Die Zukunft der Science Fiction

„Wenn du die Zukunft kennst, dann hast du keine Zukunft!“ Michael Jennings

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    In Philip K. Dicks Geschichte „Paycheck“ [1952, dt. „Zahltag“] geht es um die lebenspraktische Bedeutung der Zukunft für uns Menschen. Angenommen, es gäbe eine Technologie, die uns in die Zukunft blicken ließe, könnten wir das überhaupt vernünftigerweise wollen? – Die Antwort lautet: „Nein!“ – In der erstaunlich guten Verfilmung dieser Geschichte von John Woo aus dem Jahr 2006 [mit Ben Affleck und Uma Thurman] werden Dicks Hauptperson Michael Jennings die Worte in den Mund gelegt: „Wenn du die Zukunft kennst, dann hast du keine Zukunft!“ – Darin drückt sich der alte geschichtsphilosophische Gedanke aus, dass die epistemische Unverfügbarkeit der Zukunft Mangel und Chance zugleich bedeutet: Sie ist einerseits Ausdruck der Endlichkeit unserer Existenz und des Ausgeliefertseins an ein ungewisses Schicksal als unbekannter höherer uns bestimmender Instanz, aber gerade dadurch erfüllt sich andererseits die eigentliche conditio humana, indem sich der menschliche Handlungsraum für „alles Mögliche“ öffnet und der Mensch sich als frei im Sinne einer Autonomie des Willens erkennen kann. Nur wenn die Zukunft nicht zu unserer technischen Handlungsverfügung steht, sondern abstrakt und völlig unbestimmt und offen als bloße logische Möglichkeit gedacht wird, nur dann können wir uns als freie selbstbestimmte Vernunftwesen behaupten. Denn die Unverfügbarkeit der Zukunft ist nur ein anderer Ausdruck für die Unabhängigkeit des Menschen von jeder Form von natürlichem oder auch psychologischem Determinismus.

    Das ist eine besondere Gestalt der in allen Texten des Science-Fiction-Autors Philip K. Dick wiederkehrenden politischen Grundthese: vor dem historischen Hintergrund des Kalten Krieges, des unmenschlichen Wettrüstens der beiden unversöhnlich sich gegenüberstehenden Machtblöcke und der beinahe unausweichlichen Drohung der globalen Vernichtung in der nuklearen Katastrophe beschwört Dick den unaufhörlichen und meist vergeblichen Kampf des einzelnen konkreten Menschen gegen all die unbekannten die menschliche Existenz bedrohenden Monster wie das Schicksal, das Unbewusste, der Zufall. Mit diesem Anspruch reiht sich Dick in eine – leider bis heute verhältnismäßig kleine – Gruppe von Autoren ein, die der Science Fiction eine besondere literarische Bedeutung verleihen konnten.

    Science Fiction ist in unserer modernen westlichen Welt derjenige Kulturbereich, in welchem sich die Menschen am auffälligsten und eindringlichsten Gedanken über die Zukunft machen. Dabei deutet der Ausdruck Science Fiction bereits das Hauptproblem an: Aus der Tradition des Industrieromans des 19. Jahrhunderts entsprungen repräsentiert Science Fiction eine ganz besondere Art von „Geschichtsphilosophie“: Der wissenschaftlich-technische Fortschritt gibt das Maß für die Bewegungsrichtung der Geschichte überhaupt ab. Das Revolutionäre des „modernen Denkens“ besteht darin, den Menschen als Naturwesen zu verstehen, das durch Biologie und Psychologie vollständig zu beschreiben ist. Deshalb wird in dieser ersten Hochzeit des Positivismus die Geschichte ausschließlich als die Entwicklung der Naturerkenntnis verstanden. Über weite Strecken hat die Science Fiction bloß dieses unhistorische Weltverständnis reproduziert. Das ist einer der Gründe, warum die Science Fiction heute – selbst dort, wo sie nicht mehr nur Trivialliteratur ist – bei Literaturfreunden eine so schlechte Presse hat. Denn hier geht es oft nur sekundär um wirkliche Menschen und ihre Probleme, und der Bezug auf die Zukunft und das Leben auf anderen Sternen ist oft so gekünstelt, dass nicht einzusehen ist, warum man sich nicht statt dessen besser an die in jeder Hinsicht viel reichhaltigere ‚normale‘ Weltliteratur halten sollte.

    Aber worin genau besteht der Unterschied in der geschichtsphilosophischen Auffassung der Zukunft, die die Science Fiction irrelevant zu machen droht?

