, die Wissenschaft täuscht sich halt. Man kann aber auch versuchen, den Widerspruch erst einmal auszuhalten und als Hinweis auf die Qualität einer Erfahrung zu betrachten, die man auch selbst, mit oder ohne Kurzeck, in der Natur machen kann: die Erfahrung der Natur als bedeutsames Gegenüber und nicht nur als Mittel zu unseren Zwecken. Diese Erfahrung ist real. Ihre Qualität ist real. Und die Beschreibung, oder besser Evokation ihrer Qualität mithilfe des Bildes einer Person oder eines Gegenübers, das zu uns spricht, ist genau das: bildhaft, metaphorisch, und nicht wortwörtlich zu verstehen. Und das heißt nicht: «nur» metaphorisch und eigentlich falsch. Es heißt vielmehr: metaphorisch und wahr, wenngleich nicht wörtlich wahr. Das metaphorisch Wahre beißt sich nicht mit dem wörtlich Wahren.
Auch damit ist der Widerspruch aufgelöst, aber ohne dass man sich auf eine der beiden Seiten geschlagen hätte. Denn beide Seiten treffen nur einen Teil der Wahrheit. Die Naturwissenschaft hat die Natur nur «entzaubert» und unsere Welt «trostlos» gemacht, wenn wir ihr einen Alleinvertretungsanspruch auf Wahrheit zuerkennen und unser Weltbild szientistisch an ihr ausrichten. Das sollten wir aber nicht tun. Denn auch in der ästhetischen Erfahrung offenbart sich Welt und Wahrheit. Damit tut sich ein dritter Weg auf zwischen den Extremen der Anthropozentrik und Ökozentrik. Diesen Weg wollen wir in unserem Buch beschreiten. Denn beides ist falsch: sowohl die Natur szientistisch zu einer instrumentellen Ressource für uns zu erniedrigen, als auch die Natur esoterisch zu einer Person oder gar einer Göttin zu verklären. Wir nennen unsere dritte Position: «ästhetische Ökozentrik». Das richtige, metaphorische Verständnis der Personifikation der Natur entpuppt sich somit als Schlüssel, um aus der unheilvollen Frontstellung zwischen Anthropozentrik und Ökozentrik herauszukommen.
Die Buchkapitel im Überblick
Das Buch beginnt mit einem fiktiven Gespräch zwischen dem Schriftsteller Peter Kurzeck und der Philosophin Angelika Krebs. Es ist heiß und man sitzt in einem Café unter alten Arkaden im Städtchen Uzès in Südfrankreich und unterhält sich über Natur und Literatur. In dem Gespräch klingen einleitend und auf sehr persönliche Weise all die Fragen an, mit denen sich die folgenden fünf Kapitel dann ausführlich auseinandersetzen.
Das erste Kapitel nimmt seinen Ausgang von einer Kurzeck-Passage über das herzzerreißende Los von fünf Igeln, welche auf dem Weg zum Winterschlaf vergeblich versuchen, eine stark befahrene Straße zu überqueren. Damit wendet es sich nicht gleich dem Hauptthema des Buches, der Schönheit der Natur zu, sondern zunächst dem Leid und Leben der mit uns verwandten Tiere, die eine Sonderstellung in der Natur haben. Das Kapitel verficht den moralischen Status der Igel und aller leidensfähigen Tiere, und das ohne Rekurs auf eine Moraltheorie wie den Utilitarismus oder den Kantianismus. Es stützt sich vielmehr auf lebensweltliche Gewissheiten, wie die, dass ein Mensch ohne Mitleid kein guter Mensch sein kann. So ein Vorgehen ist, zumindest in der akademischen Philosophie, rar und erklärungsbedürftig. Daher reflektiert das Kapitel die Erkenntniskraft von Gefühlen wie dem Mitleid und deren Evokation in der Literatur. Es tritt ein für emotionale und literarische Prägnanz als notwendige Ergänzung von wissenschaftlicher Präzision und rechtfertigt auf dieser Basis die Personifikation der Igel und dann auch, im Vorgriff auf die Folgekapitel, die Personifikation der ganzen Natur. Es tut dies nicht völlig freihändig, sondern mithilfe des klaren Ansatzes, den der Jenaer Erkenntnistheoretiker Gottfried Gabriel in seinem Werk Erkenntnis von 2015 vorgelegt hat. Das wird auch in den anderen vier Kapiteln so sein, dass jeweils ein philosophisches Glanzstück für unsere Diskussion fruchtbar gemacht wird, natürlich neben vielen anderen kleinen und mittelgroßen Bezugnahmen. Das erste Kapitel endet mit einer Übersicht über das verzweigte Terrain der Naturethik. Dabei wird das, was dieses Vorwort bisher als «naturästhetisch» angesprochen hat, weiter aufgefächert in drei Dimensionen: erstens die Schönheit der Natur, zweitens ihre Heiligkeit und drittens ihr Wert als Heimat.
