Gesunde und kranke Irrationalität: Die Kontinuitätsthese

Obschon Gesundheit gerade nicht nur als die Abwesenheit von Krankheit definiert wird, sondern als positives Phänomen (etwa als „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens“, WHO-Definition), gehört die philosophische Aufmerksamkeit mehrheitlich ihrem Gegenteil, der Krankheit.

    Krankheit findet als Devianz, als Abweichen von Normen, als allgemeiner Prüfstein für Kognitions- oder Handlungsmodelle öfters und expliziter Eingang in die philosophische Diskussion als Gesundheit. Verhält sich Philosophie zum Gesundheitsbegriff, so tut sie dies hauptsächlich in zwei Weisen: einerseits in expliziter Form als Philosophie der Medizin, Biologie, Psychologie oder Psychiatrie, andererseits aber auch und viel mehr in impliziter Form, indem sie in ihren Modellen und Theorien, z.B. des Geistes, Handelns oder Erkennens, stets ein ideales, gesundes Subjekt (oder: den Normalfall) voraussetzt (ein beachtliches Gegenbeispiel findet sich bei Merleau-Ponty, welcher sich die gesunde Existenz vom Krankheitsfall her erschliesst, in: Phänomenologie der Wahrnehmung, 1976). Besonders interessant erscheint mir die Beschäftigung mit der zweiten, impliziten Bezugnahme auf den Begriff von Gesundheit, welche so auch innerhalb der Krankheitstheorien selbst geschieht. Gerade in solchen Theorien, deren Ziel es ist, eine begriffliche Bestimmung von körperlicher und psychischer Krankheit zu entwickeln, können die impliziten Annahmen vom gesunden Zustand explizit werden, da über die Bestimmung der Devianz auch negativ der gesunde Zustand oder Normalfall benannt wird.

    Beginnen wir mit einem Bespiel: James ist davon überzeugt, dass sein Nachbar ihn durch seinen Toaster kontrolliert, und mittels dieses Toasters giftige Elektrowellen aussendet, die James und seiner Frau gesundheitlich schaden. Diese Überzeugung, so würden wir ohne gross zu zögern zugeben, ist eine irrationale Überzeugung. James hat diese Überzeugung, weil er an Wahnvorstellungen leidet, er ist paranoid-schizophren. Das DSM-5 (Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders) beschreibt Wahnvorstellungen folgendermassen: „Delusions are fixed beliefs that are not amenable to change in light of conflicting evidence“ (DSM 5, 297.1, F 22). James’ Überzeugungen qualifizieren sich also gerade dann als Wahnvorstellungen, wenn James diese Überzeugungen auch im Lichte einsichtiger Gegenbeweise liefern, z.B. dass sein Nachbar ausgezogen ist, der Toaster schon drei Mal ausgetauscht wurde, medizinisch keine Verletzungen nachzuweisen sind etc. nicht aufzugeben bereit ist.

    Psychische Krankheiten, so sehen wir an diesem Beispiel, werden auch in den psychiatrischen und psychologischen Wissenschaften selbst mit geistigem oder genauer: epistemischem Vokabular beschrieben.[1] Aufgrund fehlender neurologischer Erklärungen und der Unmöglichkeit, eine Vielzahl psychischer Krankheiten eindeutig über Ursachen zu bestimmen, werden psychische Krankheiten generell vermöge von Symptomen beschrieben und unterschieden (siehe DSM). Die Erfassung von Krankheitssymptomen bedeutet eine Beschreibung der phänomenal-manifesten Merkmalen dieser Krankheiten, d.h. sie erfasst dasjenige, was beobachtet und erlebt werden kann, und beschreibt psychische Krankheit so, sie sich in unserer phänomenalen Erfahrung zeigt. Diese beobachtbaren Merkmale von Verhalten und Erleben psychischer kranker Menschen werden oft mittels epistemischer, d.h. erkenntnistheoretischer Termini beschrieben, deviantes Verhalten und Erleben wird dann unter den Aspekten von Wahrheit, Wissen, Überzeugung und Rationalität beschrieben (Bortolotti 2013: 60). Die oben aufgeführte Definition von Wahnvorstellungen („fixed beliefs that are not amenable to change in light of conflicting evidence“) beschreibt diese etwa als festgelegte Überzeugungen einer Person, welche diese auch bei widersprüchlicher Evidenz nicht bereit ist aufzugeben. Eine solche Bestimmung von Überzeugung schreibt jener Irrationalität im klassischen Sinne zu: Wahnvorstellungen sind Überzeugungen, die auf schlechten oder gar keinen ersichtlichen Gründen beruhen und nicht ‚empfänglich’ (engl. amenable) für widersprechende Evidenz sind (= auch bei einer veränderten Beweislage nicht angepasst werden) – sie sprechen nicht auf Gründe an. In ebendieser Bestimmung von Wahnvorstellungen als irrationalen Überzeugungen ist negativ ebenso eine Bestimmung von gesunden Überzeugungen impliziert; diese müssten dann rationale, für Evidenz empfängliche Überzeugungen sein. Tatsächlich müssen Überzeugungen, um das Kriterium der Rationalität zu erfüllen, typischerweise durch (1) Evidenz gestützt sein, d.h. man bedarf der Gründe, Sinnesevidenz u. Ä., welche das Haben dieser Überzeugung begründen und stützen, sowie (2) müssen Überzeugungen für Gegenbeweise empfänglich sein, d.h. sie müssen anhand neuer Erkenntnisse verändert, angepasst oder fallengelassen werden (Bortolotti 2013: 74). Wenn M der Überzeugung ist, dass bei den Kaiserpinguinen die Männchen die Eier ausbrüten, dies aufgrund einiger Aufsätze, die sie gelesen hat, nachdem sie zuvor der Überzeugung war, dass dies eigentlich die Weibchen tun würden, durch die Evidenz der Aufsätze jedoch ihre Überzeugung angepasst hat, so wäre dies eine prototypisch rationale Überzeugung.

