Was interessiert Dichter die Wahrheit ...

Zum Aphorismus 84 der Fröhlichen Wissenschaft und seinen Kontexten.

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    Wahrheit will keine Götter neben sich.
    (Friedrich Nietzsche, Menschlich-Allzumenschliches II)

    Dichterwort ist Lügenwort.
    (Deutsches Sprichwort)

    Kunst ist eine wahre Lüge.
    (Jean Cocteau)

    Kunst ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein.
    (Theodor W. Adorno)

    I
    Der Aphorismus 84 der Fröhlichen Wissenschaft mit dem Titel Vom Ursprung der Poesie ist ein Schlüsseltext für Nietzsches Bestimmung der Poesie und ihrer Bedeutung für das Selbstverständnis der Poeten. Er führt die Erkenntnisse aus Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne weiter, nimmt die aus Menschliches, Allzumenschliches kritisch auf, leitet hin zu den späteren Überlegungen in der Genealogie der Moral und im Dionysos- Dithyrambus Nur Narr! Nur Dichter! und gibt Fingerzeige für die notwendige historische Kontextualisierung des Themas, um dem Dilemma bisheriger philosophisch-ästhetischer Zurechtlegungen zu entgehen. Er ist eine Expedition in die Tiefenschichten der poetischen Wahrheit, in jene Sphären, wo die Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge unscharf werden und jede Ästhetik, die sich auf deren normative Differenz kapriziert, in ebenso angestrengte wie fehlschlagende Definitionsversuche ausweichen muss. Prominente Beispiele von der Antike bis in die beginnende Moderne geben Proben aufs Exempel.1

    Für seine Auffassung konstitutiv, stellt Nietzsche die Frage nach der poetischen Wahrheit resp. der poetischen Lüge in den Kontext kulturgeschichtlicher Überlegungen. Dabei geht er soweit, hinterlistig-ironisch den Herren Utilitariern Recht zu geben und sie gegen die weltfremden Liebhaber einer jenseits aller Nützlichkeit verstandenen Poesie zu verteidigen. Spektakulär ist dies nicht, ein Novum in der Kulturgeschichtsschreibung auch nicht.

    Aber für Nietzsche geben sie den Hintergrund einer grundlegenden Besichtigung kulturgeschichtlicher Zusammenhänge, aus denen die durch nichts zu ersetzende Bedeutung der Poesie – ihr solitärer Wert – für die menschliche Zivilisation und Kultur zu begründen und transparent zu machen ist. Um dann Schritt für Schritt den Gedanken von der Kraft der poetischen Lüge als großartiger Kulturleistung und die Dichter als deren Leistungsträger einer Ästhetik zu unterlegen, die die Differenz von Wahrheit und Lüge – jedenfalls für die Kunst (Poesie) – als gegenstandslos zu den philosophischen Akt legt. Dem ironischen Fazit des Aphorismus gilt daher alles Interesse:

    Ist es nicht eine sehr lustige Sache, dass immer noch die ernstesten Philosophen, so streng sie es sonst mit aller Gewissheit nehmen, sich auf Dichtersprüche berufen, um ihren Gedanken Kraft und Glaubwürdigkeit zu geben? – und doch ist es für die Wahrheit gefährlicher, wenn der Dichter ihr zustimmt, als wenn er ihr widerspricht! Denn wie Homer sagt: „Viel ja lügen die Sänger!“ (FW Aph. 84, KSA 3, S. 442).

    Dazu aber ist Kontextualisierung vonnöten, von der Antike, bis zur Zeitgenossenschaft.

    II
    Schon die Orphiker und Vorsokratiker wussten um die Bedeutung der Poesie. Spätestens aber seit den Sophisten und Sokrates/Platon weiß man um den Nutzen der Poesie, um ihre Relevanz – kraft ihres Rhythmus, d. h. ihrer internen Sprachstruktur – für die effiziente Organisation von Arbeitsabläufen und kennt sie als kulturelle Technik des sozialen Zusammenlebens. Der Mythos und die Gesänge davor haben ganz auf die Magie des Rhythmus gesetzt. Sokrates hat ohnehin allem Schönen und Wahren einen hohen Grad an Nutzen zugewiesen. Platon kannte nur zu gut die Wirkung dramatisch-rhythmisierter Sprache und ehrte sie in verkehrender Würdigung ihrer kulturellen Kraft. Und die Sophisten zogen die Gewalt poetischer Sprache, ihre Manipulierungskraft als besondere techné erfolgreich und folgenreich ins theoretische und praktische Kalkül. Sie gaben damit unbeabsichtigt den Auftakt zu einem Poesieverständnis, das nicht nur von der Notwendigkeit entband, sie in Differenz und als das Andere der Philosophie zu begreifen, sondern in der Poesie ein besonderes Kraftfeld zu sehen, eine Art Psychopharmakon, um auf die Seelen der Menschen einzuwirken, sie als Manipulationstechnik zu nutzen, um Interessen zu lancieren, Machtinteressen und Wertvorstellungen zu vermitteln. Die Gesetze und die Macht der poetischen Sprache zu beherrschen und zu affirmativen Zwecken einzusetzen: Gorgias hat diese Kunst am meisterlichen beherrscht und theoretisch begründet.2

    Im Spannungsfeld dieser Denktraditionen siedelt Nietzsches Aphorismus. Daher lohnt ein Blick auf sie. Nietzsche fokussiert sein Plädoyer für die Nützlichkeit der Poesie vorrangig auf das, was er als „abergläubische Nützlichkeit“ (Ebd., S. 440) bezeichnet. Und subsumiert darunter auch jenen Gebrauch, der eher profanen Tätigkeiten und Bereichen zuzuordnen ist, so das Wasserschöpfen und der Rudertakt, die Heilkraft, die Entspannung, die Unterhaltung, die Streitschlichtung, die Weissagungen, die Erziehung. Warum? Weil er auch in diesen Bereichen ein für die antike Kultur grundlegendes kultisches Moment sieht: die Besänftigung göttlicher Mächte und die Günstig-Stimmung dämonischer Kräfte, um sie den Menschen willfährig zu machen, damit sie menschliche Werkzeuge werden: „jede Handlung ist an die Beihülfe von Geistern geknüpft: Zauberlied und Besprechung scheinen die Urgestalt der Poesie zu sein“ (Ebd., S. 441).3 In der Hauptsache aber ist sie religiös ausgerichtet, auf das Verhältnis des Menschen zu seinen Göttern hin orientiert:

    Es sollte vermöge des Rhythmus den Göttern ein menschliches Anliegen tiefer eingeprägt werden, nachdem man bemerkt hatte, dass der Mensch einen Vers besser im Gedächtniss behält, als eine ungebundene Rede [...] das rhythmisirte Gebet schien den Göttern näher anʼs Ohr zu kommen. Vor Allem aber wollte man den Nutzen von jener elementaren Ueberwältigung haben, welche der Mensch an sich beim Hören der Musik erfährt: der Rhythmus ist ein Zwang; er erzeugt eine unüberwindliche Lust, nachzugeben, mit einzustimmen; nicht nur der Schritt der Füsse, auch die Seele selber geht dem Tacte nach, – wahrscheinlich, so schloss man, auch die Seele der Götter! Man versuchte sie also durch den Rhythmus zu zwingen und eine Gewalt über sie auszuüben: man warf ihnen die Poesie wie eine magische Schlinge um (Ebd., 440).

    Sogar in Delphi setzte man auf diese Magie: „man glaubt die Zukunft erzwingen zu können dadurch, dass man Apollo für sich gewinnt“ (Ebd., S. 441).4 Oder zu gewinnen glauben will.

    Dazu bedient man sich einer rhythmischen Sprache, denn: „So wie die Formel ausgesprochen wird, buchstäblich und rhythmisch genau, so bindet sie die Zukunft: die Formel aber ist die Erfindung Apolloʼs, welcher als Gott der Rhythmen auch die Göttinnen des Schicksals binden kann“ (Ebd., S. 441 f.). So jedenfalls an dieser Stelle in Nietzsches Interpretation. In anderen Zusammenhängen hat er stärker auf die von Apollo ausgehende Wirkung und Macht des Scheins Wert gelegt.

    Die magische Kraft des Rhythmus begründet die ungeheure Macht des Menschen über sich, über andere und über anderes; mit ihr und durch sie gelingt eine Erfolgsgeschichte, die ihn in ein beispielloses Selbstbewusstsein treibt und eine Selbstgewissheit als obersten Kulturwert ausbilden lässt, die – jedenfalls für die Antike – im protagoräischen Homo-mensura- Satz ihre superlativische Formulierung erhalten.

