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Auf dem Weg zum technologischen Humanismus?

Sieben zuversichtliche Zukunftsdiskurse

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    Die meisten Menschen kennen mein Forschungsgebiet, die Zukunftsforschung (bzw. Futures Research), leider nicht von den Studien der seriösen Wissenschaftler*innen, sondern von den in den Medien höchst aktiven, jedoch wissenschaftsfernen Zukunftsgurus, die sich aus Marketinggründen gerne selbst als Forscher*innen bezeichnen. Diese Gurus liefern extrem vereinfachte, monokausale Erklärungen und monoperspektivische Prognosen, die sich vor allen an den betriebswirtschaftlichen oder politischen Interessen ihrer jeweiligen Auftraggeber orientieren. Besonders beliebt ist das Gerede von den „Megatrends“, die die Zukunft anscheinend alternativlos bestimmen! Im Gegensatz zu diesen Möchtegern-Prognostiker*innen gilt für die ernsthafte prospektive Forschung der Slogan: „Wo Forschung d’rauf steht, muss auch Forschung d’drin sein.“ Aber auch die beste Forschung kann nicht vorhersagen, wie die Zukunft wirklich wird. Sehr wohl möglich ist es jedoch, aus der Analyse der bisherigen Wandlungsprozesse und des Status quo eine plausible Vorausschau auf die Chancen und Gefahren der zukünftigen Entwicklungen abzuleiten.

    In den vergangenen Jahren habe ich – gemeinsam mit meinen Teams – mehrere Studien über wichtige Zukunftsfragen produziert und publiziert. (Vertiefend dazu: Popp, 2012, 2016, 2020, 2022a und 2022b; Popp & Grundnig, 2021; Popp, Rieken & Sindelar, 2017.)

    Aus den umfangreichen Ergebnissen meiner Zukunfts- und Innovationsforschung präsentiere ich im vorliegenden Beitrag[1] einige Überlegungen in Form von sieben Zukunftsdiskursen, die sich mit humanen und sozialen Zukünften des Lebens in der High-Tech-Gesellschaft beschäftigen. Im Zukunftsdiskurs Nr. 6 konkretisiere ich diese prospektiven Überlegungen im Hinblick auf die Psychotherapie.  

    ZUKUNFTSDISKURS Nr. 1: Seit dem Beginn der Industrialisierung gibt es den sehr wirkmächtigen Trend zur Technisierung aller Lebensbereiche.

    Dabei geht es um eine Vielzahl und Vielfalt von Technologien, von mechanischen Maschinen über digitalisierte Systeme bis hin zur Biotechnologie. Dieser Prozess der Technisierung erzielte – und erzielt – eine ambivalente Wirkung:

    • Einerseits verdanken wir den vielzähligen und vielfältigen Maschinen und Technologieprodukten das heutige Niveau an Lebensstandard und Lebensqualität.
    • Andererseits erzeugt diese technische Dimension der Mechanisierung ebenso ein beachtliches Ausmaß an negativen Nebenwirkungen. Über die ökologischen Folgen hinaus sind mit dem historischen Prozess der Technisierung auch tief greifende gesellschaftliche, ökonomische und auch psychosoziale Wandlungsprozesse verbunden. So werden etwa in der Wirtschafts- und Arbeitswelt – in enger Verbindung mit dem Einsatz von vielfältigen High-Tech-Maschinen und mit Hilfe von modischen Begriffen wie „Agilität“ – Modelle der permanenten Innovation, Optimierung und Evaluierung forciert. Auch im Gesundheitswesen, im Bildungswesen sowie an den Universitäten und Hochschulen werden unterschiedlichen Ausprägungsformen dieser technikaffinen Optimierungskultur immer wichtiger.

    ZUKUNFTSDISKURS Nr. 2: Die Entwicklung unserer Arbeits- und Lebenswelt in der High-Tech-Gesellschaft

    Die für unser modernes Leben sehr stark prägende Dynamik der Digitalisierung ist nichts völlig Neues, sondern nur die jüngste Ausprägungsform des seit dem Beginn der so genannten Neuzeit laufenden, und seit dem Beginn der Industrialisierung erheblich verstärkten und beschleunigten Vorgangs der Technisierung, der zur Entwicklung unserer heutigen High-Tech-Gesellschaft führte.

