Umweltethik und Solidarität

Wieso die umweltethische Debatte stärker über Solidarität nachdenken sollte

    Solidarität erfährt in gesellschaftlichen Debatten seit einiger Zeit eine immer größere Aufmerksamkeit. Nicht zuletzt in Zeiten der Covid-19 Pandemie wurde viel über Solidarität gesprochen. Auch in der philosophischen Debatte ist seit einigen Jahren eine verstärkte Rezeption zu verzeichnen. Dies ist umso bemerkenswerter, weil die philosophische Debatte seit John Rawls 1971 die Theorie der Gerechtigkeit veröffentlichte stark auf das Prinzip der Gerechtigkeit fokussiert ist. Unter Gerechtigkeit wird in der Tradition dieser Schrift v.a. die Verteilung von Gütern oder der Zugang zu Ämtern verhandelt und ethisch abgewogen. Solidarität als ethische Kategorie betont demgegenüber, dass Menschen sich überhaupt erst einmal verbunden fühlen müssen, um über solche Fragen der Gerechtigkeit nachzudenken. Solidarität betont eben diese Verbundenheit der Menschen, aus denen ein kritisches Potenzial gegenüber problematischen gesellschaftlichen Entwicklungen erwächst.

    In der Umweltethik spielt Solidarität allerdings bislang fast keine Rolle. Innerhalb eingespielter Begrifflichkeiten vom Anthropozentrismus bis hin zum Holismus geht es hier vielmehr um eine Verhältnisbestimmung von Mensch und Natur und deren normative Konsequenzen in bekannten Argumentationsbahnen. Oder es wird ausgehend von der liberalen Tradition Rawls‘ nach einer gerechten Verteilung von Gütern unter ökologischen Bedingungen gefragt. Dabei hat sich Klima- bzw. intergenerationeller Gerechtigkeit angesichts von Klimafolgen als eine zentrales Thema innerhalb der Umweltethik herausgebildet. Auch hier speist sich der Mainstream der Ansätze meist aus der liberalen oder deliberativen Tradition – wie in vielen bereichsethischen Forschungsfeldern.

    Solidarität impliziert in allen drei genannten Themenbereichen neue Impulse für die Umweltethik, die bislang zu wenig beachtet worden sind – gerade auch, um eingefahrene Debatten zu weiten bzw. den Mainstream der Diskussion auf bislang zu wenig diskutierte Annahmen oder Konsequenzen hin zu befragen. Es lohnt sich also, den Diskurs über Solidarität mit dem der Umweltethik zu verknüpfen. Dabei ist es zuerst wichtig zu klären, was Solidarität philosophisch genau meint.

     

    Solidarität und Relationalität

    Für die philosophische Debatte ist bis heute Bayertz maßgebend. Er hatte Ende der 1990er Jahre eine wichtige Unterscheidung herausgearbeitet (Bayertz 1998), und zwar die von sozialer und politischer Solidarität (Scholz 2008). Der Begriff der sozialen Solidarität in der Tradition Durkheims stehend markiert, dass der rationale Voluntarismus liberaler Theorien des Politischen irreführend ist. Denn Menschen sind immer schon eingebunden in ein komplexes und dynamisches Geflecht sozialer Beziehungen und Interaktionen, aus denen sich normative Ansprüche jenseits einer rational-willentlichen Zustimmung ergeben. Solidarität meint deshalb zuerst nichts anderes, als anzuerkennen, dass Menschen in (sozialen) Relationen leben, aus denen solche Ansprüche wie die der Solidarität entstehen. Genese und Geltung einer so verstandenen Solidarität sind dabei eng miteinander verknüpft.

    Relationalität als Grundlage der Umweltethik betont deshalb zuerst, dass alle Menschen weltweit miteinander in einem dynamischen Netz aus Beziehungen verbunden sind. Politische Entscheidungen oder ökonomische Handlungen im einen Teil der Welt haben massive Auswirkungen auf die ökologischen Bedingungen und damit das Leben von Menschen in anderen Teilen der Welt. Solidarität verstanden als Relationalität bedeutet dann erstens, dass normative Ansprüche über die Grenzen der eigenen Gemeinschaft, Kultur oder Nation hinaus gehen. Solidarität bedeutet deshalb immer auch globale bzw. transkulturelle Solidarität (Gould 2007; Heindl/Reder 2020). Im Sinne einer pragmatistischen Theorie von Solidarität impliziert die Forderung nach globaler Solidarität beispielsweise, dass Menschen an verschiedenen Knotenpunkten des relationalen Netzwerkes sich mit anderen Menschen (oder Lebewesen) solidarisch fühlen und damit deren Anliegen in das (politische) Blickfeld rücken. Das Nachdenken über Solidarität führt die Umweltethik also noch konsequenter zu einer Beschäftigung mit der globalen Dimension ihres Themenfeldes.