    Mit der rhythmischen Sprache, so Nietzsche, konnte man Alles: eine Arbeit magisch fördern; einen Gott nöthigen, zu erscheinen, nahe zu sein, zuzuhören; die Zukunft sich nach seinem Willen zurecht machen; die eigene Seele von irgend einem Uebermaasse (der Angst, der Manie, des Mitleids, der Rachsucht) entladen, und nicht nur die eigene Seele, sondern auch die des bösesten Dämons – ohne den Vers war man Nichts, durch den Vers wurde man beinahe ein Gott (Ebd., S. 442).5

    Und zum Maß aller Dinge. Wie könnte Kulturgeschichte in nuce samt der inhärenten Beschreibung der Poesie in ihr genauer zusammengefasst sein? Die Dichter, diejenigen, die den Rhythmus der Sprache zu artikulieren wissen – hier noch historisch früh mit den Priestern in Personalunion – sind in Nietzsches Überlegungen, wenn auch unausgesprochen immer präsent. Als Mittler göttlichen Wortes, als Sprachschöpfer, als Wahrheitsverkünder.

    III
    Der Sophist Gorgias hat das Wissen um die Wirkung des dichterischen Wortes, der Poesie, der poetischen Rede mit seinen Überlegungen zu ihrer internen Struktur verbunden. Nicht nur seine berühmten Redefiguren sind deren Resultat, vor allem seine vielfältigen Bezugnahmen auf Pindar geben Anlass, auf seine hohe Wertschätzung der Poesie zu schließen und seine Rhetorik auch als eine Rechtfertigung der dichterischen Sprache anzusehen. Und den Poeten selbst und selber als Poet das Wort zu reden. Pindars Vorgängerschaft und Vorbildlichkeit lag dabei für ihn u. a. darin, dass dieser der poetischen Rede eine besondere Realität zugemessen und den Dichter als deren Schöpfer angesehen habe.6 Man kennt Nietzsches große Affinität zu dem antiken Hymnen-Dichter, dem syntaktischen Bau und dem Wortmaterial seiner Hymnen, die er in der Geburt der Tragödie ausdrücklich in Differenz zu Homer und als eine der beiden großen Strömungen der antiken Dichtung gesehen hat:

    es wird Einem dabei handgreiflich deutlich, dass zwischen Homer und Pindar die orgiastischen Flötenweisen des Olympus erklungen sein müssen, die noch im Zeitalter des Aristoteles [...] zu trunkner Begeisterung hinrissen und gewiss in ihrer ursprünglichen Wirkung alle dichterischen Ausdrucksmittel der gleichzeitigen Menschen zur Nachahmung aufgereizt haben (Vgl. GT 6, KSA 1, S. 49).7

    Alles ist in Sprache eingeschlossen, alles wird, alles kann, alles muss Sprache, Rede, Dichtung werden, um im Gedächtnis zu bleiben und/oder um real zu sein und es auf besondere Weise zu bleiben. Pindar sieht die Realität der intendierten Redeinhalte – der „heiligen Gesänge“ wie es bei ihm heißt – als einen Sprachraum, den der Sänger/Dichter als „schmucken, tönenden Bau aus Worten mauer[t]“8 und der zur Preisung dessen und derer geschaffen ist, das und die es zu preisen gilt und die dies verdienen. Ereignisse, Taten, Menschen erhalten in der Sphäre der poetischen Rede erst eine Realität, die kommunizierbar ist und einen Wirklichkeitsstatus, der ihre Außerordentlichkeit als definitiv und als ästhetisches Phänomen inauguriert.9

    Es ist die besondere sprachliche Struktur, ihre allein auf sich bezogene Gesetzlichkeit, ihre Selbstreferentialität, die es erlaubt, ihren Status als einen nicht an der Realität des Wirklichen zu messenden zu behaupten. So sagt es Gorgias von der meisterlichen Rede, sie sei „nach den Regeln der Kunst verfaßt, nicht mit Blick auf Wahrheit gesprochen“10: deshalb verbiete sich auch jede direkte Parallelführung zu wirklichen Ereignissen. Vielmehr erscheinen in der Sprache/Rede die vorgeführten Handlungen stets gewollt und wohl kalkuliert als inszenierte Vorführungen, durch die der Redner/Poet einen sinnlich vermittelten Zugang in eine Wortwelt eröffnet, die ihrerseits wiederum die Lautgestalt und den Sinngehalt quasi per definitionem in einem wechselseitigen Spannungsbezug halten, der einzig durch die und in der Struktur der besonderen Sprache existent ist. In der Rede eine Welt zu entfalten, die nichts als Rede, d. h. nichts als ein fiktiver Raum sprachlicher Konfigurationen ist, dabei und darin kann und braucht die Wahrheit kein konstitutives Kriterium zu sein. Und wenn doch, dann in erster Linie eine besondere, auf die Redewelt bezogene Wahrheit.

    Das Problem von Wahrheit oder Lüge stellt sich erst, wenn der Redner/Dichter selbst ins Blickfeld kommt. Gorgias sieht ihn als Sprach- und Formbildner, nicht allein als Herr über die vielfältigen Gesetze der Semantik und Grammatik, sondern auch als denjenigen, der es deshalb vermag, auf die Seelen seiner Zuhörer einzuwirken, nach Maßgabe seines Wollens und seiner Zielstellungen. Ihm allein kommt es zu, die Inhalte seiner Rede festzulegen und die Art und Weise, in der er sie erzählt: „Der Gestaltungslust des Formbildners entspricht auf der anderen Seite der Lustgewinn des Zuhörers“11, ein Kommunikationsmodus, dem dessen ästhetische Eigenwertigkeit sein wesentliches Bestimmungsmerkmal ist. Dass der Sprache dabei sui generis eine hohe Fiktivitätskraft eignet, die Nietzsche später als deren Metaphorizität bestimmen wird12, dieses Wissen problematisiert bereits bei Gorgias die Bestimmung der Wahrheit für eine gelungene Rede und suspendiert ihre ausschließliche Akzeptanz zugunsten einer wahrheitsneutralen Fiktionalität und ästhetisch zu begründenden Wahrscheinlichkeit. Dabei erhält ihre fiktive Dimension einen Selbstverständlichkeitsanspruch, nach dem Fiktionen kaum noch als solche kenntlich sein müssen, sondern: ihr Erfolg beruht auf ihrer eigenwertigen Struktur und der daraus resultierenden Intensität der Wirkungsabsicht und vor allem des Wirkungsvollzugs. Ein etwaiger Wahrheitsanspruch verliert unter diesem Dominanzzeichen jegliche Priorität. Im Akt des Sprechens, in dem Rede werdenden Ausdruck der Welt, liegt die Macht dessen, der die Sprache so organisieren kann, dass sie ihm zu einem Werkzeug seines Wollens wird. Darum benutzt Gorgias für die Rede/Dichtung nicht nur das Wort von der seelebekehrenden ‚Bewirkerin‘, sondern verbindet dies mit der Aufzählung ihrer Wirkungsvielfalt: die Täuschung, die Überwältigung oder die Gewalt, neben der Leidabwehr, der Besänftigung oder der Freude.13 Und er warnt ausdrücklich vor ihrem Missbrauch. Dem Redner/Poeten obliegt es, wozu die Rede/Poesie ein Mittel sein soll.

    Das Stichwort von der Täuschung führt zum genuinen Problem aller Dichtung, aller Dichter. Nietzsche weiß warum, wenn er davon spricht, dass alle Kunst, einschließlich der Poesie, von ihrem Wesen her eine Täuschung sei und ihr nichts anderes gelte, als der apollinische Schein, d.h. eine apollinische, edle, wonnevolle Täuschung zu sein (Vgl. GT 21, KSA 1, S. 136 f.). „Täuschung und Überwältigung“, solche, die dem „Genießenden“ als lustvoll erscheinen (NL 11[51], KSA 9, S. 460), korrespondieren einander dabei und geben in ihrem Zusammenhalt den Grund für ihre Wirkung. Und für die Macht der Dichter.