    Meist münden Prognosen zur Zukunft der Technisierung und Digitalisierung in der Behauptung, dass der Beruf zukünftig für die Menschen weitgehend bedeutungslos werden wird, da anscheinend künstlich intelligente Maschinen den größten Teil der beruflichen Arbeit übernehmen. (Zur Problematik überzogener Technik-Prognosen: Kreutzer, 2015, S. 3 ff.) Der von vielen Menschen befürchtete Verlust einer beachtlichen Zahl von Arbeitsplätzen durch digitalisierte Maschinen und Roboter ist durchaus wahrscheinlich. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Denn gleichzeitig werden an anderen Stellen des Arbeitsmarkts neue Arbeitsplätze sowohl in der Produktion als auch in komplexeren Dienstleistungsberufen dazukommen. Dieser „Umbau“ des Arbeitsmarkts ist allerdings nicht erst in der Zukunft zu erwarten. Vielmehr  gab es vergleichbare Umbauprozesse bereits seit dem Beginn der Industrialisierung. Auch in den vergangenen Jahrzehnten wurden derartige technologisch bedingte Transformationsprozesse produktiv bewältigt, wenn man etwa an die gigantischen Jobverluste durch die Automatisierung in der Landwirtschaft oder durch die Digitalisierung in der Repro- und Druckbranche denkt. Übrigens läuft auch der Prozess der Digitalisierung bereits seit mindestens vier Jahrzehnten sehr intensiv. Deshalb ist der Begriff „digitale Revolution“ eigentlich falsch, und fördert jedenfalls die Zukunftsangst. Zutreffender wäre es, von „digitale Evolution“ zu sprechen. Die Reduktion der Zukunftsangst könnte auch durch die weitere wichtige Erkenntnis unterstützt werden, dass uns digitalisierte Maschinen nicht nur Arbeitsplätze wegnehmen, sondern auch lästige Arbeiten abnehmen.

    Die Zukunft der Arbeitswelt ist jedenfalls bunt, und nicht schwarz-weiß. (Vertiefend dazu: Popp, 2018; Popp & Reinhardt 2015 und 2019.)

    Auch zukünftig lassen sich die meisten großen Herausforderungen der Arbeitswelt nicht von Robotern mit Bits und Bytes bewältigen. Denn selbst technisch hoch entwickelte Roboter werden nicht unsere Kollegen sein. Vielmehr sind und bleiben sie Maschinen, auch wenn sie – wie im Fall von humanoiden Robotern – wie Menschen aussehen. In diesem Sinne wird die Arbeitswelt von morgen und übermorgen keineswegs nur durch die mathematische Rationalität von High-Tech-Maschinen funktionieren. Vielmehr wird ein wesentlicher Teil der Erfolgsstory eines Unternehmens auch zukünftig vor allem aus der kommunikativen Kompetenz, der Kompromissbereitschaft, der Kreativität und der kollegialen Kooperation von Menschen resultieren. Selbstverständlich können und sollen dabei High-Tech-Maschinen als Werkzeuge der Menschen wichtige Beiträge leisten. Unter diesem Gesichtspunkt sind Technisierung und Humanisierung keine Gegner!

    ZUKUNFTSDISKURS Nr. 3: Auch die Entwicklungsdynamik der Wissenschaft ist eng mit den Anforderungen der High-Tech-Gesellschaft verbunden.

    Bis weit in die 2. Hälfte des vergangenen 20. Jahrhunderts hinein gab es in der Welt der Wissenschaft noch eine klare Arbeitsteilung:

    • Die so genannten Geisteswissenschaften waren für das große Forschungsgebiet der psychischen, geistigen und kulturellen Aktivitäten des Menschen zuständig.
    • Die Zuständigkeit der Natur- und Technikwissenschaften war dagegen auf die Forschungsgebiete der Physik, der Chemie, der Biologie und auf die aus diesen Forschungsergebnissen abgeleiteten Technologien reduziert.