    Die Bestimmung des Begriffs von psychischer Krankheit verläuft in diesem Fall also über eine Abbildung des Begriffspaars Gesundheit/Krankheit auf eine weitere Opposition, nämlich auf diejenige von Rationalität/Irrationalität. Genügt aber diese Opposition als Explikat für die Bestimmung gewisser Instanzen von psychischer Krankheit, in diesem Fall Wahnvorstellungen? Die Beschreibung und Definition psychischer Krankheiten orientiert sich an normativen Begriffen wie demjenigen der Rationalität. Die Bestimmung des Krankheitsfalls vermöge einer Opposition legt dabei nicht nur diesen fest, sondern bestimmt als Opposition auch das, was der Krankheitsfall nicht ist, also worin sein Gegenteil liegt: den idealen Normalfall und damit gesunde Kognition. Ideal ist die Bestimmung deshalb, weil zahlreiche Instanzen, wenn nicht sogar eine Mehrzahl unserer alltäglichen Kognitionen, eine solche Definition von rationaler Überzeugung nicht erfüllen. Die meisten unserer Überzeugungen sind nicht ausreichend durch Gründe oder Evidenz gestützt und manchmal nicht empfänglich für Gegenevidenz, daher geschieht es uns, dass wir z.B. eine ganze Auswahl an falschen Überzeugungen über uns selbst und die Welt haben. Anstatt uns nur mit Überzeugungen der Art von M’s Überzeugungen zum Brutverhalten von männlichen Kaiserpinguinen auseinanderzusetzen, kann sich ebenso an ganz anderen und doch alltäglichen Überzeugungen ein Bespiel genommen werden. Q, beispielsweise, hat die Überzeugung, dass sein Sohn Georg überdurchschnittlich intelligent sei; dieser Überzeugung ist Q einfach aufgrund dessen, dass Georg sein Sohn ist. Auch ist Q unempfänglich für Gegenevidenzen wie die schlechten Noten, die sein Sohn nach Hause bringt, auch gegenüber Georgs Klagen, dass er im Unterricht nicht mitkommen würde und gerne Hilfe in Anspruch nehmen würde. Q’s schlecht begründete Überzeugung, die er sich nur über das Selektieren von Evidenzen und Ausblenden von Gegenteiligem erhalten kann, beschreibt einen typischen Fall von Selbsttäuschung. Selbsttäuschungen, ganz wie Wahnvorstellungen, sind irrationale Überzeugungen. Überzeugungen solcher Art machen jedoch, entgegen der üblichen Annahme, innerhalb der gesunden Kognition nicht ‚die Ausnahme der Regel’ aus, sondern stellen einen grossen Teil unserer alltäglichen Kognitionen, und somit oft einen erheblichen Teil unserer Überzeugungen dar.[2] Häufiger noch als Selbsttäuschungen und Fälle von Wunschdenken sind unter unseren Überzeugungen solche, welche durch sogenannte biases (kognitive Verzerrungen) beeinflusst werden, bspw. durch den sog. confirmation bias. Dieser etwa drückt sich darin aus, dass Menschen dazu tendieren, Informationen so auszuwählen, zu interpretieren etc., dass ihre eigenen Erwartungen und vorherigen Annahmen bestätigt werden. Dies wiederum resultiert oft in falschen Überzeugungen, welche auf nicht-rationale Weise zustande kamen (nicht aufgrund guter Gründe, sondern aufgrund ebenjenes biases).[3] Auch rassistische, sexistische oder abergläubische Überzeugungen sind klare Fälle von irrationalen Überzeugungen, diese Überzeugungen sind weder durch gute Gründe gestützt, und noch viel weniger sind sie empfänglich für Gegenevidenz. Was sollen uns nun diese Beispiele von irrationalen Überzeugungen, die Teil von gesunden Kognitionen sind, aufzeigen?