    Dabei hat der Disput über die Täuschung in der und durch die Dichter historische Dimensionen mindestens von Aristoteles bis Lessing. Nietzsche bildet eher eine abschließende Stimme; seine Position ist der Moderne und vor allem der Postmoderne selbstverständlich, wenngleich auch manchmal missverstanden. Wenn Nietzsche vom „heilkundigen Zauber des Apollo“ spricht, dann meint er die Heilung zu einem lebensnotwendigen „Wahne“ hin (GT 21, KSA 1, S. 137), da hat er vor allem die kulturelle Bedeutung der künstlerischen, der dichterischen Täuschung im Blick. Nicht ohne einen herben Seitenhieb auf die unrühmliche Rolle des Christentums. Wo für ihn „Schein, Kunst, Täuschung, Optik, Notwendigkeit des Perspektivischen und des Irrthums“ zum Leben gehören, dort verweise das Christentum „jede Kunst inʼs Reich der Lüge“ (GT, Versuch einer Selbstkritik 5, KSA 1, S. 18). Dagegen sei die Inthronisierung der Täuschung als einer Kategorie der Ästhetik und der Form des allgemeinen Lebensvollzuges philosophisch wie kulturell nicht hintergehbar. In der Allgemeingültigkeit des Täuschens durch die Poesie liegt das Potential der und ihrer Wahrscheinlichkeit und der Kommunikationsfähigkeit ihrer Aussagen.14 Es geht nicht um eine empirische Überprüfbarkeit oder eine sinnliche Wahrnehmbarkeit, nicht um die kognitiven Verweisungen ihrer Kriterien, sondern es geht um ihre Bedeutungszuweisungen, um ihre Symbolwerte, um ihren Zeichencharakter, um ihre semiotische Dimension, um die Deutung durch die Rede kraft ihrer ästhetischen Ordnung. Wie bereits Gorgias es formuliert haben soll.15 Und Nietzsche macht es notorisch und zum ästhetischen Grundsatz.

    „Die Sphäre der Poesie“, lässt er sich vernehmen,
    liegt nicht ausserhalb der Welt, als eine phantastische Unmöglichkeit eines Dichterhirns: sie will das gerade Gegentheil sein, der ungeschminkte Ausdruck der Wahrheit und muss eben deshalb den lügenhaften Aufputz jener vermeintlichen Wirklichkeit des Culturmenschen von sich werfen (GT 8, KSA 1, S. 58).

    Wahrheit, Täuschung, Lüge in einem denkerischen Atemzug? Warum nicht. Dies ist von Nietzsche polemisch formuliert. Die Attribute sind verräterisch und helfen weiter. ‚Lügenhaft‘ und ‚vermeintlich‘: Sie entlarven die Substantive, die sie unterstützen. Der Kulturmensch der Moderne hat sich eine Wirklichkeit zurechtgedacht, zurechtgemacht, die mit dem, was als wirklich zu bezeichnen wäre, nichts zu tun hat, da sie auf einem Fundament basiert, das ohne jede Standkraft ist. Ein Lügengebäude in dem Sinne, dass es keine Wahrheit gibt, die sich nicht durch ihre Anführungszeichen definieren lässt und ohne die sie unweigerlich der Lüge zugeschlagen werden müsste: „Die ‚wahre Welt‘ – [...] eine überflüssig gewordene Idee, folglich eine widerlegte Idee [...] mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!“ (GD Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde, KSA 6, S. 81). Sie ist zur Fabel geworden. ‚Scheinbar‘ und ‚vermeintlich‘ korrespondieren unmittelbar miteinander. Was bleibt, ist Interpretation.16 Die Wahrheit besitzt eine ästhetische Bezüglichkeit, ohne die jede Dichtung ein bloßes Skandalon wäre. Die dichterische Wahrheit nicht nur perspektivisch, sondern ein Produkt des individuellen Schaffens, eine subjektive Weltauslegung und daher quasi jedem Wahrheitsanspruch gegenüber, die Wirklichkeit adäquat abzubilden, per definitionem obsolet und gegenstandslos:

    Die Wahrheit ist [...] nicht etwas, was da wäre und was aufzufinden, zu entdecken wäre, – sondern etwas, das zu schaffen ist und das den Namen für einen Prozeß abgiebt [...], der an sich kein Ende hat: Wahrheit hineinlegen, als ein processus in infinitum, ein aktives Bestimmen , nicht ein Bewußtwerden von etwas, <das> ‚an sich‘ fest und bestimmt wäre (NL 9[91], KSA 12, S. 385).

    Vielmehr ist die „Welt, die uns etwas angeht [...] eine Ausdichtung und Rundung über einer mageren Summe von Beobachtungen [...] eine sich immer neu verschiebende Falschheit, die sich niemals der Wahrheit nähert: denn – es gibt keine ‚Wahrheit‘“ (NL 2[108], KSA 12, S. 114). Demnach könnte im Sinne Nietzsches vor allem die dichterische Wahrheit als die Transformation individueller Erfahrungen in die Sphäre der Sprache und ihrer Gesetze verstanden werden.17 So wäre ihr Gegensatz eher als (Be-)Trug, denn als Falschheit oder Lüge zu apostrophieren. Die antike Mythologie wusste dies. Des Sängers Lied ist Trug, wenn auch ein göttlicher. Darin aber besteht seine besondere Funktionalität. Weil der Dichter sich durch eine ausdrückliche Rückwendung in die Vergangenheit auszeichne und er diese in seinem und durch sein Lied wieder vergegenwärtigt, entdeckt er sie neu, erfindet sie, gibt ihr in seiner Sprache eine Wirklichkeit, die sie nie hatte und in der sie paradox gerade eine Als-ob-Realität erhalte, die Trug und Widertrug in einem ist.18

    Die Lüge ist die bewusste Täuschung anderer ohne Rücksicht auf deren Interessen und Befindlichkeiten, gegen diese sogar meistens mit Vorsatz formuliert. Ihre Ambivalenz liegt daher im Ermessensspielraum dessen, der sie vorträgt. Im Akt ihrer Kommunikation erst wird sie zu einem Instrument der ihr vom Dichter intendierten Absichten. Für die poetische Lüge zeichnet allein dieser verantwortlich. Aber um den Preis seines Dichterseins hat er keine andere Wahl. Gorgias zeichnet ihn dafür aus:

    Er biete die Täuschungen, bei der [...] derjenige, der täuscht, mehr Recht hat als der, der nicht täuscht, und der Getäuschte andererseits mehr versteht als der, der nicht getäuscht wird. Wer täuscht, hat nämlich mehr Recht, weil er ausgeführt hat, was er versprach; der Getäuschte aber versteht mehr: denn schön läßt sich hinreißen von der Lust der Worte, was nicht empfindungslos ist.19

    Nietzsche sagt es so: Die Fähigkeit zu lügen und sich zu verstellen am längsten entwickelt: Gefühl der Sicherheit und der geistigen Überlegenheit dabei beim Täuschenden. Bewunderung des Zuhörers, zu wissen, daß es Täuschung ist und daß diese gefährliche Kunst nicht zu seinem Schaden geübt wird (NL 25[386], KSA 11, S. 113).

    IV.
    Als Hesiod von den Musen durch Initiation zum Sänger erhoben wird, geben sie ihm zu verstehen, dass sie den Trug (auch wenn er wie Wirklichkeit klingt) oder die Wahrheit nach Lust und Laune verkünden. Sie verpflichten ihn, sie und alle Götter des Olymps (unter Androhung oder Vollzug des Entzuges der göttlichen Gabe20) zu preisen, Vergangenes und Künftiges zu verkünden und zu singen, was sie ihm eingeben.21 In freier Wiedergabe zitiert Nietzsche Hesiods Verse aus der Theogonie im Aph. 188 der Vermischten Meinungen und Sprüche, um daraus einen wesentlichen Schluss zu ziehen: „Die Musen als Lügnerinnen. – ‚Wir verstehen uns darauf, viele Lügen zu sagen‘ – so sangen einstmals die Musen als sie sich vor Hesiod offenbarten. – Es führt zu wesentlichen Entdeckungen, wenn man den Künstler einmal als Betrüger fasst“ (VM 188, KSA 2, S. 462). Künstler/Dichter als Betrüger also. Als das „Mundstück der Götter“ (VM 176, KSA 2, S. 455) versteht sich der Dichter vor allem in frühen Kulturen und die Inhalte seiner Gesänge als göttliche Eingebungen, und er vergisst ihre tatsächlichen Ursprünge. Eine zwiespältige Position für den Sänger/Dichter nach göttlichem Willen. Die göttliche Heraushebung und die göttliche Dienstleistung, die vermeintliche Souveränität und die reale Abhängigkeit, die Übermittlung göttlicher (fremder) Ansichten und die eigene Interpretation:

    [...] in der Umwölkung des Schaffens, vergisst der Dichter selber, wo er alle seine geistige Weisheit her hat – von Vater und Mutter, von Lehrern und Büchern aller Art, von der Strasse und namentlich von den Priestern; ihn täuscht seine eigene Kunst und er glaubt wirklich, in naiver Zeit, dass ein Gott durch ihn rede [...]: während er eben nur sagt, was er gelernt hat (VM Aph. 176, KSA 2, S. 455).