    Unser menschliches Dasein ist ganz eng mit der Zeit verknüpft. Die Dynamik der verfließenden Zeit ist gewissermaßen der Modus unserer Existenz. Dies ist von Denkern aller Epochen immer wieder herausgestellt worden. Ohne in die Abgründe einer philosophischen Anthropologie hinabsteigen zu müssen, kann man feststellen, dass die Zeit grundsätzlich auf zwei verschiedene Weisen mit der menschlichen Realität verbunden ist, je nachdem, ob wir (1) die äußere Natur – objektiv und deskriptiv – als das Wirkliche auffassen; die Zeit ist dann eine Naturerscheinung, d. h. sie ist die Form, in welcher alles natürliche Geschehen zu beschreiben ist. In diesem Modus haben – und brauchen – wir keinen Begriff von der Zeit. – Oder ob wir (2) – subjektiv und reflexiv – unser je eigenes geistiges Sein als unsere Realität beschreiben. Das ist eine ganz besondere menschliche Kulturleistung; seit Herodot und Thukydides im 5. vorchristlichen Jahrhundert die Geschichte „erfunden“ haben, können die Menschen ihre Wirklichkeit mit geschichtsphilosophischen Begriffen wie Vergangenheit und Erinnerung, Gegenwart und Erleben, und – freilich historisch erst viel später – auch mit der Zukunft beschreiben.

    (1) Insofern also die Natur als die Wirklichkeit des Menschen betrachtet wird – wie das eben im Positivismus, Szientismus und Naturalismus der Moderne der Fall ist – , begegnen uns die Zeit-Extasen [Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft] bloß in Form äußerer oder objektiver Ereignisrelationen. Ereignisse haben in Koordinatensystemen festlegbare Raum- und Zeitstellen. Die Natur wird von der Gültigkeit des Kausalprinzips beherrscht. Sie ist ein Geflecht kausaler Beziehungen, so dass alles, was existiert bzw. sich ereignet in seinem „So-Sein“ als Wirkung kausaler Ursachen betrachtet werden muss; es kann nichts Unverursachtes geben. Die kausale Relation ist nicht eine logische, sondern eine zeitliche Folge, bei der die Wirkung notwendig, d. h. gesetzmäßig auf die Ursache folgt. Vergangenheit und Zukunft sind bloß Operationalisierungen dieser objektiven Verhältnisse: „Aus der Sicht“ der Wirkung liegt die Ursache in der Vergangenheit, während aus der Sicht der Ursache die Wirkung als das gesetzmäßig „notwendig Folgende“ bzw. Zukünftige erscheint. Die Zukunft ist hier also eigentlich kein Begriff, sondern ein – notwendig gedachter – Sachverhalt. Als solcher war er den Menschen immer schon und also auch lange bevor die Menschen einen (geschichtsphilosophischen) Begriff der Zukunft hatten, bekannt. Die Menschen können überhaupt nur zielgerichtet handeln, wenn sie ihre Handlungszwecke als notwendige Wirkungen ihres Handelns prognostizieren können. Eben dies heißt Selbstgesetzgebung. Zukunft in diesem notwendigen Sinn begegnet uns im Alltag hauptsächlich in Fahrplänen, Speisekarten, Programmheften und Terminkalendern.

    (2) Die andere Möglichkeit besteht darin, den Menschen nicht primär als Teil einer Naturordnung [Platons kósmos horatos, die „Ordnung des Sichtbaren“], sondern Teil einer geistigen Ordnung [das ist Platons kósmos nóētos, die „Ordnung des Denkens“] zu bestimmen. So erklären uns viele Philosophen, wie beispielsweise Ernst Cassirer, dass die Geschichte „die eigentliche Wirklichkeit des Menschen“ sei. Und die Geschichte als geistige Wirklichkeit gehört somit in die Domäne des Wissens. Dieses Wissen von der Geschichte ist freilich nicht „objektiv“, also keine „Objekterkenntnis“, weshalb Aristoteles denn auch sagt, dass von der historíē keine Wissenschaft [epistēmē] möglich sei. Es ist bezogen auf ein Subjekt, welches in diesem „Wissen“ immer nur seine eigene Existenz als „geschichtlich“ erkennt, und zwar insofern es diese Existenz als gegenwärtig erlebt, aber zugleich sich ihrer Endlichkeit bewusst ist, insofern sie zu einem bestimmten Zeitpunkt (der Geburt) in der Vergangenheit begonnen hat und ebenfalls zu einem bestimmten Zeitpunkt (dem Tod) in der Zukunft enden wird.