Das zweite Kapitel hebt an mit der Kurzeck’schen Evokation einer wunderschönen Morgenstimmung: Wie die Sonne langsam durch den weißen Nebel dringt und Dorf und Tal nach und nach aufleuchten. Plastisch vorgeführt wird das mithilfe der metaphorischen Personifikation des Morgens als eines Malers, der einmal hier, einmal dort seinen Pinsel ansetzt. Auch in dem inspirierenden ästhetischen Ansatz des Oxforder Allrounders Roger Scruton, wie er etwa in seinem Werk Schönheit von 2012 entwickelt ist, spielt metaphorische Personifikation eine Hauptrolle. Ohne sie könnten wir, so Scruton, Musik gar nicht als Musik hören, Gemälde nicht als Gemälde sehen und Landschaften nicht als Landschaften. Noch um einen weiteren Aspekt der landschaftsästhetischen Erfahrung ist es uns, wie auch Scruton und Kurzeck, zu tun. Das ist ihre eigentümliche Zeitlichkeit. Wer in der Natur weilt, vergisst leicht, wieviel Uhr es ist. Es kann einem sogar passieren, dass man ganz aus der Zeit fällt. Zugleich vermag die zyklische Natur unser Bewusstsein für den Fluss der Zeit auf versöhnliche Weise zu schärfen, ihre Tiefe zu erleben und uns gewissermaßen in ihr zu «beheimaten».
Im dritten Kapitel geht es um die spirituelle Dimension unseres Verhältnisses zur Natur. Das einführende Kurzeck-Zitat zur Ausrottung der Frösche vergegenwärtigt das Ausmaß der Naturzerstörung und bringt Empörung darüber zum Ausdruck, dass wir damit inzwischen und vielleicht endgültig «aus Gottes Hand gefallen» sind. Das Kapitel reflektiert unter Rückgriff auf das kluge Werk Religion des Potsdamer Sprachphilosophen Hans Julius Schneider von 2008, wie Ästhetik und Spiritualität zusammenhängen. Es begreift die spirituelle Naturerfahrung als eine Facette der ästhetischen, und damit Naturästhetik als einen Zugang zu Spiritualität und Religion. Es fragt weiter mit Schneider, ob das, was in der Religion oft mit «Gott» bezeichnet wird, als wörtliche Referenz auf einen real existierenden, personalen Schöpfergott zu verstehen ist oder eher metaphorisch als Ausdruck einer spirituellen Erfahrung. Womit wir wieder beim Thema metaphorische Personifikation wären und der Suche nach einem dritten Weg neben Szientismus und Metaphysik im schlechten Sinne.
Die Kurzeck-Passage, welche das vierte Kapitel eröffnet, zeigt die Verwandlung eines Tals durch den Bau einer Autobahn: Das Tal wird von einem Tal für Menschen zu einem Tal für Autos. Die Menschen verlieren damit einen Teil ihrer Heimat. An schönen Orten mögen wir vielleicht am liebsten Wurzeln schlagen. Doch andere Orte tun es auch. Nur sogenannte Unorte sind dafür nicht geeignet. Ein Autobahn-Tal ist ein Unort. Dass die Autos einen nicht «kennen», die alten Wege früher aber schon, zeigt auch hier wieder die Bedeutung der Personifikation. Dem oft als nostalgisch abgetanen Bedürfnis des Menschen nach Beheimatung in der Landschaft geht das Kapitel nach anhand des klassischen Essays des jüdischen Intellektuellen Jean Améry «Wieviel Heimat braucht der Mensch?» von 1966.
