Am Hause des Antiphon zu Korinth, so erzählt eine antike Legende, prangte ein kühnes Wort: „Ich kann Kranke durch Worte heilen.“ Was modernen Ohren hochtrabend, esoterisch und unseriös klingt, scheint dem Menschen der Antike nicht fremd gewesen zu sein. Auch der große Arzt Hippokrates lehrte seine Schüler, dass vor Arznei und Messer stets das Therapeutikum des Wortes zu erproben sei. Die alten Griechen, scheint es, waren Pioniere dessen, was sich heute als neue Forschungsrichtung etabliert: der therapeutischen Kommunikation.
Tatsächlich scheint es avancierten Medizinern heute keineswegs absurd, dass Worte heilen können. Neurophysiologie und Psychoneuroimmunologie haben in den letzten Jahren Erkenntnisse zutage gefördert, die darauf hinweisen, dass Sprache ein hochgradig wirkungsvolles Therapeutikum sein kann. Nicht nur zeigen statistische Erhebungen, dass eine gelungene Kommunikation von Arzt und Patient auf signifikante Weise Heilungsverläufe beschleunigen kann. Auch lehrt die Hirnforschung, warum das so ist: Das Gehirn trennt nicht zwischen Imagination und Wirklichkeit, sodass sprachlich vermittelte und nur suggestiv vorgestellte Inhalte Wirklichkeit erzeugen können. Was lange als „Placebo“ abgetan wurde, wird nun in seiner Wirksamkeit erklärbar.
Vor diesem Hintergrund erscheint plausibel, dass gegenwärtig das von dem Berliner Wissenschaftler Hartmut Schröder geprägte Stichwort der „Kulturheilkunde“ die Runde macht. Ganz so, als bestätigte sich eine Prophezeiung, die Wilhelm von Humboldt vor 200 Jahren auszusprechen wagte: „Es wird der Tag kommen, wo die Menschen erkennen, dass ihre Krankheiten mit ihren Gedanken und Gefühlen zusammenhängen.“ Ein Wort, das die Essenz dessen vorwegnimmt, was im 20. Jahrhundert als psychosomatische Medizin Epoche machte.
Einem ihrer Vordenker, Viktor von Weizsäcker, verdankt sich denn auch der Begriff der „sprechenden Medizin“. Ihn ihm verdichtete sich seine Einsicht in die enge Verwobenheit von Körper und Seele, leiblichen und psychischen Prozessen. Auch diese Erkenntnis war nicht neu. Auch sie rührt her aus der Antike, genauer von Sokrates; wenn wir einer Passage aus Platons Dialog Charmides Glauben schenken. Was Platon seinem Sokrates darin zum Besten geben lässt, liest sich als Programmskizze der modernen Psychosomatik: „Denn alles, sagte er, entspränge aus der Seele, Schlechtes und Gutes dem Leibe und dem ganzen Menschen, und ströme ihm von dorther zu. Jene also müsse man zuerst und am sorgfältigsten behandeln, wenn es um den Kopf und auch um den ganzen Leib gut stehen solle.“
Wie aber, möchte man nun wissen, lässt sich die Seele so behandeln, dass in ihr die Kraft zur Heilung des Leibes entfacht wird? Auch hier ist Sokrates um eine Antwort nicht verlegen: „Die Seele, sagte er, werde durch gewisse Besprechungen behandelt, und diese Besprechungen seien gute Gespräche. Denn durch solche Gespräche entstehe in der Seele Besonnenheit, und wenn diese da ist, sei es leicht, auch den Körper gesunden zu lassen.“
Die Sache klingt plausibel: Wenn Worte heilen können, dann ist das Gespräch diejenige Therapieform, in der die Heilkraft der Sprache zur Geltung kommen kann. So wird erkennbar, welch hohe Relevanz das direkte Gespräch mit dem Arzt für die Genesung eines Kranken hat. Vorausgesetzt, der Arzt beherrscht die Kunst der therapeutischen Kommunikation, die immer eine Kunst des Dialogs ist.
Dieser Kunst des Arztgesprächs hat der Philosoph Hans-Georg Gadamer große Aufmerksamkeit gewidmet. Als Gesprächspartner und Kollege Viktor von Weizsäckers galt sein Interesse der heilenden Kraft es Wortes – von der er als zuletzt über Hundertjähriger viel verstand. In einem Vortrag beschreibt er einmal, worin sich ärztliche Gesprächskunst zeigt: in der klassischen Sprechstundenfrage: „Was fehlt Ihnen?“ Mit ihr spiele der Arzt den Ball in das Feld des Patienten. Nun könne dieser sein Herz ausschütten und sich aussprechen.
Das führe dann dazu, „dass der Patient vergisst, dass er Patient und in Behandlung ist.“ Gadamer weiter: „Wenn einer so ins Gespräch gekommen ist, wie wir uns auch sonst miteinander im Gespräch verständigen, dann regen wir wieder den beständigen Ausgleich von Schmerz und Wohlbefinden an und die sich immer wiederholende Erfahrung der Wiederfindung der Balance.“ Doch gelinge dieses Gespräch erst dann, wenn es dem entspricht, „was wir auch sonst im Zusammenleben kennen, nämlich dass man in ein Gespräch gerät, das eigentlich keiner führt, sondern das uns alle führt.“
Die von Gadamer beschriebene Erfahrung ist nicht ungewöhnlih: Es gibt diese Gespräche, in denen wir unmerklich zu Einsichten geführt werden, die wir nicht gesucht oder erstrebt hatten. Sie fallen uns zu – und sie berühren uns in der Tiefe unserer Seele – ganz so, als habe unsere Seele im Dialog zuletzt mit sich selbst gesprochen. Dass solches geschieht, ist auch der Idealfall des Gesprächs zwischen Arzt und Patient. Und es wäre der Kulminationspunkt einer Heilkunst, an dem Arzt und Patient so kommunizieren, dass sich durch die Harmonie ihrer Kommunikation eine Kohärenz im Gehirn des Patienten einschwingt, die dessen Immunsystem befeuert und aktiviert. Weil im Gespräch die Übereinstimmung der Seele mit sich selbst auf Seiten des Patienten evoziert werden kann, ist ein gutes Gespräch am Ende die beste Medizin.
In der Erkenntnis, das Gespräch und Sprache wichtige Faktoren bei der Heilung sind, kommen sich antike Philosophie und moderne Medizin erstaunlich nahe. Gewiss ist diese Einsicht im modernen Gesundheitswesen erst ansatzweise angekommen. Doch könnte es sein, dass der Tag nicht mehr weit ist, von dem der US-amerikanische Autor Ralph Waldo Trine einst orakelte: „Die Zeit wird kommen, wo die Tätigkeit des Arztes nicht darin bestehen wird, den Körper zu behandeln, sondern den Geist zu heilen, der dann seinerseits den Körper heilen wird. Mit anderen Worten, der rechte Arzt wird ein Philosoph und Lehrer sein und seine Sorge wird es sein, den Menschen gesund zu erhalten und nicht erst wenn er krank geworden ist seine Heilung zu versuchen.“ Es könnte sein, dass auf die Philosophen künftig neue Arbeit zukommt.