    Offensichtlich zeigen sie, dass faktische gesunde Kognition keineswegs nur mit rationalen Überzeugungen operiert, sondern gerade dass ‚gesunde’ Überzeugungen den Rationalitätskriterien oft nicht genügen. Eine Auswahl von Gegenbeispielen und ein Vergleich mit empirischer Forschung zur menschlichen Kognition (siehe Fussnote 2) zeigen immer wie klarer, dass diese impliziten Annahmen von bspw. Rationalität einen zu hohen Anspruch an das faktisch denkende und handelnde Subjekt stellen, indem sie diesem ein zu ideales Handeln, eine perfekte Kognition attestieren. Folglich lässt sich die implizierte Unterscheidung von psychischer Gesundheit und Krankheit nicht einfach anhand des Kriteriums blosser Rationalität bzw. Irrationalität ziehen. Eine mögliche Antwort auf das so gestellte Problem bestünde nun darin, verschiedene Arten von Irrationalität zu unterscheiden (z.B. ‚kranke’ und ‚gesunde’ Irrationalität), um trotzdem ein Kriterium zur kategorischen Unterscheidung von gesunder und kranker Kognition zu haben. Gallagher (2009) und Sass (2001) versuchten ebendies, indem sie versuchten diejenige Form von Irrationalität, welche im Zusammenhang mit psychischen Krankheiten auftritt, aufgrund deren fehlenden Bezugs zur Realität von anderen Formen der Irrationalität abzugrenzen. Dieses Kriterium jedoch, wie Bortolotti richtig bemerkt, reicht nicht aus, um eine eigene Form von Irrationalität zu unterscheiden: Menschen mit rassistischen Überzeugungen wie ‚Alle Ausländer sind kriminell’ beziehen sich offensichtlich ebenfalls nicht auf die world of facts, genauso wie Verschwörungstheoretiker, welche von einer flachen Erde ausgehen, sich nicht auf die physikalischen Gesetze beziehen, welche unsere Wirklichkeit bedingen. Lässt sich also kein Kriterium für eine kategorische Unterscheidung zwischen kranker und gesunder Kognition, oder genauer zwischen kranken und gesunden Überzeugungen finden, so muss der Schluss gezogen werden, dass die Unterscheidung von Rationalität und Irrationalität keine kategorische, sondern eine graduelle ist. Wird Rationalität tatsächlich zum Definiens für den Begriff von psychischer Gesundheit/Krankheit genommen, dann folgt, dass dieser eine Frage von Graden ist und sich auf einem Kontinuum erstreckt, auf welchem ein Zustand in den Anderen übergeht.

    Es ergeben sich schlussendlich zwei Konsequenzen: (1) Unsere Begriffsbestimmungen vom ‚normalen’ Denken und Handeln müssen adäquater als Spektren gefasst, und von idealisierten Kategorien befreit werden. Die philosophische Diskussion darüber, wie wir denken und handeln, ist nicht nur eine Frage danach, wie wir denken und handeln sollten, sondern muss wie im Fall von Krankheitstheorien miteinbeziehen, wie wir faktisch denken und handeln. Eine Fokussierung auf die faktische Kognition ist hier deshalb zentral, weil es gerade darum geht, anhand der Beschreibung von faktischen Kognitionen den gesunden vom kranken Fall zu unterscheiden. Es ist gerade vor dem Hintergrund dieser Faktizität, dass wir realistische Anforderungen (Normen) an diese Vermögen stellen können. (2) Das Verständnis von psychischer Gesundheit als sich in Kontinuität mit – und nicht kategorisch unterschieden von – psychischer Krankheit befindlich, und die Feststellung, dass sich vermittelst binärer Oppositionen (z.B. Rationalität/Irrationalität) keine scharfe Grenze zwischen diesen beiden Zuständen ziehen lässt, trägt wiederum zur Enstigmatisierung von psychisch Kranken bei. Obwohl Gesundheit und Krankheit eine binäre Opposition auszumachen scheinen, lässt sich diese Opposition nicht durch eine weitere Opposition erklären; sowohl gesunde als auch kranke Kognition liegen auf einem Kontinuum, das sie auch miteinander verbindet.


    [1] Die folgende Argumentation verdanke ich Lisa Bortolotti in Delusions and Others Irrational Beliefs (2009), sowie Irrationality (2013).

    [2] Klassische Forschung dazu findet sich bei: Nisbett & Ross 1980; Tversky & Kahneman 1974, 1983; oder Wason 1960. Für einen Überblick über die gesamte Forschungsliteratur eignet sich: Mercier & Sperber 2011.

    [3] Hierbei handelt es sich oft (aber nicht immer) um eine Form von Irrationalität, welche nicht in unserer Kontrolle liegt, d.h. wir sind uns dieser kognitiven Verzerrungen nicht bewusst, weshalb wir sie auch nicht ausschalten oder kontrollieren können. Dies ist im Hinblick auf die Irrationalität von psychisch kranken Kognitionen höchst interessant, da die Irrationalität dieser Kognitionen ebenso nicht in der Kontrolle des Erkenntnissubjekts liegt.