Damit ist nun auch der Inhalt der drei zentralen, «ästhetischen» Kapitel: erstens zur Schönheit, zweitens zur Heiligkeit und drittens zur Heimatlichkeit der Natur angerissen. Das letzte und fünfte Kapitel schlägt einen völlig anderen Ton an. Es beginnt mit einer Kurzeck’schen Parodie des «geilen Geizes» im nachkriegsdeutschen Auto- und Supermarktland. Philosophische Kritik an der privaten und unternehmerischen Gewinnmacherei auf Kosten der Natur übt das Kapitel mithilfe der begrifflich konsequenten «Bemerkungen zu politischer Ökonomie» aus dem Jahre 1998 von Friedrich Kambartel, einem philosophischen Urgestein aus Konstanz. Am Ende steht, was sonst?, die Hoffnung auf Umkehr nicht nur im Denken, auch im Fühlen und im Handeln.
Alle Kapitel verzichten der besseren Lesbarkeit halber auf Fußnoten und akademische Insider-Sprache. Philosophische Vorkenntnisse setzen wir keine voraus. Die Lektüre der Kapitel soll alle, die Interesse haben, emotional und intellektuell herausfordern und Neugierde wecken auf mehr Literatur und mehr Philosophie zur Natur. Hinweise dazu finden sich in den ausführlichen Anmerkungen am Schluss eines jeden Kapitels. Die Anmerkungen sind insbesondere auch für diejenigen Leserinnen und Leser gedacht, die ihre Liebe zur Natur pädagogisch weitergeben wollen, sei es an der Universität, in der Schule oder in der Familie. Wem die oben genannten Philosophen-Namen etwas sagen, der wird jetzt schon merken, dass in unserem Buch im Hintergrund Immanuel Kant und Ludwig Wittgenstein allgegenwärtig sind.
Auch den Namen Peter Kurzeck muss man noch nicht gehört haben. Man muss auch seinen Roman Vorabend nicht kennen. Ein Schaden ist es jedoch nicht, wenn man ihn parallel zu unserem Buch liest. Der Roman hat allerdings über tausend Seiten und erschließt sich nicht auf Anhieb. Man muss erst in den richtigen Rhythmus hineinkommen. Die ausgewählten Zitate sollen auch Lust machen auf diesen Glücksfall der Gegenwartsliteratur. In einem Gespräch mit Schülerinnen und Schülern sagte Kurzeck einmal selbst über dieses Werk: «Und es ist eigentlich die Summe all dessen, was ich weiß, in dem Buch drin.» Zum Einstieg in den besonderen «Kurzeck-Sound» empfiehlt sich das Anhören eines seiner frei erzählten Hörbücher, etwa Ein Sommer, der bleibt von 2007.
Der Titel unseres Buches ist übrigens eine Hommage an Peter Kurzeck. Im Vorabend gibt es zwei Kapitel zum «Weltbild der Igel». Mit Peter Kurzeck wollen wir über die Natur auch aus der Perspektive der Igel nachdenken, stehen doch die Igel im Märchen für Umsicht, Vernunft und Weisheit. Aus dieser Perspektive betrachtet erscheint es ziemlich seltsam, wie sich die Menschen auf ihren Wegen und in ihren Geschäften seit einiger Zeit aufführen: «Was es nicht alles so gibt.» Unser Buch ist also auch insofern anders, als es die gewohnte menschliche Perspektive auf die Natur mithilfe dichterischer Phantasie verfremdet, hinterfragt und übersteigt.
Ein Gemeinschaftsprojekt
Das Buch ist wie gesagt nicht auf dem Mist einer einzigen Person gewachsen. Neben der Basler Philosophieprofessorin Angelika Krebs haben ihre beiden Assistenten Dr. Alexander Fischer und Dr. Jan Müller sowie die Studentin Stephanie Schuster mitgearbeitet. Wir haben den Vorabend miteinander gelesen, zusammen Seminare an der Universität Basel darüber abgehalten und Ausflüge in die Kurzeck’sche Natur in und um Staufenberg und Uzès unternommen.
