Kaum ein anderer Philosoph wurde mehr von der Popkultur vereinnahmt als Nietzsche. Serien, Filme, Comics, Zeitschriften, Ratgeber: Es scheint, als lassen sich einzelne Versatzstücke seines Denkens überall finden. Wo sich manches Medium seiner donnernden Rhetorik zu bedienen weiss, findet sich bei anderen - einem in den 70er Jahren vor den Eltern versteckt getragenem Che Guevara-Shirt nicht unähnlich - nur ein Hauch von Referenz.
Dabei gilt es auch nicht zu vergessen, dass Nietzsches Denken in der Vergangenheit dazu diente, politischen Ideologien ein Fundament zu liefern, welche in ihrer Wirkung nicht zerstörerischer hätten sein können. Die Idee des «Übermenschen», gepaart mit dem «Willen zur Macht», wurde nicht nur vom dritten Reich fast bis zur Unkenntlichkeit verfremdet, um ihre Rassentheorie zu rechtfertigen und die Welt in einen Krieg zu stürzen. Bis zum heutigen Tag werden so manche moralische Bedürfnisse gewisser politischer Gruppierungen mit der Schützenhilfe von «Jenseits von Gut und Böse» als «moralinsauer»1 und dadurch als «überempfindlich» von der Hand gewiesen sowie als Auswuchs einer «Herdenmoral» interpretiert.
Das Potenzial Nietzsche, gezielt oder unwissentlich, misszuverstehen oder zu verzerren, ist also genauso gross wie die Sprengkraft seines Denkens selbst. Eine Feststellung, welcher er sich selbst, Wahn hin oder her, durchaus bewusst war:
«Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit» - ecce homo
Woher rührt also diese schon fast unheimlich anmutende Unbeständigkeit in der Rezeptionsgeschichte Nietzsches? Liegt es nur daran, dass sich so einfach griffige Zitate zu fast jeder Lebenssituation herauspicken lassen? Who cares about context, right? Oder wesentlich schwerwiegender: liegt es daran, dass Nietzsche nie wirklich verstanden wurde und seine Theorien bis heute nicht das Publikum fanden, welches er sich so innig zu seinen Lebzeiten gewünscht hatte?
Um diesen und anderen Fragen auf den Grund zu gehen, wurde dieser Themenschwerpunkt geschaffen. Bevor aber die grossen Begriffe und Theorien Nietzsches hier besprochen werden, soll zuallererst ein Zugang zum allgemeinen Verständnis seines Denkens veranschaulicht werden. Denn unter der Vielzahl an Sekundärliteratur zu seiner Wirkungsgeschichte gibt es viele, welche zwar den Diskurs mit eigenständigen Interpretationen angereichert haben, aber wenige, welche sich dabei auch dem Atlas-Akt dieser Aufgabe so selbstkritisch bewusst waren wie Karl Jaspers «Nietzsche: Einführung in das Verständnis seines Philosophierens».
Darin versucht der berühmte, ostfriesische Psychoanalytiker und Existenzphilosoph das, was als Theorie verstanden werden kann, mit dem, was man über die Biographie Nietzsches weiss, ins Gleichgewicht zu bringen, ohne dabei zu vergessen, dass dem Versuch, Nietzsche zu verstehen, notwendigerweise eine philosophische Eigenleistung vorauseilt.
So beschreibt er die philosophische Forensik, welche seiner Meinung nach für das Verständnis unabdingbar ist, folgenderweise:
«Der Anblick von Nietzsches Werk ist im Gleichnis auszusprechen: Es ist, als ob eine Bergwand gesprengt sei; die Steine bereits mehr oder weniger behauen, weisen auf ein Ganzes. Aber das Bauwerk, um dessen Willen gesprengt schien, ist nicht errichtet. Dass das Werk wie ein Trümmerhaufen daliegt, scheint seinen Geist doch nicht unsichtbar zu lassen für den, der einmal auf den Weg der Bauensmöglichkeiten gekommen ist; ihm fügen sich manche Bruchstücke zusammen. Doch nicht eindeutig: viele Werkstücke sind in zahlreichen, nur leicht abgewandelten Wiederholungen da, andere erweisen sich als einmalige, kostbare Formen, als wenn sie irgendwo einen Eckstein hätten abgeben oder einen Bogen schliessen sollen. Man erkennt sie nur bei sorgfältigem Vergleichen unter der Idee des Bauganzen. Dieses aber ist wieder nicht mit Gewissheit ein Einziges: es scheinen sich mehrere Baumöglichkeiten zu durchkreuzen; man zweifelt manchmal, ob ein Stück in der Form verfehlt wurde oder einer anderen Bauidee gehorcht.
