Bereits vor dem morgendlichen Blick in den Spiegel ist alles klar: die Nase ist dicht, der Hals gerötet und geschwollen, die Glieder schmerzen und der Kopf brummt bei jeder noch so kleinen Bewegung als hätte man sich die Nacht um die Ohren geschlagen. Letzte Woche noch prahlte man mit seinem mühevoll auf Hochglanz polierten Immunsystem vor seinen hustenden und schnäuzenden Kolleginnen und Kollegen im Büro. Schliesslich hat man viel Zeit und Geld in ausgefallene Sportarten, Sportkleidung und gesunde Ernährung investiert. Das müsste sich eigentlich auszahlen. Doch Viren sind nur sehr bedingt mit grünen Smoothies und teuren Laufleggings zu bestechen. Und so hat es einen nun doch selbst erwischt. Die Rede ist vom alljährlich umhergehenden grippeähnlichen Infekt oder aber – im schlimmsten Fall – ist es vielleicht sogar die richtige Grippe, die berühmte Influenza.
Eigentlich wäre nun, sofern man keiner Risikogruppe angehört, Bettruhe angesagt. Um dem Körper die Ruhe zu geben, die er zur Erholung benötigt, und natürlich auch, um nicht noch weitere Menschen anzustecken. Doch, wie könnte es anders sein, gerade heute steht ein überaus wichtiger Termin an und noch bevor der erste Fuss den Boden berühren kann, kramt man schon nervös in der Nachttischschublade. Sie müssten doch noch irgendwo sein, die ein oder zwei übrig gebliebenen Tabletten der Grippemittelpackung vom letzten Jahr, als es einen auch schlimm erwischt hatte. Die Kapselmaschine lässt man dafür dann lieber einmal ausgeschaltet und statt Coffee-to-go wird es heute ein Paracetamol-to-go zum Frühstück tun müssen. Denn, so wirbt schliesslich ein bekannter Hersteller symptomatischer Grippemittel in seinem Fernsehspot, man könne ja auch „trotz Erkältung, mitten im Leben stehen“ und innerhalb kürzester Zeit wieder „man selbst sein“. Und, in der Tat, aufputschende Wirkstoffe in Kombination mit schmerzmildernden, hustenstillenden und abschwellenden Zusätzen lassen uns innert kürzester Zeit zumindest ein wenig besser fühlen. Wir überstehen den wichtigen Termin und es merkt keiner, dass wir eigentlich krank sind. Später gehen wir nach Hause und mithilfe der grünen Fee unter den Grippemitteln schlafen wir sogar noch gut.
Angemessen und vernünftig dosiert, sind Grippemittel eine gute Sache, könnte man meinen. Sie nehmen den Schmerz, lindern die Symptome und lassen uns durchschlafen, so dass wir einen grippalen Infekt vielleicht nicht gerade angenehm, aber doch sicher angenehmer überstehen können als ohne sie. Grippemittel sind daher nichts anderes als biochemisch nützliche Wirkstoffe. Doch Werbung für Grippemittel kommuniziert weitaus mehr als nur diese biochemische Funktionsweise ihrer Wirkstoffe. Sie erzählt kleine und unscheinbare aus dem Alltag gegriffene Geschichten, die jeder von uns kennt und zu denen es leicht fällt, einen Bezug aufzubauen, beispielsweise wie die zu eingangs erzählte Geschichte. Diese Geschichten sind dabei viel mehr als die vernachlässigbare Rahmung der Werbekommunikation, da man ja irgendetwas erzählen muss, um den Laien nicht unnötig mit komplizierten chemischen Strukturformeln zu belasten. Diese Geschichten enthalten spezifische Vorstellungen darüber, was es heisst krank zu sein, welche Konsequenzen sich im Krankheitsfall ergeben und wie damit umgegangen werden sollte. Werbung greift dazu, um überhaupt funktionieren zu können, bereits bestehende Vorstellungen und Erzählungen von Krankheit und Gesundheit auf, was Louis Althusser Interpellation nennen würde. Die Werbung „ruft“ förmlich nach uns und wir sind reflexähnlich darauf trainiert, diesen Ruf nicht nur zu verstehen, sondern wir fühlen uns sogar angesprochen. Doch, Werbung für Grippemittel macht noch mehr als sich auf narrative Gewohnheiten zu beziehen: sie transformiert die uns allen bekannte Geschichte des frühmorgens erwachenden, leidenden Körper in ein Produkt: das käufliche Arzneimittel. Heilung wird dadurch zu einer Frage des individuellen Konsums verwandelt. Gesundheit ist nicht nur ein erstrebens- und erhaltenswerter Normalzustand, sie ist vor allem käuflich. Wie ist das möglich? Lässt sich Gesundheit und Krankheit immer auf eine Frage des Konsums reduzieren?
