Die Krankheit einer Zeit

An Philosophieinstituten ist bekannt, dass Wittgenstein nicht viel übrig hatte für den Geist der Zivilisation, in der er lebte. Sein Kulturideal bezeichnete er einmal als Fortsetzung eines Ideals der Zeit Schumanns, allerdings nicht in seiner tatsächlichen Entwicklung während der zweiten Hälfte des 19ten Jahrhunderts.

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    „Die Krankheit einer Zeit heilt sich durch eine Veränderung in der Lebensweise der Menschen (...).Denke, dass der Gebrauch des Wagens gewisse Krankheiten hervorruft und begünstigt und die Menschheit von dieser Krankheit geplagt wird, bis sie sich, aus irgendwelchen Ursachen, als Resultat irgendeiner Entwicklung, das Fahren wieder abgewöhnt.“ (BGM S. 132 §23)

    An Philosophieinstituten ist bekannt, dass Wittgenstein nicht viel übrig hatte für den Geist der Zivilisation, in der er lebte (VB S. 459). Sein Kulturideal bezeichnete er einmal als Fortsetzung eines Ideals der Zeit Schumanns, allerdings nicht in seiner tatsächlichen Entwicklung während der zweiten Hälfte des 19ten Jahrhunderts (VB S. 453). Wie viele seiner Wiener Zeitgenossen nahm auch Wittgenstein im Zusammenbruch alter europäischer Ordnungen kulturelle Verfallserscheinungen wahr. Verlust und Suche nach Daseinsorientierung waren durchmischt mit begeisternden wie überfordernden industriell-technischen Beschleunigungsphänomenen.

    Heutigertage beschreibt Philipp Blom den damaligen Wandel im Geschlechterverhältnis als die zentrale gesellschaftliche Umwälzung (DTK S. 12). Im Wien der Vorkriegsjahre führt der junge Otto Weininger jeden vermeintlichen Makel der Moderne zurück auf quasi überhandnehmende schon pathologische Verweiblichung der Europäer (G&C Kapitel XIV).
    Krankheitsbezichtigung und Heilungsversprechen sind uns mittlerweile hinlänglich bekannt. Sei es der Wertkonservativismus des Hauses Habsburg jener Jahre, Radikalisierung in Nationalismen oder anderweitigen Ideologien oder ein wissenschaftlich geprägter Fortschrittsoptimismus. Sie sind alle Symptome einer Denkweise, die verlorengeglaubte Sinnzusammenhänge über geistige Kurzschlussreaktionen zu restituieren oder erst zu erzeugen sucht. In dieser Denkweise sieht/wünscht man sich von einer apriorischen, d.h. von der Zufälligkeit des Erfahrbaren freien und damit wesenhaften Ordnung geleitet, welcher man sozusagen naturgegeben nicht zu widerstreben hat. Wittgenstein sieht den Begriff des Apriori gar in der ganzen vergangenen europäischen Kultur begründet (DB S. 45), ein Begriff jedoch, den es seiner Haltung nach mit der dazugehörigen Lebensweise zu überwinden gilt.

    Wittgenstein selbst schlägt keine sinnstiftende Lebensform vor. Eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens und damit nach handlungsleitenden Normen sucht man vergeblich. Derlei allgemein formulierte Antworten erwiesen sich selbst wohl schnell als Phrase oder Ideologie. Dennoch betreibt er nach eigenen Aussagen „Propaganda für den einen Denkstil, nicht für den anderen“ (V&G S. 44f.), dafür, sich einen Denkstil abzugewöhnen und einen anderen anzunehmen, „sich den Gebrauch des Wagens wieder abzugewöhnen“. Gegen die von der Vorstellung apriorischer Wesenheiten geleitete Tendenz immer mehr Phänomene durch eine vermeintlich „wahres“ Begriffsnetz zu sehen und andere Betrachtungsweisen aus den Augen zu verlieren oder ihre Möglichkeit bzw. Richtigkeit zu leugnen – von der alternativen wissenschaftlichen Theorie über die Lebenswirksamkeit religiösen Glaubens zu Lebensweisen anderer Kulturen – setzt er auf methodologische Umkehr der Verhältnisse: Differenzierung in übersichtlichen Darstellungen (PU §122) begrifflicher Landschaften und Beispielfülle statt Monokost.

    „Der Mensch sieht wohl, was er hat, aber nicht, was er ist. Was er ist, ist gleichsam wie seine Höhe über dem Meeresspiegel, die man meistens nicht ohne Weiteres beurteilen kann.“ (VB S. 520)

    Tiefes Interesse ohne ideologischen Beigeschmack an einem Verständnis der eigenen „Lage über dem Meeresspiegel“. Dazu müssen wir „zu den Quellen niedersteigen, um sie alle nebeneinander zu sehen, die vernachlässigten und die bevorzugten.“ (VB S. 536) An diesen Quellen zeigen sich die „möglichen Gebäude“ (VB S. 459) entgegen einer Sicht, die ihre Fundamente für endgültige hält, somit die eigene Entwicklung verabsolutiert und Verständnis und Vergleich soziokultureller Praktiken verunmöglicht. Wittgensteins Philosophie stellt der Idee nach den Kern einer Gesellschaftsreformation, die sich folglich nicht allein, nicht einmal primär, auf den akademischen Bereich beschränkt sehen will. Zusammen mit Bloms Parallelisierung der ersten 14 Jahre des 20sten Jahrhunderts zu unserer Zeit und ihren Drängnissen schließen sich Fragen an (DTK S. 12ff.). Ist unser Pluralismus tatsächlich bloß das „wenig imposante Schauspiel einer Menge, deren Beste nur privaten Zielen nachstreben“ (VB S. 459)? Bestünde nach dieser Einschätzung Handlungsbedarf? Wittgenstein fügt augenblicklich an, „dass es auf das Schauspiel nicht ankommt.“ (VB S. 459) Das Verschwinden einer Kultur bedeute nicht das Verschwinden menschlichen Wertes allgemein, sondern gewisser Ausdrucksmittels dieses Wertes (VB S. 459). Nicht erst seit gestern werden medial phrasengetränkte Wertdebatten geführt, kulturelle Selbstverständnisse beschwört, die wir angeblich teilen, wahlweise als Angehörige einer bestimmten Nation, Mitteleuropäer, Nordeuropäer oder ganz und gar Europäer christlicher Wertegemeinschaft. Es fragt sich, ob Phrasen als Ausdrucksmittel genügen oder ob ihr massenhafter Gebrauch womöglich auf eine Art Mangelerkrankung hindeutet, aufgrund deren man immer wieder Symptom gegen Symptom auszuspielen versucht.


    Quellen

    • Blom, Philipp: Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914. München, Deutscher Taschenbuch Verlag, 2014. (Im Text gekürzt: „DTK“.)
    • Wittgenstein, Ludwig: Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik. Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1984. (Im Text gekürzt: „BGM“.)
    • Ders.: Denkbewegungen. Frankfurt a.M., Fischer Taschenbuch, 2000. (Im Text gekürzt: „DB“.)
    • Ders.: Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a.M., Suhrkamp, 2014. (Im Text gekürzt: „PU“.)
    • Ders.: Vermischte Bemerkungen. Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1984. (Im Text gekürzt: „VB“.)
    • Ders.: Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychoanalyse und religiösen Glauben. Frankfurt a.M., Fischer Taschenbuch, 2000. (Im Text gekürzt: „V & G“.)
    • Weininger, Otto: Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. München, Matthes & Seitz, 1980. (Im Text gekürzt: „G & C“.)