    Er betrügt, weil er wissend ist, er ist wissend, weil er betrügt. Aus polarer Perspektive gilt dies für den antiken Dichter und für ihre Vertreter in der Moderne. Es gilt für ihn: insofern „der Dichter wirklich vox populi ist, gilt er als vox dei“ (Ebd.). Zwischen ‚sein‘ und ‚gelten‘ baut Nietzsche die Spannung seines Selbstverständnisses auf und bestimmt den Prozess einer folgenreichen Entfremdung, die sich zunächst aus dem göttlichen Bezug herleitet: „Bewunderung übermenschlicher Beihülfe. – Beim Dichter häufig Entfremdung seiner Person [...] Unfähigkeit, zwischen ‚wahr‘ und ‚Schein‘ zu scheiden“ (NL 25[386]; KSA 11, S. 113). Für den modernen Dichter kommt das Moment der unbedingten Selbstreflexion hinzu, das die ‚göttlichen‘ Regeln nicht ad absurdum führt, sondern sie vor allem in ihrer Verbindlichkeit negiert und zugleich den neuen Popanz der poetischen Selbstherrlichkeit desavouiert. Nietzsche begründet aber genau damit das Lügenhafte der Künstler, insbesondere der Dichter. Nicht ohne zugleich auf deren ausdrückliche Notwendigkeit und auf diese als ihr erstrangiges und definitives Bestimmungsmerkmal hinzuweisen.

    Was mythologisch daherkommt, besitzt eine konstitutive kulturelle, soziale Erdung und vielfältige Kontexte. Als Odysseus den Sänger Demodokos auffordert, über die Kriegszüge der Griechen zu singen, ist dies keine Bitte, sondern formuliert mit dem direkten Auftrag, sie zu preisen. Sogar in ihren Niederlagen. Wenn er auch die Musen und Apollo als die eigentlich zum Auftrag Berufenen und zu Preisenden bezeichnet.22

    Für den Sänger/Dichter entsteht durch die Abhängigkeit von den Göttinnen eine Sicherheit und Entpflichtung von der Verantwortung für das Gesagte zugleich, er übermittelt göttliches Wort, göttliche Wahrheit. Wenn es Trug ist, er ist ohne Verantwortung dafür. Dann ist er – erkenntnistechnisch und ins ästhetisch zu Begründende hochgerechnet – auch nicht für die Lüge verantwortlich. Der moderne Dichter ohne diese Sicherheit ist es schon. In Baudelaire sieht Nietzsche dafür ein symptomatisches Beispiel.23

    Solange sich der Dichter in der Preisung der Götter und Helden übt, ihre Taten besingt und sich darauf beschränkt, ist er ihres Beifalls, ihrer Wertschätzung und einer reichen Belohnung sicher. Solange er die Erinnerung und den im Lied lebendig bleibenden Ruhm besingt, stiftet er dadurch Gemeinsinn, kulturelle Ordnung und Identität, festigt er die bestehenden Machtverhältnisse und die geltenden Wertvorstellungen und bestätigt sie, solange er ein Wortgeber dessen ist, was die Griechen ἀρετή (Tugend) nannten, gehört er unhinterfragt in jedes Gemeinwesen. Diese für den Sänger/Dichter existenzielle Grundsituation kippt in dem Moment, wo er sich weigert, bestimmte Inhalte zu singen, geforderte Ruhmeselogen oder Verleumdungen gegen Feinde zu Gehör zu bringen. Aber er konnte – um den Preis des eigenen Lebens – dazu gezwungen werden.24 Und wer wird sein Leben opfern, wenn es schon durch wenige Änderungen im Bild des Erzählten zu retten ist? So gibt der Vorwurf des (zu vielen) Lügens als Tatbestand der Dichter-Existenz seine sozialen Voraussetzungen und Gründe frei.

    Nietzsche akzentuiert ähnlich und anders zugleich. An Pindar hebt er das „Steigern des Gegenwärtigen ins Ungeheure und Ewige“ hervor (NL 5[85], KSA 8, S. 63); als Stoff der Dichter sieht er – ebenfalls mit Blick auf Pindar: die „idealisirte Geschichte“ (NL 9[16], KSA 7, S. 278). Es ist ihre Fähigkeit, das Wirkliche poetisch zu übersteigern und zu idealisieren, d. h. zu lügen, um auf diese Weise soziale Konflikte zu befrieden: „Kunst. Noth-Lüge und Frei- Lüge. Letztere doch wieder auf eine Noth zurückzuführen“ (NL 28[5], KSA 7, S. 622). Ihre Dichtung gehört als ein „Correctiv des Menschen“ zum Arsenal der notwendigen Überlebensstrategien und zu den wirkungsvollsten und nachhaltigsten Kulturtechniken: „Ohne Unwahrheit weder Gesellschaft noch Kultur“ (NL 29[7], KSA 7, S. 623), notiert er bereits 1873.

    Über den dramatischen Lebensuntergrund zu täuschen und ihn zu verschleiern, weil die „höchste Wohlfahrt der Menschen [...] in Illusionen liegt“, gehört zu den vornehmsten Aufgaben (Ebd.). „Dichter als Erleichterer des Lebens“ (MA 1 Aph. 148, KSA 2, S. 143): sie wenden den Blick von der mühseligen Gegenwart oder tauchen diese in „neue[ ] Farben“ (Ebd.) und geben so Orientierung und Sicherheit „wie bei einer Fackelbeleuchtung auf verworrenen Waldwegen“ (MA 1 Aph. 204, S. 169) durch die Unwägbarkeiten der Kultur hindurch, zu denen sie – pikanterweise – selbst zählen. Eindrücklicher kann ein Plädoyer für die kulturelle Unverzichtbarkeit der Poeten, samt ihres diffizilen Verhältnisses zur Wahrheit nicht sein.

    Schon Platon wusste wie kaum einer davon. Er hat dieses Wissen zur Grundlage für die Ausweisung der meisten Dichter aus seinem idealen Staat gemacht. Nietzsche hat ihm dafür mit Recht attestiert, er sei aus feinstem Instinkt zum „grössten Kunstfeind[ ]“ geworden (GM, Dritte Abhandlung: was bedeuten asketische Ideale? 25, KSA 5, S. 402). Eine Erkenntnis des Philosophen, dem sich die Philosophiegeschichte bis in die Gegenwart schwer tut, sie zu akzeptieren. Nur diejenigen wollte der Athener in seinem Gemeinwesen belassen, die sich aller despektierlichen Äußerungen über die Götter enthielten und den richtigen Ton trafen, wenn es um die Vermittlung eines vorbildlichen tugendhaften Verhaltens ging. Ihr Erziehungsauftrag war insofern eindeutig bestimmt. Platon wollte diejenigen Dichter unter Aufsicht stellen und nötigen, die sich dem allgemeinen, aber herrschaftsbetonten sozialen Ansinnen, mittels ihrer Kunst zu einer sittlich-ernsten Gesinnung und Lebensführung beizutragen, verweigern, weil sie ihren Auftrag anders bestimmt sahen.25 Mittels Dichtung (Lieder, Epen, Tragödien, Komödien) wollten diese einer Arete folgen, die sich auf alle menschlichen Fähigkeiten und Emotionen (Leidenschaften) – auf die Seele insgesamt – bezieht und sie fördern und sahen sich zugleich einem lockeren Umgang mit dem Thema der Götter, d. h. mit den weltbildlichen Grundlagen des Staates und seiner uneingeschränkten Herrschaft und Deutungshoheit, verpflichtet. Platon wollte dies verhindern, aus Sorge um das Staatswesen. Die Ausbreitung von mangelnder sittlicher Ernsthaftigkeit, die Vernachlässigung staatsbürgerlicher Aufgaben und politischer Verantwortung für das Gemeinwesen, dafür sah Platon die Dichter den Boden bereiten. Der Vorwurf des Zersetzenden ist unüberhörbar. Eine allgemeine Affektation des politischen Verhaltens könnte um sich greifen, und das hohe Ideal des maßvollen Lebens würde durch ihre Dichtung Schaden nehmen.26

