Berührung ist dabei sowohl im direkten wie im übertragenen Sinne zu verstehen. Jede Berührung des Menschen durch eine übergeordnete Gewalt ist rechtfertigungspflichtig und damit bis zur Präsentation eines besseren Arguments verboten. Eine der frühesten Menschenrechtsdeklarationen, die Habeas-Corpus-Akte, legt daher Regeln fest, nach denen es dem König resp. dem Staat erlaubt ist, den Körper eines Untertanen in Gewahrsam zu nehmen und gegebenenfalls darüber hinaus der peinlichen Befragung auszusetzen (Brieskorn 1997; Freedman 2001). Die dem Staat auferlegte Einschränkung leitet sich aus den etablierten Besitzverhältnissen ab, nach denen der Mensch selbst Eigentümer an seinem Körper ist (Locke, Treat II). Beide Momente, das der Selbst-Eigentümerschaft sowie das der daraus resultierenden eingeschränkten Verfügung des Staates über seine Untertanen, etablieren eine Menschenrechtskultur, in der nicht länger jeder Zugriff des Staates zulässig ist. Eine zentrale Erweiterung der Menschenwürdekonzeption liefert Kants Instrumentalisierungsverbot (GMS), das er aus dem Zweck-Sein des Menschen ableitet, wonach es sich verbietet, den Menschen „bloß als Mittel“ zu gebrauchen.
Wenngleich diese Positionen, sofern sie in der Praxis Geltung erfahren, die Stellung des Einzelnen gegenüber der staatlichen Macht im Vergleich zu Zeiten der rechtlichen Willkür erheblich stärken, so werden sie ihm dennoch nicht vollumfänglich gerecht. Der Grund dafür ist, dass diese Positionen gleichsam an der Oberfläche verbleiben. Die Lücke, die hier weiterhin offen ist und in die, wenn sie nicht geschlossen wird, staatliche Gewalt einzudringen versucht, bildet sich aus der Differenz zwischen dem bislang leitenden Körper-Begriff und dem an seine Stelle zu setzenden Leib-Begriff. Der Unterschied ist markant: „Körper“ und „Leib“ sind nicht identisch. Der Leib erscheint zwar in der Außenwahrnehmung der Anderen körperlich, er ist aber Resultat der Eigenwahrnehmung. Das „Eigenleiberleben“ (Schmitz 1965, 1990) eines Menschen hat einen Gehalt, welcher primär in der ersten Person auftritt und damit eine exklusive Stellung in der Welt erlangt. Aus leibphänomenologischer Sicht erscheint der ausschließliche Fokus auf den Körper als reduktionistisch, weil er den Menschen alleine auf seine äußere Gestalt festlegt. Demgegenüber gelangt die Leiborientierung zum „natürlichen Ich“ und damit zur Einsicht, dass „ich mein Leib bin“ (Merleau-Ponty 1966). Diese Einsichten sind indes nicht leicht zu haben, da die abendländische Rationalitätsentwicklung den Zugang zu unserem Eigensten und Ersten, unserem Leib, versperrt hat. Das Resultat dieser geistesgeschichtlichen Entwicklung ist eine „Auswanderung“ des Menschen aus sich selbst. Am Ende dieser Reise steht nicht nur der Begriff des Körpers, der jenen des Leibes ersetzt, sondern auch und damit zusammenhängend der Verlust an eigentümlichen Erfahrungen, welche primär nur jedem selbst zugänglich sind. Will man diese Erfahrungen wiedergewinnen und damit eine umfassende Vorstellung seiner selbst zurückerlangen, muss man Techniken kultivieren, deren Kenntnisse in der modernen Rationalitätskultur weitgehend verloren gegangen sind und deren Reste als irrational und subjektivistisch diskreditiert werden: das Hineinhorchen in sich selbst und die Verteidigung der Ergebnisse dieser Beobachtungen in einer sich dem Diktat der rationalen Sprache widersetzenden Ausdrucksform, etwa der der Poesie. Dies ist deshalb so anspruchsvoll, weil der erwachsene Mensch derlei Vermögen verlernt hat oder sie sich unter dem Druck der Rationalisierung verbietet (Plessner 1981)
Die am Körper-Begriff festhaltende Würde-Konzeption begreift die Würde in der Tradition Kants als Autonomie (GMS). Inwiefern der Körper- und mit ihm auch der Autonomie-Begriff hinter dem Reichtum menschlichen Daseins zurückbleiben, zeigt sich an dem hohen Anspruch, den der Autonomie-Begriff voraussetzt: Erst nach einer langen Entwicklung erlangen wir das Vermögen, welches uns instand setzt, selbstgesetzgebend und d. h. autonom zu werden. Um zur Autonomie zu gelangen, die wir noch dazu ja nicht stringent bewahren können und vielfach spätestens gegen Ende des Lebens wieder verlieren, sind wir auf unsere „leibliche Authentizität“ verwiesen (Brenner 2006). Die leibliche Authentizität zeigt auch, dass wir jenseits und vor unserer phasenweise existenten reflexiven Subjektivität über eine präreflexive Subjektivität verfügen (Blume 2003). Spätestens beim Einfall negativer, einschneidender Erfahrungen, wie jenen von Scham und Demütigung, kann dieses Bewusstsein unkontrolliert aufbrechen und uns mit unserer Leiblichkeit schmerzlich konfrontieren (Landweer 1999). Die Würde des Menschen wird mithin nicht erst durch die peinliche Befragung tangiert, sondern bereits durch all jene Sozialtechniken, welche den Menschen in ihn entwürdigende Situationen bringen, seien dies Formen der immateriellen Gestaltung des Lebens, beispielsweise mittels Akten der Verwaltung, oder aber der Gestaltung des materiellen Lebens, beispielsweise mittels der Architektur und des Städtebaus (Brenner 2012).
Quellen:
A.Blume: Scham und Selbstbewusstsein, 2003 – A. Brenner: Bioethik und Biophänomen, 2006 – Ders.: Lebenskunst des Naturzeitraum, in: A. Classen (Hg.): Wahres Leben und Tod vom 16. Jahrhundert bis zur Neuzeit, 2012 – N. Brieskorn: Menschenrechte, 1997 – E. M. Freedman: Habeas Corpus, 2001 – I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (GMS); 1974 – H. Landweer: Scham und Macht, 1999 – J. Locke: Two Treatises of Government, Second Book (Treat. II), 1963 – M. Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, 1966 – H. Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, in: Gesammelte Schriften IV, 1981 – H. Schmitz: System der Philosophie II, 1965 – Ders.: Der unerschöpfliche Gegenstand, 1990.
(Die Printversion dieses Artikels ist erschienen in: R. Gröschner; A. Kapust; O. Lembcke (Hg.), Wörterbuch der Würde, München 2012, S. 163f. Dieser Beitrag ist ebenfalls online im Tagesanzeiger-Newsnet erschienen.)