Es scheint die Aufgabe zu sein, durch die Trümmer hindurch den Bau suchen zu wollen, wenn dieser auch niemandem als einziger und eindeutiger im fertigen Ganzen sich zeigen wird. Das Suchen dieses Verborgenen gelingt nur, wenn man sich verhält, als ob man den Bau selbst zu errichten hätte, der für Nietzsche, als er ihn errichten wollte, in Trümmer ging.»2
Mit diesem für Jaspers typischen Stil, Gleichnisse als Erklärstücke zu verwenden, umschreibt er bereits zu Beginn die grösste Hürde im Versuch, Nietzsches Gedanken einer Ordnung zu unterwerfen: Nietzsches Werk gehorcht keiner logisch strukturierten Systematik im klassisch philosophischen Sinne. Der bekanntlich mit dem Vorschlaghammer philosophierende hat sich im Prozess ironischerweise selbst zertrümmert.
Jedoch reicht es auch nicht aus, ihn einfach als Aphoristiker zu kategorisieren. Dagegen sprechen nicht nur viele seiner Abhandlungen, welche weder ausschliesslich von Aphorismen getragen, noch als schmückendes Beiwerk von solchen begleitet werden. Wann und wie Aphorismen in seinem Werk verwendet werden, kann aus literarischer Perspektive ein durchaus fruchtbarer Boden für weiterführende Fragestellungen sein. Jedoch tendiert diese Betrachtungsweise wieder dazu, Nietzsches Werk auf eine lose Sammlung stilistisch interessanter Fragmente zu reduzieren.
So schreibt Jaspers zusammenfassend:
«Die bisher literarisch ausgeführten Nietzsche-Deutungen haben zumeist einen Grundfehler: sie ordnen, wie selbstverständlich um die bestehenden Möglichkeiten des Daseins und des Menschen wissend, Nietzsche ein; dadurch subsumieren sie ihn als Ganzes.»3
Bei dem Versuch Nietzsche nur aus einem (entgegen einer Vielzahl möglicher) Blickwinkel zu betrachten, entsteht eine unüberbrückbare Distanz zu dem, was verstanden werden will. Die Möglichkeit einer tiefergehenden Betrachtung wird durch die Masse an möglichen, jedoch einseitig ausgelegten und schlimmstenfalls einander konkurrierenden Deutungsansätze unterdrückt. Als Folge «haben alle gegeneinander, aber keiner für sich recht.»4
Zum Zwecke eines besseren Überblicks fährt Jaspers mit einer Katalogisierung der häufigsten Deutungsfehler fort.
1. «Es werden einzelne Lehren Nietzsches isoliert, systematisiert und als seine eigentliche Errungenschaft herausgestellt.»5
Die Tendenz Nietzsche nur bruchstückhaft zu interpretieren und sich dadurch dessen zu bemächtigen, was man in Nietzsche sehen will, erklärt auch seine Beständigkeit in der Verarbeitung durch popkulturelle Strömungen. Es fällt nicht schwer, sich beispielsweise ein Bild eines radikalen Religionskritikers zu machen, nachdem man den berühmten Satz «Gott ist tot» erst mal mit Nietzsche verbunden hat. Was aber mit dem Satz auch noch gemeint sein könnte, droht unbeachtet zu bleiben, sofern das Ersturteil bereits auf genügend Gefallen gestossen ist. Wäre die Tatsache, dass sich Nietzsche vorzüglich mit Nietzsche selbst widerlegen lässt (also sein Werk nicht arm an Widersprüchen ist), populärer, würden seine Theorien wahrscheinlich nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit als monolithische Gebilde interpretiert werden.
Nietzsche selbst meinte einmal dazu: «Die schlechtesten Leser sind die, welche wie plündernde Soldaten verfahren: sie nehmen sich einiges, was sie brauchen können, heraus, beschmutzen und verwirren das übrige und lästern auf das Ganze.»6
2. «Es wird die Persönlichkeit Nietzsches zum Bilde (zur Gestalt) und dadurch als ein ästhetisch zu schauendes in sich zusammenhängendes Ganzes eines vollendeten Schicksals unverbindlich gemacht.»7
Oftmals werden zwei Identitäten Nietzsches als Deutungsansätze verwendet. Einerseits die tragische, von Jaspers beschrieben als «ein Geschick der genialen Seele in ihrer Vereinsamung» und andererseits eine kulturhistorische, welche Nietzsche zur «Krisis Europas, die sich in ihm zu menschlicher Gestalt verdichtet» macht. Wo der eine Ansatz zur Überhöhung der «psychologischen Interessantheit» der Person neigt, überschätzt der andere die Wirkung, welche seine Person zu Lebzeiten hatte. Beide eint, dass die Möglichkeit einer differenzierten Betrachtung durch die Prämisse einer «falschen Grossartigkeit» erschwert wird.