    Die Erziehung zur Teilhabe am höchsten Guten als oberstem Staatsprinzip lässt keinen Raum für jedwede dichterische Freiheit. Der Verhaltenskatalog des idealen Staates sucht diese drastisch zu minimieren. Die Seele der Bürger mit Gesängen zu berauschen, entzieht diese und sie selbst dem Reglement des geforderten staatsbürgerlichen Verhaltens. Der Staat kann nicht alle seine Bürger ausweisen, aber die Dichter schon: Man wird sie hoch lobend und verehrend – als Meister der rhythmischen Techné und der göttlichen Begeisterung – weiterziehen lassen und keine Gelegenheit geben, im idealen Staat Fuß zu fassen. Man wird die ungefährlicheren einladen, zu bleiben, die „weniger reizvollen Dichter“, die in das vorgegebene Tugendraster passen und sich vorschreiben lassen, was und wie sie zu singen, zu dichten haben.27 Sie lassen sich manipulieren, sie sind korrumpierbar, sie unterwerfen sich den Anforderungen an die geforderte Konformität des erlaubt Zu-Sagenden und seien auf diese Weise dem Gemeinwesen von Nutzen. Was von den anderen nicht zu erwarten oder zu sagen sei. Sie stünden noch unter dem Wert der sonst so abgelehnten Sophisten.28

    Im Dienste der Affirmation der Macht zu stehen, besser im Dienste ihrer Ideologie(n), dafür zahlt der Dichter einen hohen Preis. Aber genau darin sieht Platon seine Nützlichkeit für das Gemeinwesen. Dichter lassen sich leicht korrumpieren. Nietzsche stellt heraus, dass sie zu jenen gehören, die sich aus Eitelkeit, Unwissen, Egoismus zu oft den Mächtigen und ihren Zielen andienen: „Eine Künstler-Dienstbarkeit im Dienst des asketischen Ideals ist deshalb die eigentlichste Künstler-Corruption, die es geben kann, leider eine der allergewöhnlichsten: denn Nichts ist corruptiler, als ein Künstler“ (GM, Dritte Abhandlung: was bedeuten asketische Ideal? 25, KSA 5, S. 403). So im Zusammenhang seiner Kritik der Verfechter asketischer Ideale. Aufs Große besehen allerdings sticht dieser Vorwurf bei ihm nur bedingt, weil die Dichter in erster Linie sich ihrem Metier verpflichtet fühlen, der Sprache und deren Gesetzen. Für Platon allerdings sieht es anders aus. Den Dichtern seien die Inhalte ihrer Dichtungen vorzuschreiben oder jedenfalls einer Kontrolle zu unterziehen, die davor bewahren soll, dass ‚falsche‘, ungewünschte Inhalte, z. B. Aussagen über Götter, öffentlich werden und die Gemüter der Bürger falsch lenken und auf Abwege bringen.

    Platons Vorwürfe gegen Homer und Hesiod sind paradigmatisch. Sie würden mit ihren Erzählungen in die Irre führen und die „Unwahrheit auch noch mit Häßlichkeit verbunden“ den Lesern/Zuhörern zumuten.29 Dem zu begegnen, müsse der Staat die Dichter „beaufsichtigen“, dass in ihren Werken nur solche Göttererbeschreibungen stünden, die ‚wahr‘ seien, d. h. zum einen ideal-schöne Bilder des Olymps zum Inhalt haben und zum anderen Götter nicht in Konflikten und unzüchtigen oder Gewalthandlungen zeigen, die zur Nachahmung reizen resp. geltende ethische Normen unter Zweifel stellen könnten. Dichtern muss jede Verunglimpfung von Göttern und Helden verboten sein. Sie haben einzig deren Vorbildhaftes zu gestalten. Das ist staatserhaltende Doktrin und Restriktionsmaßnahme gegen die Dichter gleichermaßen. Dies setzt voraus, dass die „Gründer einer Stadt [...] das Gepräge [...] kennen, das für die Darstellungen der Dichter maßgebend sein muß, wenn sie überhaupt zugelassen sein wollen [...] Etwa folgendes: wie die Gottheit in Wirklichkeit ist, so muß sie auch dargestellt werden“30 und bedarf keiner weiteren Ausschmückung. Ihre Wirklichkeit sei ihre Wahrheit. Alles andere sei Lüge und muss der Bann des Gemeinwesens treffen: „Sagt einer derartiges von den Göttern, dann werden wir ihm mit Entrüstung entgegentreten und ihm keinen Chor gewähren, noch dulden, daß die Lehrer bei Bildung der Jugend davon Gebrauch machen, wofern unsere Wächter gottesfürchtig werden sollen.“31

    Wer aber bestimmt dies? Für Platon keine Frage. Es ist ein Herrschaftsproblem. Die, die den Staat führen, geben vor, was wahr und falsch, was Wahrheit oder Unwahrheit sei. Ihr Unwahrheitsvorwurf gegen die Dichter ist dabei nichts als eine Herrschaftsanmaßung32 und Instrument einer politisch sich buchstabierenden gewaltsamen Korruption von Dichtern und Dichtung, von Kunst insgesamt. Eine staatlich verordnete Ästhetik sozusagen, die ihre Realität finden soll in hochideologisierten Weltanschauungsbildern, die von den Dichtern zu verfertigen sind: „Das wäre also eines der Gesetze und Musterbilder hinsichtlich der Götter, nach denen in Rede und Dichtung sich jeder zu richten hat, nämlich daß Gott nicht Urheber von allem ist, sondern nur von dem Guten.“33

    Wer dem zuwider dichtet gehört in die Kategorie der „Lügendichter“, der nur von sich behauptet, er würde die Wahrheit erdichten. Aber „die wahre Lüge“ wird von Göttern und Menschen gleichermaßen gehasst und, so Platon, sie erweckt Abscheu, weil sie der Seele schadet. Niemand würde daher freiwillig die Lüge annehmen, wenn er sie denn erkennen kann.

    Die „Lüge in Worten“ sei dabei nur „eine Nachahmung des Vorganges in der Seele, später entstanden, ein Nachbild, nicht eine unvermittelte Unwahrheit.“34 Vom Dichter praktiziert, gerät sie unter das Verdikt ihrer Schädlichkeit.35 Den Herrschenden dagegen ist sie erlaubtes Mittel zur Machterhaltung: Der Gründungsmythos des idealen Staates ist eine der wichtigsten „Staatslügen“ (ein Wort von Otto Apelt)36 und herrschaftskonstituierenden Täuschungen und Lügen. Die Mitglieder des Gemeinwesens werden über ihre soziale Rangordnung und soziale Wertschätzung, resp. über die, die ihnen göttlicherseits zugedacht worden ist, von Anfang an fundamental getäuscht, um die Herrschaftshierarchien zu etablieren und sichern zu können. Kommunikabel wird ihnen dies per Erzählung, qua Dichtung gemacht.37

    Da kommt erneut das Täuschungspotential ins Blickfeld: „Die Kunst [...] – die Kunst, in der gerade die Lüge sich heiligt, der Wille zur Täuschung das gute Gewissen hat“ (GM, Dritte Abhandlung: was bedeuten asketische Ideale? 25, KSA 5, 402) – heißt es bei Nietzsche – ist der größte Gegenspieler, der große Antipode zu allen Verteidigern der asketischen Ideale, will heißen: aller Ideologien und Machtgelüste. Und dies kraft ihrer Fähigkeit zur Lüge und zur Täuschung. Dadurch untergräbt sie die Sicherheiten und entlarvt als Anmaßung, was sich als gottgegeben ausgibt, auch als solches unhinterfragt anzuerkennen. Dieses hinter die Kulissen sehen, den Subtext unter den großen Worten sichtbar zu machen, d. h. den Interessen nachzuspüren, die in ihnen liegen und die sie verdecken sollen, ist ihr Metier. Die vielfältigen machtgeleiteten Täuschungen ihrerseits durch Täuschung, durch poetische Lügen zu parieren, darin liegt aus der Optik ihres aufklärerischen Potentials für Nietzsche ihre kulturelle Bedeutung. Darum die in der Geschichte durchgängige Abwehr, mindestens aber Skepsis gegenüber den Dichtern und ihren Werken.