Angelika Krebs hat das Buch im Ganzen konzipiert, die Richtung und den Gang der Argumentation vorgezeichnet sowie die Auswahl der einleitenden Kurzeck-Passagen und der philosophischen Referenzliteratur getroffen. Auch den Stil des Buches hat sie wesentlich geprägt. Der Stil orientiert sich an einer Urform der Philosophie, dem sokratischen Dialog. Er geht von daher gut zusammen mit dem ausgesprochen mündlichen Schreibstil von Peter Kurzeck. Allein aus ihrer Feder stammt die Einleitung mit dem fiktiven Gespräch, das erste, tierethische und methodische Kapitel, die erste Hälfte des zweiten, naturästhetischen Kapitels und das vierte Kapitel zu Natur als Heimat. Eingeflossen sind darin ihre früheren naturethischen Arbeiten, vor allem der von ihr herausgegebene und in vielen Auflagen erschienene Suhrkamp-Sammelband Naturethik von 1997 und ihre UNO-Studie Ethics of Nature – A Map von 1999. Angelika Krebs ist also ein «alter Hase», der die philosophische Diskussion um Naturethik seit Jahrzehnten verfolgt und mitgestaltet. Lieber als ein Hase möchte sie inzwischen allerdings ein Igel sein.
Den zeitphilosophischen Teil des zweiten, naturästhetischen Kapitels hat Stephanie Schuster verfasst, auf der Basis ihrer Masterarbeit «Die Ewigkeiten macht man sich selbst» – Schönheit und Zeiterleben in Peter Kurzecks Werk von 2019. Zum dritten Kapitel über Spiritualität hat Jan Müller beigetragen, wenn auch der Text in der vorliegenden Form hauptsächlich auf Angelika Krebs zurückgeht. Das fünfte Kapitel zur politökonomischen Kapitalismus- und Bedürfniskritik haben Alexander Fischer und Angelika Krebs zusammen geschrieben. Die Entwürfe aller Kapitel wurden vom gesamten Autorenteam kritisch durch die Mangel gedreht und von Angelika Krebs zu einem Ganzen zusammengefügt. Es versteht sich bei einem solch kooperativen Unternehmen von selbst, dass nicht immer jeder mit allem einverstanden ist. Im Großen und Ganzen haben wir aber alle an einem Strang gezogen.
Unser Dank gilt den Studierenden unserer Kurzeck-Seminare und der Peter-Kurzeck-Gesellschaft, dort vor allem Marcel Baumgartner, Rudi Deuble, Ilona Fuchs, Volker Hess, Günter und Vilma Kämpf, Wend Kässens, Michael Kling, Alexander Losse, Christian Riedel und Erika Schellenberger-Diederich. Michael Kling gewährte uns Einblick in sein privates Peter-Kurzeck-Archiv und half uns, verschollen geglaubte Mitschnitte von Kurzeck-Lesungen aufzutreiben. Die Basler Fotografin und Kurzeck-Vertraute Ute Schendel stöberte ihr altes Filmmaterial auf Fotografien von Peter Kurzeck in Uzès durch und erlaubte uns den Abdruck. Auch der Filmemacher Frank Wierke hat ein spannendes Kurzeck-Foto beigesteuert. Peter Kurzecks Tochter, Carina Wächter, ließ uns Hunderte von Bildern, die ihr Vater als junger Mann gemalt hat, in Augenschein nehmen. Auch da durften wir uns einige Gemälde aussuchen.
Wir danken weiterhin Brigitte Descoeudres, die uns als Kunsthistorikerin bei der Auswahl der Bilder unterstützt hat, und Yvonne Stocker, die das ganze Projekt als Hilfsassistentin begleitet hat. «Last, but not least» wäre dieses Buch ohne die philosophische Klarsichtigkeit von Gottfried Gabriel, Roger Scruton, Hans Julius Schneider und Friedrich Kambartel – und ohne unsere Gespräche mit ihnen – ein ziemlich anderes Buch geworden. Ihnen gilt unser größter Dank.
Uzès im Februar 2021
Angelika Krebs