    Die geschichtsphilosophischen Begriffe der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft sind also keine Erkenntnisbegriffe im engeren Sinne, die sich direkt auf Wirkliches beziehen, das sie bezeichnen [wie empirische Begriffe], sondern bloße Metaphern, die stets bloß per analogiam, auf analoge Weise verwendet werden, um über den existentiellen Zustand der Menschen als geschichtlicher Individuen Aufschluss zu geben. Die Aufgabe der Geschichte ist es so seit ihren Anfängen, „das, was durch Menschen geschehen ist“ (Herodot) zu berichten, um die politischen, sozialen, geistigen, religiösen Bedingungen der Wirklichkeit des Menschen aufzuklären. Die Vergangenheit und das vergangene Geschehen [eben weil es vergangen, „dahin“ ist], und so auch die Zukunft bzw. das zukünftige Geschehen sind für uns nicht erkennbar, beobachtbar oder erlebbar. Immerhin verfügen wir über das Vermögen der Erinnerung, die uns mehr schlecht als recht in die Lage versetzt, das Vergangene zu „vergegenwärtigen“ und in einem Erzähl-Text festzuhalten, den wir Geschichte nennen. Allerdings können wir uns an die Zukunft oder das Zukünftige nicht erinnern, weil es eben nicht ein Vergangenes ist, weshalb es auch keine Erzähl-Texte von der Zukunft geben kann. Das ist sicher der Hauptgrund dafür, dass der Begriff der Zukunft erst verhältnismäßig spät in unser geschichtliches Selbstverständnis gefunden hat [Interessant hierzu das Buch von Lucian Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt a. M. 1999] Und es ist auch eines der geschichtsphilosophischen Kernprobleme der Science Fiction, weil das, was es (noch) gar nicht gibt, nicht als „wirklich“ beschrieben, sondern immer nur als „möglich“ vorweggenommen werden kann.

    Und auch das gehört zur Geschichtsphilosophie: Wenn wir verstanden haben, dass die Zukunft als verborgene Möglichkeit eine Metapher für die Endlichkeit des Menschen als zóon lógon échon, d. h. als autonomes Vernunftwesen ist [wörtl. ein „Wesen, das über den Lógos verfügt“], dann können wir auch noch einen Schritt weitergehen und erkennen, dass ein solches selbstbestimmendes endliches Wesen sich nicht vollständig als durch natürliche Ursachen hervorgebracht denken kann. Autonomie ist allein unter Bedingungen der „Geschöpflichkeit“ des Menschen denkbar. Daraus ergeben sich wiederum zwingend religiöse Grundvorstellungen, und so wird philosophisch seit alters aus der notwendigen Endlichkeit des Menschen auf die Unendlichkeit bzw. Absolutheit des Schöpfers geschlossen werden. Geschichtsphilosophisch bedeutsam ist, dass es in der religiösen Tradition aller Kulturen – gleichsam als Pendant zu den Schöpfungsmythen – immer auch Theorien einer absoluten Zukunft geben hat. In solchen Eschalotologien (theol. Lehre von den "letzten Dingen", d.h. die Lehre von Tod, Auferstehung und damit verbunden die Lehre vom Anbruch einer neuen Welt) geht es um die letzten – und zwar absolut letzten – Dinge, um eine Zukünftiges, über das hinaus noch Zukünftigeres schlechterdings nicht gedacht werden kann.

    Vor einiger Zeit habe ich auf einer „Phantastik-Tagung“ einen Vortrag unter dem Titel „Die Zukunft der Science Fiction“ gehalten. Dabei ging es also zum einen um die Rolle, die der Begriff der Zukunft in der Science Fiction spielt und zum anderen um die Bedeutung, die dem Genre selbst in der literarischen Kultur zukommt. Meine Absicht war es, diejenige Science Fiction zu kritisieren, die sich bloß an der ungeschichtlichen Vorstellung der Zukunft als wissenschaftlich-technischem Fortschritt orientiert [z. B. die sog. „Hard Science Fiction“] und so die Zukunft substantialisiert und für etwas objektiv Wirkliches nimmt. Das Zukünftige wird dann als eine objektiv und für sich bestehende Welt aufgefasst – die nicht unsere Welt ist – , die von fiktiven Wesen bevölkert wird, die zwar ihrerseits über eine Geschichte verfügen mögen, die ein Fantasy-Autor erzählen könnte, welche aber nicht unsere Geschichte ist. Wenn der Begriff der Zukunft in dieser fiktiven Weise substantialisiert oder hypostasiert wird, dann brauchen wir uns nur in der Fantasie in einen bestimmten zukünftigen Zeitpunkt zu versetzen, wo wir den fiktiven Erzähler der zukünftigen Stories treffen können. Man sieht leicht, dass unter diesen Voraussetzungen die Grenzen zwischen den Genres der Science Fiction und der bloßen Fantasy – bei der Zeit und Raum und der Bezug auf die wirklichen Menschen völlig unbestimmt bleiben – verschwimmen. Leider muss man vermerken, dass dieser unreflektierte Übergang zur Fantasy weltweit, vor allem im Bereich des Films, auf dem Vormarsch ist.

    Fazit: Eine Zukunft hat Science Fiction nur, wenn es ihr gelingt, die wirklichen Probleme wirklicher Menschen zu beschreiben und dabei die dialektische Spannung von Möglichkeit und Notwendigkeit, Freiheit und Schicksal metaphorisch auszumessen.


    Hier folgen noch – als Lesetipps – ein paar Namen von im literarischen Sinne interessanter Science-Fiction-Autoren, von den älteren wären dies neben Ph. K. Dick: Ursula LeGuinn, James Tiptree Jr., Stanisław Lem, die Strugatzki-Brüder; und von den Neueren: Dan Simmons, oder Sergej Lukianenko. Viel Vergnügen!