    V.
    Antike Beispiele sind unter dem Vorwurf der Lüge die für Nietzsche markantesten, auf die er sich auch im Aphorismus 84 explizit bezieht. Von Solon bis Aristoteles wusste man es tutti unisono, dass die Dichter zu viel lügen. Eine Behauptung und Be- und Verurteilung, die bereits zu Platons und Aristoteles Zeiten sprichwörtlich war. Bei Aristoteles bleibt offen, ob er sich dem Sprichwort anschließt oder nicht; er siedelt es im Kontext seiner Überlegungen zur Weisheit an.38 Immerhin. Auch Nietzsche tut Vergleichbares. Allerdings aus einem anderem Gesichtswinkel und mit einem anderem Ziel. In der Verstrickung von Wahrheit und Lüge sind Philosophen und Dichter ge(be-)fangen, aber nur den Letzteren gereicht es zur Legitimation, dass der fiktionale Charakter ihrer Wort-Werke sich als Lüge begründet. Giorgio Colli hat mit Blick auf Nietzsches Unter-Verdacht-Stellen jeder Philosophie, auch der eigenen – nichts als eine großangelegte Lüge zu sein – zu Recht festgestellt, dass „die Kunst, die gleichfalls Lüge ist, keinerlei Schaden nimmt, wenn sie weiß, daß ihre Natur lügnerisch ist“, im Gegensatz zur Philosophie.39 Obwohl ihn das „Problem der Wahrheit [...] buchstäblich verfolgt“40 habe, sei aber selbst Nietzsche nicht bis an den letzten Grund für diese Tatsache gegangen: der liege allein in der Schrift, im Schriftlichen, das per se fälschend, eine Fälschung sei.41 Die dramatische Dimension dieses Tatbestandes führt zur „paradoxen Dialektik von Wahrheit und Lüge, der zufolge alles Dichten unlöslich in den Schein, die Täuschung, die Lüge verstrickt“ und die „Dichterexistenz selbst ist in Frage gestellt.“42 Nietzsches eigenes Schreiben wird darin zum Zeugnis: es präsentiert sein Scheitern als poetische Lüge43, potenziert in einer Ironie, die zerstört, wovon sie spricht und in diesem Zerstören es zugleich ‚wortreich‘ und ‚lügenhaft‘ überleben lässt. Als Poet wird der Philosoph zum Lügner, trägt der Philosoph die Maske des Poeten und darum des Lügners, die ihm wesentlich ist. Weil sie die Grenzen zwischen Dichtung und Philosophie zweitrangig machen. Eine Einsicht, die den Philosophen bis in die Gegenwart bitter aufstößt, die Poeten aber in ihrer Position zweideutig bestätigt.

    So weiß sich Nietzsche selbst als ein Dichter, als ein Philosoph, als ein Lügner. In den Liedern des Prinzen Vogelfrei im Anhang zur Fröhlichen Wissenschaft geht es um des Dichters Berufung, ganz im Kontext des 84er Aphorismen-Schlusses. Ironisch sieht er sie als Fähigkeit zu souveräner Sprachbeherrschung. Der Vogel Specht bestätigt seine Selbstbeobachtung, er sei ein Dichter, weil er alles in Reime bringe, in leichte, bunte, aber auch in stechende, die wie Pfeile („Reime, meinʼ ich, sind wie Pfeile? / Wie das zappelt, zittert, springt, / Wenn der Pfeil in edle Theile / Des Lacerten-Leibchens dringt!“, FW, Lieder des Prinzen Vogelfrei: Dichters Berufung, KSA 3, S. 640), die tödlich sein können.

    Das Dichter-Wort als Gift, mal letal, mal prophylaktisch. Das dichterische Wort, das vogel-leichte, das luftige gegen den Geist der Schwere, gegen das bloße Vernunft-Wort: „Vernunft? – das ist ein bös Geschäfte: / Vernunft und Zunge stolpern viel!“ (IM, Prinz Vogelfrei, KSA 3, S. 335). Die philosophische Sprache, die Begriffswelten kommen unverständlich daher, sie bleiben in ihrer (auf ihre) eigene(n) Welt beschränkt. Das dichterische Wort durchbricht solche Begrenzungen, verlässt den ‚rabenschwarzen‘ Grund der Vernunft und assoziiert, kraft seiner Musikalität, eine andere Welt, ein anderes Weltempfinden, eine andere Welterfahrung, eine andere Philosophie. Eine, wie es im letzten Aphorismus der Fröhlichen Wissenschaft heißt, die zwar rauh klingt, weil sie aus einer ebensolchen Bergwelt kommt, die aber ungewohnte und neue Töne anschlägt und zur fröhlichen Kommunikation einlädt. Und in der und durch die sich realisiert, was Nietzsche im Nachspiel Unter Freunden als für sein Wort als existenziell formuliert hat: „Lernt aus diesem Narrenbuche, / Wie Vernunft kommt – ‚zur Vernunft‘!“ (MA 1 Unter Freunden, KSA 2, S. 366). Vor allem aber soll sie eine sein, die nicht ausschließt, auch missverstanden zu werden: „wenn ihrʼs nicht versteht, wenn ihr den Sänger missversteht, was liegt daran! Das ist nun einmal des ‚Sängers Fluch‘“ (FW Aph. 383, KSA 3, S. 638). Dieser Fluch aber ist es, der in von der Eineindeutigkeit wissenschaftlicher Wahrheit(en) trennt und seine eigene ihnen überlegen macht.

    Damit ist aber ein weiterer konstitutiver Aspekt verbunden. Lieber missverstanden zu werden, als einer gelangweilten Zuhörerschaft dienstbar zu sein: „Nicht wenn es gefährlich ist, die Wahrheit zu sagen, findet sie am seltensten Vertreter, sondern wenn es langweilig ist“ (MA 1 Aph. 506, KSA 2, S. 321). Um keinen Preis langweilig sein, denn dies meint aus künstlerischer Perspektive, einfache Wahrheiten ohne Belang zu erzählen, die es nicht lohnen, erzählt zu werden. Sie aber so zu erzählen, dass sie als neu, anders, fremd empfunden werden, nicht eine bloße Widerspiegelung, sondern eine Verfremdung und eine Neuschöpfung von Realität aus Realität und Phantasie, eine Weltschöpfung zu sein, muss die erste poetische, besser: poetisch-philosophische Devise sein. Der Dichter stelle sich immer so, „als ob er diese Dinge von Grund aus kenne und ein Wissender sei; ja bei der Auseinanderlegung menschlicher Handlungen und Geschicke benimmt er sich, wie als ob er beim Ausspinnen des ganzen Weltennetzes zugegen gewesen sei: insofern ist er Betrüger“ (VM 32, KSA 2, S. 394). Aber, so Nietzsche, nur weil er vor „lauter Nichtwissenden“ sein scheinbares Wissen ausbreite, nur „deshalb gelingt“ der Betrug.44

    Weil diese ihn als Wissenden und Wahrheit-Verkündenden sehen, sehen wollen, der ihnen eine „höhere Wahrheit und Wahrhaftigkeit“ verkündet und durch seine poetische Sprache von den Schwierigkeiten und Wirrnissen der Wirklichkeit gleichsam wie im Traum entlastet, glaubt er am Ende selbst, der wirklich Wissende, „ja wie die grosse Weltenspinne selber“ zu sein. Sich dieser Macht bewusst, sieht er das Recht auf seiner Seite, das, was für gewöhnlich Wirklichkeit genannt wird, zu verunglimpfen und zum Unsichern, Scheinbaren, Unächten, Sünd-, Leid- und Trugvollen umzubilden [...], damit [...] ihre Zauberei und Seelenmagie recht unbedenklich als Weg zur ‚wahren Wahrheit‘, zur ‚wirklichen Wirklichkeit‘ verstanden werde (Ebd.).

    Der bereits in Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne behauptete Hang des Menschen, sich täuschen zu lassen und dass der „Trieb zur Lüge fundamental“ sei (NL 29[20], KSA 7, S. 633), ist hier bestimmend für Nietzsches Kunst- und Poesieauffassung. Dass jede Kunst auf die Täuschung angelegt sei, dieser vermeintlich unumstößlichen Tatsache entzieht er die Grundlage durch die verblüffende Einsicht, dass das Publikum wisse, dass die vorgesetzten Bilder (auch die durch sprachliche Zeichen) „der Realität nicht entsprechen. Also glaubt man ihnen „nur als Bildern, nicht als Realitäten“ (NL 29[17], KSA 7, S. 632). So ziele die Kunst zwar auf eine Täuschung ab, täusche aber nicht; würde sie dies tun, „hörte ja die Kunst auf!“ (Ebd.). Für sie gilt der „Schein als Schein“, sie will „nicht täuschen, [sie] ist wahr“ (Ebd.). Aber was ist dies für eine Wahrheit? Eine erste, eine letzte, eine scheinbare, eine notwendige, eine existenzielle, eine ästhetische? Der Nietzsche der frühen 1870er wirft vor allem ein ästhetisch aufgeladenes Argument in die Waageschale. Schwerwiegend genug, um das Verdikt gegen die Poesie auszuhebeln und einen Seitenhieb gegen die vernunftorientierte Philosophie zu führen: „Die Lust an der Lüge ist künstlerisch. Sonst hat nur die Wahrheit eine Lust an sich. Die künstlerische Lust ist die größte, weil sie die Wahrheit ganz allgemein spricht in der Form der Lüge“ (NL 29[4], KSA 7, S. 622). Im Kontext von Wahrnehmung insgesamt wird transparent, wie kontinuierlich dieses Problem seit Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne im Denken Nietzsches potent und präsent ist.