    Seit den 1960er Jahren kam dann das geisteswissenschaftliche Wissenschaftsverständnis – auch in den damals noch überwiegend geisteswissenschaftlich-hermeneutisch dominierten Disziplinen wie etwa der Pädagogik oder der Soziologie – durch die scharfe Kritik aus den Naturwissenschaften verstärkt unter Druck. Denn die naturwissenschaftlich fundierte Forschung galt – und gilt – als werturteilsfrei und objektiv, und die aus diesen Forschungsergebnissen abgeleiteten Verfahren erinnerten – und erinnern – an das effiziente Handeln von Ingenieur*innen; quasi nach dem Motto „Dem Ingenieur ist nichts zu schwör“. Dies gilt sinngemäß ebenso für die überwiegend natur- und technikwissenschaftlichen Schwerpunkte der großen staatlichen Forschungsprogramme und des überwiegenden Teils der Forschungsfinanzierung in Form der immer wichtiger gewordenen Drittmittelprojekte, bei denen geisteswissenschaftlich-hermeneutische Ansätze nur sehr selten eine nennenswerte Rolle spielen. Und dies gilt ebenso für den starken Trend zur karrierefördernden Veröffentlichung von wissenschaftlichen Beiträgen in überwiegend naturwissenschaftlich orientierten Online-Fachzeitschriften, den so genannten Open access-Journals, die von weltweit agierenden, großen und einflussreichen Verlagen publiziert werden. (Zu den Folgen dieser Entwicklungen für die Zukunft der Psychotherapie siehe: Popp, 2022 c.)

    ZUKUNFTSDISKURS Nr. 4: Kann künstliche Intelligenz die menschliche Intelligenz ersetzen? 

    Allzu häufig wird in den Zeitgeistmedien prognostiziert, dass künstlich intelligente Maschinen schon bald deutlich intelligenter sein werden als der Mensch. Diese Behauptung ist naiv! Die Psychologie und die Neurowissenschaft müssten – auch im massenmedialen Diskurs – dazu beitragen, dass die großen Unterschiede zwischen der künstlichen und der menschlichen Intelligenz von der Mehrheit der Menschen besser verstanden werden. Dabei müsste selbstverständlich auch neidlos anerkannt werden, was künstlich intelligente Maschinen besser können als der Mensch. Besser als der Mensch sind diese Maschinen bereits heute beim Speichern und Verknüpfen von gigantischen Datenmengen – und bei dem damit verbundenen Erkennen von wiederkehrenden Mustern. Deshalb gewinnen künstlich intelligente Maschinen gegen Menschen beim Schach oder bei Quizspielen. (Vertiefend – und allgemein verständlich – zu vielfältigen Aspekten der „künstlichen Intelligenz“: Keskintepe & Woschech, 2021).

    Wenn man allerdings unter „Intelligenz“ vor allem das in der langen Evolution des Homo Sapiens entwickelte hochkomplexe Gesamtkunstwerk der menschlichen Intelligenz – im Sinne eines weiten Intelligenzbegriffs – versteht, fällt der Vergleich zwischen Mensch und Maschine eindeutig aus. So gesehen ist die menschliche Intelligenz beim Verstehen, Planen und Gestalten von komplexen Zusammenhängen – im Zusammenspiel zwischen rationaler Analyse, sozialer Empathie, kreativer Innovation, kooperativem Handeln und ethisch fundierten Werturteilen – auch in sehr langfristiger Perspektive viel besser als die beste Maschine.  

    Denn selbst sehr hoch entwickelte digitalisierte Maschinen werden auch zukünftig nur sehr wenig von all dem können, was die menschliche Intelligenz ausmacht – und übrigens auch, was das menschliche Leben lebenswert macht. Roboter können nicht lieben und nicht streiten, haben keine Freunde, empfinden kein Mitgefühl, existieren jenseits von Erotik und Sexualität, haben keine Sehnsüchte und keine Träume, erleben weder die Pubertät noch die Altersweisheit, können weder gute Musik – egal ob von Mozart oder Madonna – noch gutes Essen oder guten Wein genießen, und selbstverständlich fehlt ihnen auch der Humor.  

    So gesehen ist es wohl auch in langfristiger Zukunft der beste Weg, komplexe Intelligenz auf dem Niveau des menschlichen Gehirns zu entwickeln, ein Kind zu zeugen, zu gebären, sowie mit viel emotionaler und sozialer menschlicher Intelligenz zu erziehen. Diese Aussage verdanke ich übrigens keineswegs einem technikfeindlichen Kritiker der Digitalisierung, sondern einem renommierten Experten für neuronale Netze, dem Informatik-Professor an der Exzellenzuniversität FU Berlin, Raul Rojas.