Die einfache Antwort lautet nein: nicht alles, was mit Gesundheit, Krankheit und Heilung zu tun hat, lässt sich in der Logik des Konsumierens erzählen. Nicht alles, was mit Krankheit zu tun hat, lässt sich auf ein einfaches Produkt reduzieren. Und genau hier liegt die Krux. Gewisse Aspekte des kranken Körpers müssen von der Werbung stärker betont werden als andere, damit die uns bekannten Geschichten von Krankheit und Gesundheit in ein käufliches Produkt umgekrempelt werden können. Dabei sind es vor allem vier Aspekte des kranken und leidenden Körpers, die von Grippemittelwerbung negativ hervorgehoben werden: Produktivität, Schönheit, Individualität und Macht. Weil es genau diese Aspekte sind, die uns im Krankheitsfall fehlen, so dass sich damit etwas verkaufen lässt.
In zahlreichen Werbespots der letzten Jahre für Grippemittel sieht man daher den typischen und zu eingangs beschriebenen hustenden und schnupfenden Protagonisten, der sich in verschiedenen Alltagssituationen wiederfindet: bspw. an der Bushaltestelle wartend, beim Kopierer im Büro, beim Einkaufen im Supermarkt, in der Bibliothek usw. Wir alle kennen diese Situationen und wissen, wie unangenehm es sein kann, wenn man dann krank ist. Männer werden dabei bevorzugt in professionellen Situationen dargestellt, Frauen hingegen eher im Supermarkt oder zu Hause. Wenn überhaupt, - denn häufig kommt ihnen nur die vermeintlich typisch weibliche Rolle der Betreuerin und Pflegerin zu, indem sie dem kranken, leidenden Mann das entsprechende Grippemittel vertrauensvoll und doch diskret anbieten. Der kranke Körper in der Werbung ist dabei nicht nur gravierend in seiner Funktionalität und Produktivität eingeschränkt, weil er bspw. nicht richtig arbeiten oder mit den Kindern spielen kann, sondern, er erntet auch abschätzige und teils angeekelte Blicke. Wer krank ist, ist eben nicht nur unproduktiv, sondern darüberhinaus, auch nicht schön anzusehen und dementsprechend auch nicht sexy.
Doch niemand sollte, so die Botschaft, einen Arbeitstag verpassen müssen, nur weil er krank ist und niemand sollte eine ästhetische Belästigung für die Augen der Anderen in der Öffentlichkeit sein, weil er hustet, schnupft oder Bauchkrämpfe und Durchfall hat. Krankheit ist dementsprechend vorrangig ein individuelles Problem, das man entweder selbst oder der anonymisierte Andere hat. Dies wird insbesondere durch Grippemittelwerbung besonders deutlich, wenn der Protagonist sich zwar symptomfrei, funktionsfähig und unerkannt in der Gemeinschaft bewegt, aber dennoch vom medizinischen Standpunkt aus gesehen ansteckend bleibt. Aus gemeinschaftlicher und epidemiologischer Perspektive sind die meisten Grippemittelwerbungen eigentlich ein Desaster, denn auch wenn wir uns besser fühlen, frisch und gut aussehen und unseren Job erledigen können, so riskieren wir dabei immer, die anderen anzustecken. Schliesslich ist aber, so die subtile Botschaft der Arzneimittelwerbung, jeder selbst für seine Gesundheit verantwortlich und man sollte sich dementsprechend auch selbst darum kümmern, jeder für sich. Denn man kann ja durch den Kauf des Grippemittels etwas dagegen tun und ist dem Zustand, einen kranken Körper zu haben, nicht länger hilflos ausgeliefert. Der individualisierte Kauf-Akt des Medikamentes wird dadurch in einem Akt der machtvollen Rückgewinnung der eigenen Produktivität und Schönheit inszeniert. In der Werbung wird das dann bspw. durch den Kauf des Medikamentes in der Apotheke dargestellt, oder aber es wird die Einnahme des Produktes gezeigt. Kurz danach hat man dann alles wieder im Griff. Man ist endlich wieder „man selbst“ und steht trotz Erkältung mitten im Leben. Jeder hat dadurch das Recht auf sein eigenes persönliches Leiden und sein eigenes persönlich gekauftes Heilmittel.