    Der Nietzsche der unmittelbaren Zarathustra-Zeit nimmt die gleiche Anleihe bei Platon und Aristoteles wie der Aphorismus 84 und spielt denkerisch mit dem Argument des Zu-vielen- Lügens der Dichter. Auf die Frage an Zarathustra nach dem Warum dieses Lügens in Von den Dichtern antwortet dieser: „Du fragst warum? Ich gehöre nicht zu Denen, welche man nach ihrem Warum fragen darf“ und gibt zu verstehen, auch „Zarathustra ist ein Dichter“ (Za II, KSA 4, 163). Um sofort ironisch-hinterlistig – will heißen: ästhetisch – alles zu problematisieren: „Glaubst du nun, dass er hier die Wahrheit redete? Warum glaubst du das?“ (Ebd.).

    Die Art der ersten Frage ist sophistisch und seit der Antike immer wieder gestellt worden, sie enthält ihre eigene In-Frage-Stellung und hebt sich selbst aus den Fugen, überhebt sich ihrer eigenen Rechtfertigung und Berechtigung. Die zweite Frage, besser: die Antwort allerdings trifft einen neuralgischen Punkt. „Ich glaube an Zarathustra“ (Ebd.), sagt der Jünger. Im Glauben an den Dichter, dass das, was er sagt, wahr sei, liegt eine der Begründungen für die hohe Wirkkraft der poetischen Lüge, dafür, dass sie als wahr angenommen wird. Als poetisch-ästhetisch wahr, wohlgemerkt. So entpuppt sich das Problem von Lüge und Wahrheit als eines der künstlerisch- kulturellen Kommunikation zwischen den Dichtern und ihrem Publikum, allgemeiner zwischen den Künstlern und ihrer Kultur (Gesellschaft). Ein Gedanke, dessen sich Nietzsche seit 1873 sicher und gewiss ist.45 Alle späteren Einlassungen sind Variationen dieser Grundtonart auf seiner denkerischen Klaviatur. Dass alles nur „Dichter-Gleichniss, Dichter-Erschleichniss“ (Ebd., S. 164) sei, oberflächlich und ohne Grund, mache selbst die größten Gedanken suspekt: Götter und Übermenschen sind, so gesehen, nichts als „bunte Bälge“, aus dem „Reich der Wolken“ und selbst ein solches (Ebd.).46 Ein Grund, warum Zarathustra versucht, Abstand zu nehmen: „Ich wurde der Dichter müde“ (Ebd., 165).

    Aber Nietzsche kommt nicht los. Der erste Dionysos-Dithyrambus trägt nicht zufällig den Titel Nur Narr! Nur Dichter! und entspricht fast dem Text, der im Lied der Schwermuth im vierten Buch des Zarathustra zu finden ist. Das Dichter-Dasein, zunächst als eine große Last empfunden und hohnvoll quittiert, weil mit dem Ansinnen verbunden, der Wahrheit Freier“ sein zu wollen, mutiert jedoch, der poetischen Struktur und der Bildsemantik folgend, in eine spannungsvolle Akzeptanz der Vorwürfe und stilisiert diese hoch in eine Pro-Argumentation für das Lügen-Moment als Spezifikum alles Dichterischen und der Dichter. Wobei das ‚Nur‘ ebenso kritisch wie emphatisch und in seiner Dialektik als konstitutiv für Nietzsches Dichter- Verständnis zu lesen ist.47 Ein „Thier [...] / das lügen muss, / das wissentlich, willentlich lügen muss, / [...] / bunt verlarvt, / sich selbst zur Larve“, und aus „aus Narrenlarven bunter herausredend / herumsteigend auf lügnerischen Wortbrücken, / auf Lügen-Regenbogen“ (DD, KSA 6, S. 378 f.) ist der Dichter. Solche ‚Lügen‘ fallen leicht und wiegen schwer in einem, weil sie ‚Wahrheiten‘ sind, die man lachend verkünden kann. Der Dichter versammelt auf sich alles, was einen Erkennenden ausmacht: Eine Welt aus sich zu schaffen, sie denkend und sprachbewegend zu reflektieren, um sie der Wirklichkeit entgegen oder zur Seite zu stellen. So sprengt er die Grenzen zur Philosophie und zum Philosophen, wird selbst zum Philosophen, besitzt die Fähigkeit und die Stärke ihrer Vereinigung, der Aufhebung ihrer polaren Gegensätzlichkeit, ihrer letztlichen Einheit und wechselseitigen Bestimmbarkeit. Kraft seiner Lügen, an denen das Vorurteil ‚Lüge‘ selbst zuschanden wird, ohne allerdings seine denunzierende Wirkung je ganz zu verlieren – wie die Philosophie- und Ästhetikgeschichte bis in die Gegenwart zeigen. Zwar weiß man, wie nahe ‚Wahrsinn‘ und ‚Wahnsinn‘ schon in der Antike gedacht worden sind und die dem Sänger eingegebene göttliche ‚Mania‘ auch von der Philosophie hoch geachtet war, der Streit aber die über kulturelle Wertigkeit poetischer Lüge oder Wahrheit bewegt – trotz Nietzsche – noch immer oder immer wieder die modernen Diskurse.48 

     

    Anmerkungen und Quellen

    1 Sokrates und Platons Begründung der Wahrheit als höchsten philosophischen Wert und ihre Bestimmung durch Aristoteles, aufklärerisches Bemühen um die Besonderheiten poetischer Wahrheit von Baumgarten bis Lessing, Kants Definitionsversuche ästhetischer Urteilskraft und Hegels eloquenter Verzicht, das Thema Wahrheit im Zeichen der Poesie explizit zu verhandeln, sind nur die markantesten und wirkmächtigsten Wortmeldungen.

    2 Thomas Buchheim: Einleitung zu Gorgias von Leontinoi, Reden, Fragmente und Testimonien, hg. mit Übersetzung und Kommentar von Thomas Buchheim, Hamburg 1993, S. VII-XXXIII; Ders.: Die Sophistik als Avantgarde des normalen Lebens, Hamburg 1986; Michael Franz: Von Gorgias bis Lukrez. Antike Ästhetik und Poetik als vergleichende Zeichentheorie, Berlin 1999, S. 117-167; Jan Dreßler, Wortverdreher, Sonderlinge, Gottlose. Kritik an Philosophie und Rhetorik im klassischen Athen, Berlin, Boston 2014. Auch Maria Bindschedler war in ihrer Studie Nietzsche und die poetische Lüge, Basel 1954 auf Gorgias eingegangen, um Nietzsches Nihilismus von dem des Sophisten abzugrenzen (S. 12-15). 

    3 Bereits im 18. Jahrhundert galt dieser Zusammenhang als kulturstiftend. Es war Herder, der ihn in seiner großangelegten Studie Vom Geist der Ebräischen Poesie, Dessau 1782 für seine Kulturgeschichte beispielgebend konstitutiv gemacht hat. Dazu Urpoesie und Morgenland. Johann Gottfried Herders „Vom Geist der Ebräischen Poesie“, hg. von Daniel Weidner, Berlin 2008.

    4 Nietzsche verweist darauf, dass die Griechen überzeugt waren, der Hexameter sei in Delphi erfunden worden (FW Aph. 84, KSA 3, S. 441), Belege dafür gibt er allerdings nicht. Dazu Zsigmond Ritoók: Vermutungen zum Ursprung des griechischen Hexameters, in: Philologus. Zeitschrift für antike Literatur und ihre Rezeption, Bd. 31 (1987), Heft 1/2, S. 2-18.

    5 Der scheinbar lapidare Zusatz „beinahe“ bezeichnet die letztlich doch verbleibende Differenz des Menschen zu den Göttern, die auch durch die Sprache, auch wenn sie rhythmisch daherkommt, nicht aufzuheben ist.

    6 „Offenbar gilt bereits für Pindar: die Rede schafft Tatsachen, situative und soziale Tatsachen, die aber am allerrealsten und direktesten zu bestimmen vermögen, was Menschen denken und tun. Für Gorgias ist diese Erkenntnis unerschütterlich“ (Thomas Buchheim: Einleitung, a.a.O., S. XXII).

    7 Er nutzt diesen Hinweis zugleich zu einer Schelte der zeitgenössischen Ästhetik, die unwillig und unfähig sei, sich mit diesem Phänomen dionysischer Sprach- und Tonwirkung noch in der Moderne angemessen auseinanderzusetzen (Vgl. GT 6, KSA 1, S. 50).