    Künstliche intelligente High-Tech-Maschinen können also die menschliche Intelligenz nicht ersetzen, jedoch – wie andere Maschinen auch – in vielen Lebensbereichen ergänzen. Mit diesem Hinweis auf die vielfältigen Beziehungen zwischen Menschen und Maschinen ist die Frage nach dem qualitätsvollen Leben in der High-Tech-Gesellschaft eng verbunden.

    Im ZUKUNFTSDISKURS Nr. 5 folgt nun noch ein kurzer Blick in das mächtigste Tal der Welt, also in das Silicon Valley, wo die zugespitzte Variante der Entwicklung von Zukunftstechnologien in der Vision der Produktion von sich selbst permanent verbessernden und sich selbst reparierenden sowie ewig lebenden High-Tech-Übermenschen besteht.

    Im medialen Diskurs über die zukünftige Mensch-Technik-Beziehung sind die Visionen des Transhumanismus besonders beliebt. Der Bedeutungszuwachs der transhumanistischen Zukunftsvisionen (Bostrom, 2018) hängt nicht zuletzt mit der Strahlkraft der von großen Technologiekonzernen unterstützten „Singularity University“ im mächtigsten Tal der Welt, also im Silicon Valley, zusammen. Für diejenigen, die sich mit dieser Zukunftsvision bisher noch nicht beschäftigt haben, möchte ich das Menschenbild und Weltbild des „Transhumanismus“ kurz skizzieren:

    Kurz- bis mittelfristig geht es dabei um Human Enhancement, also um die Steigerung der menschlichen Fähigkeiten durch leistungsfördernde Psychopharmaka und Implantate, um pharmakologische und chirurgische Antiaging-Verfahren, um gentechnische Eingriffe sowie insgesamt um die signifikante Verlängerung des Lebens.  

    Langfristig wird vom Transhumanismus die radikale Optimierung sowohl der physischen und psychischen Existenz des Menschen als auch des menschlichen Zusammenlebens durch eine sich selbst kontinuierlich weiterentwickelnde, informations-, neuro-, bio- und gentechnisch „verbesserte“ künstliche Superintelligenz angestrebt.

    Letztendlich soll durch eine perfekt ausgestaltete Verbindung von Mensch und Technik eine neue Spezies von extrem intelligenten, sich permanent selbst optimierenden und reparierenden High-Tech-Übermenschen geschaffen werden.

    Den Zeitpunkt, zu dem diese Entwicklung unumkehrbar realisiert wird, bezeichnen die Transhumanist*innen als „Singularity“. In weiterer Folge sollen diese immer intelligenter werdenden, mit einem eigenen „Maschinenbewusstsein“ (Otte, 2021) ausgestatteten sowie sich selbst permanent optimierenden und reparierenden übermenschlichen Lebewesen sogar den Tod besiegen können. Dass dieser neue Menschentypus ewig leben wird, glaubt z. B. Ray Kurzweil, der Chefingenieur von Google (Kurzweil, 2014; 2016.) (Vertiefend und kritisch: Anders, 2002; Becker, 2015; Ji Sun & Kabus, 2013; Krüger, 2004; Liessmann, 2016; Loh, 2023; Puzio, 2022; Spreen, Flessner, Hurka & Rüster, 2018; Straub 2019.)

    Bei diesen transhumanistischen bzw. sogar posthumanistischen Visionen spielt die Vernetzung des Gehirns mit informationstechnischen Systemen eine besonders wichtige Rolle. Im Hinblick auf dieses Ziel wird etwa in dem u. a. von der EU geförderten Forschungsprogramm „Human Brain Project“ an der neurotechnischen Simulation, also quasi am technischen Nachbau des menschlichen Gehirns gearbeitet. In diesem milliardenschweren Großprojekt kooperieren mehr als einhundert europäische und internationale Universitätsinstitute und Firmen.

    Bislang kommt die kritische Auseinandersetzung mit der Technikphilosophie des „Transhumanismus“ in allen Wissenschaften viel zu kurz!

    Aus transhumanistischer Sicht wird durch die globale Vernetzung dieser neuen und superintelligenten High-Tech-Menschen auch die perfekte Steuerung der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse gelingen. Ebenso prognostiziert der Transhumanismus die technische Beherrschung aller ökologischen Risiken und Naturkatastrophen.

