Andere Tiere haben eine natürliche Ausstattung, die zu ihrer jeweiligen biologischen Umgebung passt und ihre spezifische Lebensgestaltung in dieser Umgebung ermöglicht. Katzen können entsprechend sehen und sich bewegen, Spinnen können Netze bauen – und Giraffen können Blätter von den hohen Bäumen pflücken. Der Mensch hat keine natürlichen Fähigkeiten, die ihn für eine ganz bestimmte natürliche Umgebung und ein entsprechendes Verhalten in dieser Umgebung prädestinieren.
Das Fehlen einer natürlichen Bestimmtheit ist in der anthropologischen Tradition oft als Leitmotiv der Bestimmung des Menschen herangezogen worden. Seine eigentümliche Stellung wird so etwa als die eines „Mängelwesens“ (Arnold Gehlen) verstanden. Das scheint mir aber nicht haltbar zu sein. Der Mensch hat nämlich sehr wohl Fähigkeiten, die es ihm erlauben, sich in unterschiedlichen Weisen Nahrung zu besorgen und mit anderen Menschen zu interagieren. Nicht zuletzt hat auch der Mensch – wie alle anderen Tiere – natürliche Fortpflanzungsfähigkeiten. All das verliert man aus dem Blick, wenn man den Menschen aufgrund von etwas bestimmen will, das ihm fehlt. Wie soll man den Menschen aber dann verstehen? Ein etwas neutralerer Vorschlag kommt von Friedrich Nietzsche, von dem das Wort stammt, der Mensch sei ein „nicht festgestelltes Tier“. Aber auch dieser Vorschlag klingt noch so, als habe der Mensch von Mutter Natur irgendwie das nicht abbekommen, was andere bekommen haben. So müssen wir überlegen, ob wir positiv sagen können, was Nietzsche negativ sagt.
Das wird möglich, wenn man den Menschen als ein Tier begreift, das Feststellungen immer wieder zu überwinden vermag. Der Mensch hat Fähigkeiten, die es ihm erlauben, sich immer noch einmal neu zu verorten. Die Tradition hat für diese Fähigkeiten den Begriff der Vernunft gebraucht. Nun klingt die Rede von Vernunft allerdings nicht unmittelbar nach einem Überwinden von Feststellungen, sondern vielmehr so, als sei damit nur eine neue Feststellung artikuliert. Die Tiere sind instinktgeleitet, der Mensch hingegen ist vernünftig: Das hört sich erst einmal so an, als sei jeder auf seine Weise festgelegt. So wie der lange Hals der Giraffe eine Form hat, die die Giraffe festlegt, so hätte die Vernunft eine bestimmte Form (eine bestimmte Weise des logischen Schließens zum Beispiel), die den Menschen festlegt. Das aber ist ein Missverständnis – ein Missverständnis in Bezug auf den Begriff der Vernunft.
Vernunft wird falsch verstanden, wenn wir sie als Vermögen begreifen, das uns festlegt. Vernunft ist vielmehr das Vermögen, jede Festlegung auf ihre Triftigkeit und ihren Wert zu befragen. Als vernünftiges Wesen ist der Mensch nicht einfach dazu verdammt, auf eine bestimmte Weise zu denken. Er hat vielmehr das Vermögen, sich zu fragen, wie er denken sollte. Ist es richtig, wenn ich das eine als einen guten Grund für das andere begreife? So fragt der Mensch. Ist es richtig, dieses zu tun und dies andere zu lassen? Vernunft ist in diesem Sinn als das Vermögen zu begreifen, sich immer noch einmal anders und neu zu bestimmen. Dabei ist der Mensch kein Demiurg, der sich einfach so zu etwas machen könnte, was er nicht ist. Er ist vielmehr an viele natürliche und historische Bedingungen gebunden, auf die er sich einlassen muss, um sein Festgestelltsein abzubauen.
Die Bedeutung der Vernunft für die Lebensform des Menschen zeigt sich am besten in historischen Zusammenhängen. Dort droht dem Menschen das Festgestelltsein durch eine Natur, die er selbst hervorgebracht hat: das Festgestelltsein durch die ihn umgebende historisch-kulturelle Welt. Denken wir an die Welt, in der wir aufgewachsen sind: Es handelt sich um eine Welt, die uns ein bestimmtes Bild der Geschlechterrollen, des Arbeitslebens, der Bedeutung und Struktur von Familie und vieles andere mehr vermittelt hat. Wir kennen viele Menschen, für die ein solches Bild unhinterfragte Gültigkeit besitzt. Das aber kann unvernünftig sein. Vernünftig ist es, sich zu fragen, ob zum Beispiel bestimmte Vorstellungen von Geschlechterrollen richtig sind. Diese Frage zu stellen heißt, Fähigkeiten der Überwindung von Feststellungen ins Spiel bringen.
Wie aber kommen diese Fähigkeiten ins Spiel? Wie ist es uns möglich, zu den Bildern, die uns natürlich scheinen, auf Distanz zu gehen? Wir brauchen dafür bestimmte Praktiken, die dazu führen, dass Bestimmtheiten zur Disposition gestellt werden. Davon gibt es einige. Eine ganz besondere Bedeutung hat hier für uns die Kunst, die immer wieder dazu führt, dass liebgewordene Bestimmungen (zum Beispiel eine bestimmte Weise zu sehen) ins Wanken geraten. Aber auch Gespräche unter Freunden können dies bewirken. Wenn jemand mir ernsthaft die Meinung sagt, kann das dazu führen, dass ich das, was mir selbstverständlich scheint, hinterfrage. Auch die Wissenschaften haben in ihren guten Momenten den Sinn, eine Störung des Selbstverständlichen zu bewirken, und nicht zuletzt die Philosophie.
Auf Nietzsche geht nicht nur das bereits zitierte Wort vom nicht festgestellten Tier zurück. Er hat auch den Gedanken formuliert, dass Menschen letztlich in einer Situation grenzenloser Unbestimmtheit existieren. Es gibt demnach für den Menschen, konsequent betrachtet, nirgends Halt. Dies scheint mir ein extrem problematischer Gedanke zu sein, da er suggeriert, der Mensch sei als Naturwesen restlos entwurzelt worden. Außerdem verhilft er uns zu der hübschen Selbsteinschätzung, es verstehe sich von selbst, dass wir nicht einfach von außen (von Natur aus) bestimmt, also frei sind. Betrachten wir den Menschen in seinen historisch-kulturellen Lebenswirklichkeiten aber konsequent, wird schnell klar, dass sich dies überhaupt nicht von selbst versteht. Der Mensch muss sich Unbestimmtheit erarbeiten. Oder anders gesagt: Er muss sich Freiheit erkämpfen. Er steht vor der Aufgabe, immer wieder (dem Anschein nach) naturgegebene Bestimmungen abzubauen. Diese Aufgabe zu erledigen hilft ihm Vernunft als das Vermögen, Feststellungen zu überwinden. Ihn von diesem Vermögen her zu verstehen heißt, den Menschen wirklich als ein nicht festgestelltes Tier zu verstehen.