3. «Es wird Nietzsches Gesamtwirklichkeit durch mythische Symbole erhellt, die ihm ewige Bedeutung und Tiefe des geschichtlichen Grundes geben.»8
Ein Wesensbestandteil von Nietzsches wortgewaltiger Rhetorik ist der häufige Gebrauch sinnreicher Symbolik. Besonders im Vergleich mit anderen philosophischen Texten, welche der sprachlichen Klarheit wegen oftmals davon absehen, aufgeladene Begriffe zu verwenden, wirken Nietzsches Schriften dagegen wie ein semantisches Feuerwerk. Was aus literarischer Sicht grosse Freude bei der Lektüre Nietzsches bereiten kann, schlägt spätestens bei der philosophischen Interpretation möglicherweise in Ernüchterung um. Grosse Begriffe setzen Erklärungen voraus. Erklärungen, welche man bei Nietzsche meist vergebens sucht. Konzentriert man sich nun aber nur auf die möglichen Bedeutungen der grossen Begriffe, verkommt das Studium Nietzsches zu einer mythischen Fährtensuche ohne absehbaren Ausgang. Was sonst noch geschrieben wurde, verkommt zum Nebenschauplatz. So schreibt Jaspers: «Es ist zu sehen, wie Nietzsche selbst solcher Symbole sich als eines erhellenden Mittels bedient, aber nur als eines Mittels unter anderem.»9
4. «Es werden Gedanken und Verhaltungsweisen Nietzsches psychologisch erklärt. Aufzuzeigen, wie er dazu gekommen sei, soll über Wert und Wahrheit entscheiden.»10
Ein Zugang, welcher sich bestimmt nicht damit brüsten kann, von philosophischem Interesse geleitet zu sein, besteht darin, eine Theorie lediglich anhand biographischer Anomalien erklärt zu wissen. Was bereits zu Lebzeiten Nietzsches zu einem Instrument seiner Kritiker geworden war, soll postum nun dazu dienen, seine Gedanken, je nach psychischer Verfassung zum Zeitpunkt ihrer Entstehung, mit Wertzuschreibungen von «gesund» bis «wahnhaft» zu validieren, oder als Geschwätz eines psychisch kranken Mannes herabzuwürdigen. Jasper bemerkt zurecht, dass «diese Methode mehr herabsetzend als eigentlich verstehend ist.»11
Nach dieser Auflistung möglicher Interpretationsfehler stellt sich nun die Frage, wie Nietzsche denn eigentlich zu lesen sei. Wie sich gezeigt hat, bedingen die Möglichkeiten des Missverstehens bereits eine vertiefte philosophische Auseinandersetzung. Es lässt sich also ahnen, dass die Möglichkeiten des Verstehens nicht weniger voraussetzungsreich ausfallen werden. Dieser Aufgabe soll im nächsten Artikel angemessen Rechnung getragen werden.
Einer Andeutung auf diesen nächsten Artikel nicht scheu, soll hier am Ende noch ein Zitat von Jaspers zu einem kleinen Ausblick einladen:
«Niemand wird das Eine in Nietzsche erblicken als nur der, der es selbst tut.»12
Quellen:
1: Online: https://www.svp.ch/aktuell/publikationen/medienmitteilungen/nur-wer-frei-ist-kann-das-richtige-tun-so-die-neue-programmchefin-der-svp-schweiz/ [06.06.2023]
2: Jaspers, Karl (1981). Nietzsche: Einführung in das Verständnis seines Philosophierens. Berlin/New York: Walter de Gruyter. S. 9
3: Jaspers, Karl (1981). Nietzsche: Einführung in das Verständnis seines Philosophierens. Berlin/New York: Walter de Gruyter. S. 12
4: Jaspers, Karl (1981). Nietzsche: Einführung in das Verständnis seines Philosophierens. Berlin/New York: Walter de Gruyter. S. 11
5: Jaspers, Karl (1981). Nietzsche: Einführung in das Verständnis seines Philosophierens. Berlin/New York: Walter de Gruyter. S. 12
6: Nietzsche, Friedrich (1954). Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München: Karl Schlechta. S. 789
7: Jaspers, Karl (1981). Nietzsche: Einführung in das Verständnis seines Philosophierens. Berlin/New York: Walter de Gruyter. S. 13
8: Jaspers, Karl (1981). Nietzsche: Einführung in das Verständnis seines Philosophierens. Berlin/New York: Walter de Gruyter. S. 13
9: Jaspers, Karl (1981). Nietzsche: Einführung in das Verständnis seines Philosophierens. Berlin/New York: Walter de Gruyter. S. 13
10: Jaspers, Karl (1981). Nietzsche: Einführung in das Verständnis seines Philosophierens. Berlin/New York: Walter de Gruyter. S. 13
11: Jaspers, Karl (1981). Nietzsche: Einführung in das Verständnis seines Philosophierens. Berlin/New York: Walter de Gruyter. S. 14
12: Jaspers, Karl (1981). Nietzsche: Einführung in das Verständnis seines Philosophierens. Berlin/New York: Walter de Gruyter. S. 10