    Genauer betrachtet ist die Realisierung der transhumanistischen Zukunftsbilder einer ausschließlich technologischen Rettung der Welt und der Menschheit nicht sehr plausibel. Aber die technokratischen Zukunftsbilder des Transhumanismus werden nach allen Regeln des modernen Marketings und mit Hilfe der gigantischen Werbebudgets von High Tech- Unternehmen massenmedial sehr erfolgreich verbreitet. Und diese Werbung wirkt. Offensichtlich sind viele transhumanistische Ideen sehr wirkmächtig. Denn immer mehr Menschen halten die technische Lösung fast aller Herausforderungen der menschlichen Existenz – einschließlich der technischen Lösung der großen ökologischen Herausforderungen – für  plausibel. Kein Wunder, dass das so genannte „Climate Engineering“ zu den großen Wachstumssegmenten in den Technikwissenschaften zählt. (Ausführlich dazu: Fernow, 2014.)

    Die narrativen Muster derartiger Zukunftsbilder erinnern an Szenen aus Science-Fiction-Büchern bzw. -Filmen (Popp, 2019) und die phantastischen Erzählungen von zukünftigen High-Tech-Übermenschen ähneln den alten Träumen von mechanischen Menschen (Coenen, 2015).

    Möglicherweise hat dieser Glaube an die Allmacht der Technik auch damit zu tun, dass man sich durch die Erwartung der technischen Problemlösungen eigene Anstrengungen für Veränderungen ersparen kann.

    ZUKUNFTSDISKURS Nr. 6: Kommt zukünftig der Ersatz von menschlichen Psychotherapeut*innen durch High-Tech-Therapie-Roboter?

    Wie in anderen Segmenten der Arbeitswelt wird auch im Bereich der Gesundheitsberufe versucht, die professionellen Abläufe effizienter zu gestalten und menschliche Dienstleistungen durch den Einsatz von Maschinen zu ersetzen, oder zumindest zu ergänzen. Dies gelang – und gelingt – in mehreren Segmenten des Gesundheitswesens sehr erfolgreich und mit großem Nutzen für die Patient*innen, z. B. in der Labortechnik, in der Radiologie, in der durch Operationsroboter unterstützten Chirurgie sowie im Hinblick auf die biotechnische Potenz der vielfältigen Produkte der Pharmaindustrie.

    Weniger erfolgreich war bisher der Ersatz von Menschen durch High-Tech-Maschinen im Bereich der Pflege. In der Corona-Krise war etwa von den Pflegerobotern, die seit vielen Jahren in den technikverliebten Marketingmeldungen der großen Technologiekonzerne lautstark bejubelt wurden, bekanntlich nichts zu sehen.

    Ebenso wenig wie in der Pflege gelang bisher der Ersatz der menschlichen Therapeut*innen durch künstlich intelligente Maschinen in der Psychotherapie. Ein diesbezügliches technofuturistisches Zukunftsbild wird von manchen Zeitgeistmedien mit spektakulär klingenden Überschriften wie etwa „Hilfe per Mausklick“ oder „Die virtuelle Couch“ suggeriert. (Streitbare Thesen zur Technisierung und Digitalisierung aus psychoanalytischer Sicht finden sich in: Frick, Hamburger & Maasen, 2019.) Die Gründe für den bisher erfolglosen Ersatz von Psychotherapeut*innen durch High-Tech-Therapiemaschinen liegen bekanntlich in der Komplexität der zwischenmenschlichen Beziehungsarbeit. Es spricht nichts dafür, dass sich dies in langfristiger Perspektive ändern wird.

    Digitale Systeme werden jedoch die Arbeit von menschlichen Therapeut*innen zukünftig öfter als heute ergänzen, etwa im Bereich der – bereits in der Phase der Corona-Lockdowns sehr nützlichen – psychosozialen Online-Beratung und -Psychotherapie (Eichenberg, 2021; Eichenberg et al., 2022; Leuckhard, Heider, Reboly, Franzen, & Eichenberg, 2021; Sindelar, 2020), in der psychologischen Diagnostik, in Form der psychologisch-pädagogischen Nutzung von Serious Games und virtuellen Planspielen oder auch im verstärkten Einsatz von Robotern als Kommunikationspartner in der stationären und ambulanten psychosozialen Betreuung und Begleitung psychisch bzw. geistig beeinträchtigter Menschen. In diesem Zusammenhang wurde z. B. bereits die künstliche Babyrobbe „Paro“, eine Art Kuschel-Roboter – u. a. zur Befriedigung des Zärtlichkeitsbedürfnisses – entwickelt, wobei diese Entwicklung von manchen Expert*innen sehr kritisch gesehen wird.