Produktivität, Schönheit, Individualität und Macht – funktionieren jedoch nur deshalb als Verkaufsstrategie, weil es eben die idealisierte Vorstellung eines produktiven, schönen und mächtigen Individuums schon gibt und die Werbung dementsprechend daran anknüpfen und diese Vorstellungen weiter reproduzieren kann. Würden wir hingegen in einer Welt leben, in der es nicht weiter schlimm ist, wenn wir bei der Arbeit nicht erscheinen und in der Schönheit und Individualität keine Rolle spielen würden und generell jedes Problem und jede Situation als gemeinsame verstanden werden würde, gäbe es keine Grundlage für die typische Arzneimittelwerbung.
Doch Grippemittelwerbung macht durch die Betonung dieser vier Aspekte des kranken, mangelhaften Körpers noch viel mehr als das: Sie lässt in ihren kurzen und oft schmucklosen Geschichten Krankheit und Gesundheit als zwei scharf voneinander getrennte Sphären erscheinen, die nichts miteinander zu tun haben und in denen Krankheit, die unangenehme, zu vermeidende und bestenfalls kurz andauernde Ausnahme darstellt und Gesundheit, der um jeden Preis erwünschte und dauerhafte Normalfall ist. Wirft man jedoch einen Blick auf die Statistik des Nationalen Gesundheitsberichtes 2015 der Schweiz, so liest man, dass bereits in der Altersgruppe zwischen 25 und 34 Jahren knapp jeder fünfte an einer chronischen Krankheit leidet. Ab 75 Jahren ist es bereits jeder zweite. Mit steigender Lebenserwartung wird die Anzahl der chronisch Kranken in unserer Gesellschaft weiter zunehmen. Ab einem bestimmten Altern wird es daher für uns alle mehr als unwahrscheinlich sein, einen vollständig gesunden, makellosen und immer perfekt funktionsfähigen und selbstgenügsamen Körper zu haben, so dass die scharfe Trennung von gesunden und kranken Körpern höchst kritisch zu hinterfragen ist. Vor allem die Setzung des vollständig gesunden Körpers als Norm erscheint vor dem Hintergrund dieser Zahlen mehr als problematisch. Wenn die Mehrheit der Menschen den Grossteil ihres Lebens nicht ganz gesund verbringen wird und überhaupt immer mehr Menschen irgendwie krank als gesund sind, ist dann nicht eher der kranke statt der vollständig gesunde Körper die Norm? Ist es nicht eher so, dass die Gesunden sowieso immer nur vorläufig gesund sind und irgendwann dem Reich der Kranken angehören werden? Ist dann Gesundheit und Krankheit nicht sehr viel mehr als nur eine Frage des Konsums, sondern ein gemeinschaftlich geteiltes Anliegen?