    Zweitens impliziert das Theorem der Relationalität für die Umweltethik eine grundlegende Kritik eines rein anthropozentrischen Ansatzes, und zwar im Rahmen eines neuen Denkmusters: Denn Relationalität als sozialtheoretische Grundlage von Solidarität bedeutet immer auch mit anderen Lebewesen bis hin zu Ökosystemen in Verbindung zu stehen. Das, was menschliche Erfahrungen ausmacht oder menschliches Handeln prägt, sind nicht nur andere Menschen, sondern eben auch ökologische Rahmenbedingungen oder andere Lebewesen wie Tiere. Natürlich, so der Einwand, lässt sich kein reziprokes Verhältnis zwischen Lebewesen und erst recht nicht zwischen Menschen und der Natur konzeptualisieren. Diese Reziprozität besteht jedoch auch zwischen vielen Menschen, die miteinander solidarisch sind, nur rein hypothetisch und nicht faktisch. In vielerlei Hinsicht haben sich in den vergangenen Jahren deshalb nur konsequenterweise Studien zur Solidarität mit Tieren herausgebildet (Cojocaru 2021). Sie sind Ausdruck einer umweltethischen Neuausrichtung, in der das Mensch-Umwelt-Verhältnis als ein umfassender relationaler Zusammenhang gedacht wird.

    Solidarität bedeutet drittens für die Umweltethik, nicht in ein präsentisches Denken des Politischen zu verfallen, das manchen liberalen politischen Theorien inhärent ist (Tamoudi/Faets/Reder 2020). Denn das relationale Gefüge, auf dem die Forderung nach Solidarität aufsetzt, kann nur als dynamisch-diachrones sinnvoll gedacht werden. In jedem Augenblick verändert sich die menschliche Gemeinschaft durch existenzielle Vollzüge: die Geburt und das Sterben. Soziale Relationalität ist deshalb immer auf die Vergangenheit und Zukunft hin bezogen. Solidarität als Anerkennung von Relationalität bedeutet in diesem Kontext deshalb auch das Leben zukünftiger Generationen mitzudenken. Umweltethik ist deshalb noch viel stärker als zeitlich-diachroner Reflexionsrahmen aufzuspannen, wenn über Solidarität nachgedacht wird.

     

    Solidarität und neue Rechtssubjekte im politischen Feld

    Bayertz und Scholz fokussieren neben sozialer vor allem auf politische Solidarität. Und auch diese beinhaltet wichtige Impulse für die umweltethische Debatte. Historisch betrachtet hat politische Solidarität zwei Facetten: Auf der einen Seite die Überführung von sozialer Relationalität in die politischen Institutionen des demokratischen Rechtsstaates. Die institutionellen Absicherungssysteme sozialer Risiken – kurz: der Sozialstaat – sind historisch betrachtet ein wichtiger Ausdruck von politischer Solidarität. Dadurch wird institutionell abgesichert, dass niemand aus dem relationalen Netz herausfällt.

    Für die Umweltethik bedeutet diese Dimension der politischen Solidarität ein verstärkter Fokus auf Institutionen und das Recht als Absicherung dieser institutionellen Arrangements (Reder/Köhler/Gösele/Wallacher 2018). In der aktuellen Debatte um die Verankerung des Klimaschutzes in der Verfassung drückt sich genau dieser Fokus aus. Und auch diese Bemühungen wurden nicht zuletzt von Aktivist*innen wie Fridays for Future unter dem Motto: „Solidarität mit zukünftigen Generationen“ in den Rechtsprozess eingespeist. Diese Forderung nach dem Schutz der Umwelt auf einer grundlegenden rechtlichen Ebene ist Folge eines oft unzureichenden rechtlichen Schutzes von einzelnen Umweltgütern in der Vergangenheit. Eine wichtige argumentative Weichenstellung ist dabei gegenwärtig, einzelne Umweltgüter oder zukünftig lebende Menschen als Rechtssubjekte zu verstehen. Damit wird die Logik des Rechts fundamental erweitert.

    Zwei Beispiele hierfür sind die konstitutionelle Verankerung solcher erweiterten Rechte und die Klageberechtigung neuer Rechtssubjekte. Mit einer konstitutionellen Verankerung der Rechte von Tieren oder kommenden Generationen würden beispielsweise diesen ein eigenständiger rechtlicher Status zugesprochen. Beide sind bislang aufgrund ihrer Stimmlosigkeit deutlich schwächer gestellt als aktuell lebende Menschen. Dies bedeutet zugleich, dass sie auf speziellen Schutz und Garantien angewiesen sind. Eine solche Garantie könnte durch eine konstitutionelle Institutionalisierung ihrer Rechte erzielt werden (Gosseries 2008). Dies gilt auch für eine stellvertretende Klageberechtigung von Tieren oder zukünftigen Generationen auf den verschiedenen Ebenen des Rechts.

    Politische Solidarität als ökologische Institutionalisierung könnte also zu einer weitreichenden Verrechtlichung führen, gerade auch jenseits traditioneller Denkformen des Rechts. Gerade diese Eröffnung neuer Denkwege ist das Spezifikum der politischen Solidarität. Daraus könnten neue umweltethische Institutionen entstehen, die dann auch mit gerechtigkeitstheoretischen Überlegungen verschränkt werden könnten wie dies im Fall der ethischen Reflexion des Sozialstaates der Fall ist. Allerdings muss immer auch vor Augen gehalten werden, dass Institutionalisierungsprozesse oft langwierig und träge und das Recht als Instrument der Institutionalisierung oft konservativ sind. Es kommt erst im Nachhinein und: wo keine Kläger*in, da kein Richter*in. Dies führt zu einem letzten Impuls der Solidarität für die Umweltethik.