    Abgesehen von der Ergänzung und Unterstützung der therapeutischen Arbeit durch High-Tech-Maschinen werden die psychosozialen Folgen der Digitalisierung zukünftig immer öfter zum Thema – oder sogar zum Anlass – der psychotherapeutischen Arbeit werden, z. B. im Zusammenhang mit Cyber-Mobbing oder in den vermehrten Fällen von Internet- und Computerspielsucht.

    ZUKUNFTSDISKURS Nr. 7: Technologischer Humanismus. Die mitmenschliche Alternative zum Transhumanismus.

    Das Konzept des „Technologischen Humanismus“ empfiehlt sich als mitmenschliche Konkurrenz zum transhumanistischen Programm der technischen Lösung aller Probleme. Der von mir favorisierte Begriff „Technologischer Humanismus“ geht auf den vom Münchener Philosophieprofessor Julian Nida-Rümelin und von der Wissenschaftsjournalistin Nathalie Weidenfeld geprägten Begriff des „digitalen Humanismus“ zurück. (Nida-Rümelin & Weidenfeld, 2018.) Nach diesem humanistischen Verständnis der Mensch-Maschine-Beziehung kommen die Technisierung und die Digitalisierung keineswegs alternativlos auf uns zu! Der Technologische Humanismus ist selbstverständlich nicht technikfeindlich, sondern definiert die Funktionen von High-Tech-Maschinen als Werkzeuge des Menschen im Hinblick auf humane, soziale und demokratische Zukünfte.

    Das Programm des Technologischen Humanismus wendet sich übrigens nicht nur gegen den bereits kurz skizzierten Transhumanismus, bei dem die Steuerung und Kontrolle von Menschen sowie der Gesellschaft und der Wirtschaft von global agierenden Technologieunternehmen übernommen wird. Vielmehr versteht sich der Technologische Humanismus ebenso als Alternative zum technologischen Totalitarismus, der aktuell am effektivsten in China in Form der allumfassenden technisch unterstützten Steuerung und Kontrolle aller Lebensbereiche durch den allmächtigen Staat erprobt wird.

    Im Gegensatz zum Transhumanismus kann und will der Technologische Humanismus die technische Lösung fast aller bio-psycho-sozialen, gesellschaftlichen, ökonomischen und ökologischen Herausforderungen nicht versprechen. Denn dieses Konzept geht von der Unzulänglichkeit aller Individuen und Institutionen, von der Vielfalt der Sichtweisen, von den Mühen demokratischer Diskurse und Kompromisse sowie von rechtsstaatlichen Konfliktlösungen aus. Die Bewältigung der damit verbundenen Probleme obliegt dem Menschen und seinen zivilgesellschaftlichen sowie politisch-administrativen Institutionen. Technologien aller Art können und sollen diese menschliche Lösungskompetenz selbstverständlich unterstützen. In diesem Sinne ist das zukunftweisende Konzept des Technologischen Humanismus unverzichtbar mit der Gesundheit, der Lebensqualität und dem sozialen Zusammenhalt unter den Bedingungen der High-Tech-Gesellschaft verbunden; ganz im Sinne des Slogans: High-Tech – aber mit dem Menschen im Mittelpunkt!


    Literatur

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    Spreen, D., Flessner, B., Hurka, H. M. & Rüster, J. (Hrsg.) (2018). Kritik des Transhumanismus: Über eine Ideologie der Optimierungsgesellschaft. Bielefeld: Transcript.

    Straub, J. (2019). Das optimierte Selbst: Kompetenzimperative und Steigerungstechnologien in der Optimierungsgesellschaft. Ausgewählte Schriften. Gießen: Psychosozial-Verlag.


    [1] Für den vorliegenden Beitrag wurden Textbausteine aus Popp, 2018, 2020, 2022a, 2022c, 2022d und Popp & Grundnig, 2021 verwendet.