    8 Pindar, Fragm. 194 (Snell, Maehler), zit. nach: Thomas Buchheim: Einleitung, .a.a.O., S. XXIII.

    9 „Den Edlen steht es, gefeiert zu werden mit den schönsten Gesängen; denn das reicht allein an unsterbliche Ehren hin, wogegen die schöne Tat stirbt, wird sie verschwiegen“ und „Ich vermute, daß das Reden über Odysseus mehr Bedeutung hat als sein Leiden und das kraft Homers süßer Sprache“ (Pindar, Ne 7, zit. nach Buchheim: Einleitung, a.a.O., S. XXII).

    10 Gorgias: Lobpreis der Helena (Fragm. 11 [13]), in: Gorgias, Reden, Fragmente und Testimonien, a.a.O., S. 11.

    11 Michael Franz: Von Gorgias bis Lukrez, a.a.O., S. 147.

    12 Dazu Anne Tebartz-van Elst: Ästhetik der Metapher. Zum Streit zwischen Philosophie und Rhetorik bei Friedrich Nietzsche, Freiburg, München 1994.

    13 Gorgias: Lobpreis der Helena (Fragm. 11 [8-11], in: Gorgias, Reden, Fragmente und Testimonien, a.a.O., S. 9.

    14 Dazu Anne Tebartz-van Elst: Ästhetik der Metapher, a.a.O., S. 94 ff. Sie bezieht sich dabei auf Nietzsches Rhetorik-Vorlesungen von 1872/73 und kritisch auf die Interpretationen von Gerhard Rupp und Paul Ricoeur.

    15 Sextus Empiricus jedenfalls überliefert dies (Gorgias, Fragm. DK B 3. 85), in: Die Fragmente der Vorsokratiker (griechisch und deutsch), hg. von Hermann Diels, 5. Auflage, hg. von Walter Kranz, Bd. 2, Berlin 1935, S. 282.

    16 In anderer Perspektive und in späterer Denkphase versteht Nietzsche das Interpretieren als Ausdruck des Willens zur Macht (Vgl. NL 1[115], KSA 12, S. 139).

    17 Enrico Müller hat diesen Tatbestand an Nietzsches dezidiertem Interesse für Parmenides ausführlich erläutert (Enrico Müller: Die Griechen im Denken Nietzsches, Berlin, New York 2005, S. 152 f.).

    18 Dazu Giorgio Colli: Nach Nietzsche, Frankfurt am Main 1980, S. 119 f.

    19 Gorgias: Fragm. 23, in: Gorgias: Reden, Fragmente und Testimonien, a.a.O., S. 93. Es geht hier um die attischen Tragödiendichter. Buchheim verweist darauf, dass mittels der Theaterhandlung, der Macht der dramatischen Rede ‚entführt‘ wird in eine deutlicher vorgeführte Welt (des Theaters), ebd., S. 194 f.

    20 In der Ilias berichtet Homer vom Sänger Thamyris, der geprahlt hatte, die Musen im Gesang zu besiegen und den die Göttinnen dafür mit Blindheit schlugen und Gesang und Harfe nahmen (Homer: Ilias, 2. Gesang, V 594- 600), in: Homer: Ilias, übertragen von Johann Heinrich Voss, Leipzig 1964, S. 34.

    21 Hesiod: Theogonie, V 16-17, 31-34, dt. von Thassilo Schefer, Leipzig 1968, S. 4 f. Homer schon beschreibt die Aufgaben der Sänger in dieser Weise (Vgl. Homer: Odyssee, 8. Gesang, übertragen von Johann Heinrich Voss, Leipzig 1964, S. 88 ff.).

    22 Homer: Odyssee, 8. Gesang, V 486-498, a.a.O., S. 98.

    23 Dazu Renate Reschke: Die verlorene Geliebte und ihr neues Domizil. Friedrich Nietzsche über Religion und Kunst in der Moderne, in: Volker Gerhardt / Renate Reschke [Hg.): Nietzscheforschung, Bd. 10, Berlin 2003, S. 269-286.

    24 Homer berichtet, Odysseus habe dem Sänger Phemios nur deshalb das Leben gelassen, weil dieser glaubhaft versichern konnte, in seiner Abwesenheit unter Zwang gesungen zu haben und Odysseusʼ Sohn Telemachos dies bestätigt (Ebd., 22. Gesang, V 330-356, S. 273).

    25 Platon: Der Staat, 3. Buch, 401. Stk., in: Sämtliche Dialoge, Bd. 5, neu übersetzt, erläutert und herausgegeben von Otto Apelt, Leipzig 1923, unveränderter Nachdruck, Hamburg 2004, S. 109.

    26 Vgl. ebd., 8. Buch, 549.-555. Stk., S. 319 f.. Nietzsche steht in Menschliches, Allzumenschliches auf der Seite Platons, wenn er zugibt, dass die Dichter als Erleichterer des Lebens, dies nur vorläufig und temporär sind und dass sie Menschen, die ihre Zustände wirklich verbessern, also aktiv werden wollen, davon abhalten, indem sie deren Leidenschaft aufheben und „palliativisch entladen“ (MA 1 Aph. 148, KSA 2, S. 143).

    27 Platon: Der Staat, a.a.O., 3. Buch, 398. Stk., S. 104. Im 8. Buch heißt es, die Tragödiendichter würden sich in Staatsangelegenheiten einmischen und die Staatsverfassungen ändern wollen, daher sei es geboten: „So werden die Tragödiendichter, als weisheitsvolle Männer, uns und denen, die es in Sachen der Staatsverwaltung ähnlich halten wie wir, es nicht übelnehmen, wenn wir ihnen keinen Zutritt gestatten in unser Staatswesen“ (Ebd., 568. Stk., S. 349).

    28 Diese würden immerhin für ihre Anhänger einen respektablen Bildungsbeitrag leisten (Ebd., 10. Buch, 600. Stk., S. 396).

    29 Ebd., 2. Buch, 377 Stk., S. 77.

    30 Ebd., 378.-379. Stk., S. 79.

    31 Ebd., 383. Stk., S. 86.

    32 „Also darf man weder dem Homer noch einem anderen Dichter Glauben beimessen, wenn er diese grundverkehrte [Hervorhebung – R. R.] Vorstellung von den Göttern hat“ (Ebd., 379. Stk., S. 80).

    33 Ebd., 380. Stk., S. 81.

    34 Alle Zitate in diesem Abschnitt: Ebd., 382. Stk., S. 84 f.

    35 Platon gibt allerdings auch zu, nur alles Göttliche sei völlig ohne Lüge und man könne ins Auge fassen, die Lüge sei unter gewissen Umständen durchaus nützlich.

    36 Ebd., Anmerkungen, S. 451.

    37 Ebd., 3. Buch, 414.- 416. Stk., S. 129-132.

    38 Aristoteles: Metaphysik, 983a, in: Ders.: Philosophische Schriften, Bd. 5, übersetzt von Hermann Bonitz und überarbeitet von Horst Seidl, Hamburg 1995, S. 7 f.

    39 Giorgio Colli, Nach Nietzsche, a.a.O., S. 87.

    40 Ebd., S. 90.

    41 „[...] jede Schrift ist Fälschung“ (Ebd., S. 87), und Nietzsche, der homo scribens, ist ihr prominentestes Opfer. Wie vorher übrigens bereits Platon.

    42 Theo Meyer: Nietzsche und die Kunst, Tübingen, Basel 1993, S. 125. Dazu auch Klaus Mendler, Die Lügen der Dichter. Friedrich Nietzsche und die Literatur, 1994 http://www.noctigavus.net/mendler/phil_nietz_dichter.html (letzter Zugriff 22. 7. 2015).

    43 Giorgio Colli, Nach Nietzsche, a.a.O., S. 152.

    44 Auch Zarathustra sieht im Nicht- oder Zu-wenig-Wissen der Dichter den Grund, dass sie zu Erfindern von Geschichten werden (Vgl. Za II, KSA 4, S. 164).

    45 In Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne ist es der Gedanke des kollektiven Vergessens, dass Wahrheiten ursprünglich nichts als Vereinbarungen zur Regelung des verstehenden Zusammenlebens waren, der den Kommunikationsgedanken als Begründung hat.

    46 Philosophische Konsequenzen solcher Einsichten sind dramatisch, liegen aber außerhalb dieses Themas.

    47 Ausführlich dazu Wolfram Groddeck: Friedrich Nietzsche. Dionysos-Dithyramben, Bd. 2 (Die „Dionysos- Dithyramben“. Bedeutung und Entstehung von Nietzsches letztem Werk), Berlin, New York 1991, S. 3-41.

    48 Auch wenn Nietzsche durch eigenes Zeugnis mit seinem Werk gezeigt hat, wie obsolet die Grenzziehung ist, sind seine vermeintlichen Retter noch immer eifrig bemüht, ihn von solchen ‚Lügen‘ zu befreien.