Nun liesse sich einwenden, dass eben genau aus diesem Grund – zumindest in der Schweiz, in den USA sieht es da anders aus – Werbung für verschreibungspflichtige Medikamente verboten ist und es eben „nur“ Grippemittel sind, für die in öffentlichen Medien geworben werden darf. Das mag sein. Doch in welch anderen Medien ausser den öffentlichen Werbeblöcken werden uns Geschichten von Krankheit und Gesundheit überhaupt erzählt? Arztserien und –filme, die das Fernsehprogramm nahezu überspülen, konzentrieren sich ähnlich wie Arzneimittelwerbungen ebenfalls vorrangig auf die Erzählung der Krankheit als dramatische Ausnahme, der dann mit ebenso dramatischen Mitteln durch einen genialen chirurgischen Eingriff begegnet werden muss. Es ist schlichtweg spannender, Krankheit so zu erzählen, als den 40 Jahre andauernden Krankheitsverlauf eines moderaten Diabetikers darzustellen, der am Ende seines Lebens den Folgen einer multiplen, nicht mehr eindeutig zu diagnostizieren Komorbidität erliegt. Die Ökonomie des Erzählens verläuft hier ganz ähnlich wie in der Werbung. Romane, Independent-Filme, Dokumentationen sowie Krankheitstagebücher über und von echten PatientInnen, wie beispielsweise Audre Lordes Krebstagebuch „Auf Leben und Tod“ (im Englischen „The Cancer Journals“), die mittlerweile nicht nur als Buch, sondern auch online in unzähligen Blogs zu finden sind, zeigen da einen realistischeren und ungeschönten Zugang. Doch anders als bei Werbungen für Grippemittel, kommen sie im öffentlichen Raum schlichtweg weniger häufig vor. Darüberhinaus zeigen diese Krankheitstagebücher eindrücklich wie sehr PatientInnen an den Folgen der Überrepräsentation der oben genannten Aspekte zu leiden haben. Der kranke und schwerkranke Körper leidet nicht nur daran, krank zu sein, Schmerzen zu haben und vielleicht sogar dem Tod ins Auge sehen zu müssen. Er leidet vor allem auch daran, nicht mehr so schön und produktiv zu sein wie ein gesunder Körper. Wenn beispielsweise einem Krebspatienten durch die Chemotherapie die Haare ausfallen und die Scham davor, als krank identifiziert werden zu können, bisweilen mächtiger ist als die Angst, zu sterben. Wenn Patienten mit Hautkrankheiten das Tragen kurzer Kleidung oder den Besuch öffentlicher Bäder im Sommer meiden. Kranke leiden daran, dass sie mehr als kaputtes Objekt gleich einem Autowrack wahrgenommen werden und nicht mehr als empfindsames Individuum, und dass die Möglichkeiten, sich individuell auszudrücken dauerhaft eingeschränkt sind. Weil vielleicht eine Lähmung vorliegt und man sich nie wieder ohne Hilfe alleine fortbewegen können wird oder aber ein Sinnesorgan verloren gegangen ist und nie wieder Musik gehört oder gemacht werden kann. Schliesslich leidet er daran, und dieser Punkt kann in seiner ganzen Tragweite gar nicht genug betont werden, dass er in seinem Leiden im wahrsten Sinne des Wortes unsichtbar gemacht wird. Nicht nur, weil der dauerhaft oder schwerkranke Körper viel zu selten in den Medien repräsentiert wird und es auch kein Produkt gibt, das als magische Lösung für solche Happy End-befreiten Körper verkauft werden kann, sondern vor allem auch, weil die öffentlichen Zugänglichkeiten nach wie vor mehr als bescheiden organisiert sind. Jeder, der schon mal auf Krücken gehen musste, weiss wie wichtig Aufzüge und Niederflurtrams sein können und es ist kein Zufall, dass in manchen Stadtteilen und Gebäuden eben nicht alle trotz Krankheit im wahrsten Sinne des Wortes „mitten im Leben stehen“ können. Nicht alle können stehen, nicht alle können gehen. Krankheit, das bedeutet aber oftmals den nicht nur partiellen und vorübergehenden, sondern den ultimativen und dauerhaften Autonomie- und Machtverlust. Krank zu sein erinnert uns in letzter Instanz daran, dass wir als Menschen immer Gefahr laufen, verletzlich zu sein und dadurch auf die Gemeinschaft mit und Hilfe von anderen angewiesen sind. Genau deshalb ist der kranke Körper eine permanente Herausforderung des modernen Individualismus und setzt ihm eine als bedrohlich wahrgenommene Grenze entgegen, so dass man nicht gerne an seine eigene Bedürftigkeit und Verletzlichkeit erinnert wird. Dabei ist es gar nicht immer der eigene, verletzliche individuelle Körper, der uns krank macht, sondern es sind vor allem die von Menschen gemachten Umgebungen, Infrastrukturen, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, die uns erst so richtig krank fühlen lassen. Trotz Krankheit „mitten im Leben stehen“ kann man eben nicht nur dann, wenn man sich die entsprechende Pille kaufen kann und überhaupt die Beine dazu hat, sondern vor allem dann, wenn eine Gemeinschaft es all ihren Mitgliedern jederzeit und überall ermöglicht.