     

    Umweltethisch fundierte Politik als Kritik im Namen der Verwundbaren

    Politische Solidarität hat noch eine zweite Facette, die u.a. in der Arbeiter*innenbewegung und ihren kämpferischen Forderungen gründet. Politische Solidarität achtet in dieser zweiten Hinsicht vor allem auf die Krisen der Zeit und sucht nach transformativen Lösungen jenseits bestehender rechtlicher und politischer Institutionen. Gefragt wird danach, wie politisches Engagement neu geweckt und ein kämpferischer Einsatz für eine andere Welt gestärkt werden kann. Politische Solidarität ist eine grundlegende Kritik bestehender politischer und ökonomischer Verhältnisse. Es geht dann weniger nur um eine Erweiterung bestehender Semantiken, sondern die Entwicklung grundlegend neuer Denkrahmen vom Politischen ausgehend. Sie will transformativ auf eine andere Gesellschaft in der Zukunft hinarbeiten (Reder/Stüber 2020).

    Ein Beispiel hierfür wäre, die Logik der Menschenrechte in ihrer Bedeutung für eine zukünftige Klimapolitik nicht nur als einen (normativen) Schwellenwert innerhalb eines liberalen Theorierahmens zu etablieren, sondern diesen Rahmen selbst kritisch zu hinterfragen. Im Kontext der umweltethischen Frage nach Klimapolitik ginge es dann nicht nur (und vielleicht sogar nicht primär) um die Frage, wie viel die aktuell lebenden Menschen den zukünftigen genau schulden. Sondern um eine grundlegende Kritik bestehender politischer und ökonomischer Verhältnisse, die Ursache von massiven ökologischen Krisen sind.

    Bei Autor*innen wie Butler wird Solidarität aber nicht nur als grundlegende Kritik bestehender Verhältnisse verstanden, sondern auch als eine Verschiebung des normativen Rahmens insgesamt (Butler 2003). Es geht weniger um die Begründung abstrakter Prinzipien wie Klimagerechtigkeit, sondern v.a. um ein Gespür für und eine dichte Beschreibung von Verletzbarkeiten. Vulnerabilität wird als eine allgemeine menschliche Erfahrungsdimension beschrieben, die sich angesichts ökologischer Krisen in konkreten Formen von Verletzungen manifestiert. Philosophie sollte, so Butler (und dies könnte man direkt auf die Umweltethik übertragen), ein Gespür für diese Formen von Vulnerabilität gewinnen und nicht die Realität unter den theoretischen Rahmen von abstrakten normativen Prinzipien zwingen. Eine Umweltethik, die Solidarität ernst nimmt, denkt von und mit den Ausgeschlossenen, Diskriminierten und Vulnerablen angesichts der ökologischen Krisen der Zeit. Dies ist der Kern politischer Solidarität und gleichzeitig ein wichtiger Impuls für die Umweltethik.

    Sicherlich lassen sich manche der skizzierten ethischen Überlegungen auch in traditionellen umweltethischen Konzepten, wie beispielsweise der Gerechtigkeit, formulieren. Die Beschäftigung mit Solidarität betont aber noch stärker als diese Konzepte die Momente der Relationalität, Kritik und Vulnerabilität. Alle drei können helfen, umweltethische Debatten neu zu denken. Und dabei besonders die soziale Grundlage normativer Ansprüche und deren globale Dimension klarer zu akzentuieren als bislang. Dies ist nicht nur für die Umweltethik, sondern die Philosophie insgesamt sicherlich eine der großen Herausforderung der Gegenwart.

     

     

    Literatur

    Bayertz, Kurt (1998): Begriff und Problem der Solidarität. In: Bayertz, Kurt (Hg.): Solidarität. Begriff und Problem. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 11–53.

    Butler, Judith (2003): Kritik der ethischen Gewalt. Adorno-Vorlesungen 2002. Frankfurt: Suhrkamp.

    Cojocaru, Mara-Daria (2021): Menschen und andere Tiere. Plädoyer für eine leidenschaftliche Ethik. Darmstadt: wbg Academic.

    Gould, Carol C. (2007): Transnational Solidarities. In: Journal of Social Philosophy 38 (1), 148–164.

    Gosseries, A. (2008). On Future Generations’ Future Rights. In: The Journal of Political Philosophy (16/4), 446–474.

    Heindl, Alexander; Reder, Michael (2020): Politische Solidarität in transnationaler Perspektive. In: WSI Mitteilungen 73 (5), 349–355.

    Reder, Michael; Stüber, Karolin-Sophie (2020): Solidarität in der Krise. Für ein Verständnis politischer Solidarität in Corona-Zeiten im Anschluss an H. Arendt. In: Zeitschrift für Praktische Philosophie 7 (2), 443–466.

    Scholz, Sally (2008): Political Solidarity. University Park, PA: The Pennsylvania State University.