Selbstbewusstsein und Selbstwissen

Für uns Menschen spielt Selbstwissen eine zentrale Rolle. Nicht als das, was uns als bewusstseinsfähige Lebewesen auszeichnet, sondern als das, wodurch wir rationale und selbstkritische Subjekte werden.

    Bei kaum einem anderen Begriff, wie bei jenem des Selbstbewusstseins, scheint die Entfernung zwischen der alltäglichen und der philosophischen Verwendung grösser zu sein. Selbstbewusst im alltäglichen Sinn ist der gegen jeden Zweifel gefeite Mensch, der gewahr seiner Qualitäten zielstrebig und unbeirrt den eingeschlagenen Weg geht. Zu viel Selbstbewusstsein nährt zwar den Verdacht einer gewissen Überheblichkeit, zu wenig davon gilt allerdings als Schwäche, die möglichst therapiert werden sollte. Was hat nun all das mit jenem einschüchternden Ich denke zu tun, worauf Descartes das ganze Gebilde der Wissenschaft stützen wollte, und welches nach Kant alle meine Vorstellungen begleiten können muss, da sonst „etwas in mir vorgestellt [würde], was gar nicht gedacht werden könnte“ (KrV, B123)?

    Die einfache, und vielleicht übliche Antwort auf unsere Frage lautet: gar nichts! Das kommt vor. Unser alltäglicher Begriff von (etwa einer chemischen) Substanz hat auch recht wenig mit aristotelischer Metaphysik zu tun. Das kann man zwar bedauern, überraschend allerdings ist es nicht. Warum sollte es sich beim Selbstbewusstsein anders verhalten?

    Es gibt Gründe zu meinen, dass es sich tatsächlich anders verhält. Nicht, weil sich philosophische Begriffe allgemein an ihrer alltäglichen Verwendung orientieren sollten, sondern wegen der Natur des Phänomens. Dabei müssen allerdings die beiden Begriffe, Selbstbewusstsein und Selbstwissen, angemessen voneinander getrennt werden. Selbstbewusstsein wird oft verwendet um die Tatsache zu beschreiben, dass sich das Subjekt seiner eigenen geistigen Zustände bewusst ist. Damit einher geht manchmal sogar die Behauptung, dass jene Zustände ihren Status, bewusst zu sein, der Fähigkeit des Subjekts verdanken, sie sich selbst zuzuschreiben. Selbstwissen bezeichnet hingegen jede Form von Wissen, welches das Subjekt über sich selbst in der ersten Person erwirbt. Es geht um begründetes Wissen über sich selbst, das durch Verwendung des Ausdrucks ‚ich’ kundgegeben werden kann. Ob sich Selbstbewusstsein auf echtes, begrifflich artikuliertes Wissen über die eigenen geistigen Zustände reduzieren lässt, ist eher unwahrscheinlich. Es klingt jedenfalls seltsam, davon auszugehen, dass sich der Hund seines Hungers erst dadurch bewusst wird, dass er davon Kenntnis nimmt.

    Für uns Menschen spielt Selbstwissen eine zentrale Rolle. Nicht als das, was uns als bewusstseinsfähige Lebewesen auszeichnet, sondern als das, wodurch wir rationale und selbstkritische Subjekte werden. Rational und selbstkritisch zu sein heißt beispielsweise in der Lage zu sein, sich selbst Fehler einzugestehen. Dabei geht es etwa darum, die eigenen Überzeugungen und Handlungen den bestehenden Tatsachen anzupassen. Um das tun zu können, reicht es nicht die Welt abzubilden, um sie etwa mit den eigenen Handlungen zu vergleichen. Man muss auch noch erkennen, für welche Überzeugungen und für welche Handlungen die bestehenden Tatsachen Gründe liefern. Tatsachen liefern Gründe im Lichte bestimmter Ziele. Sind Überzeugungen auf Wahrheit ausgerichtet, und Handlungen auf Nutzen, so liefert eine Tatsache einen Grund für eine Überzeugung, wenn sie für dessen Wahrheit spricht, und für eine Handlung, wenn sie für den Nutzen deren Wirkung spricht. Weiss ich nicht, was ich glaube, und was ich tue, so kann ich nicht wissen, was ich stattdessen glauben sollte, und was ich stattdessen tun sollte. So gesehen bildet Selbstwissen die Voraussetzung einer selbstkritischen rationalen Einstellung.

    Schaut man sich allerdings die Sache etwas näher an, so erkennt man, dass Selbstwissen eigentlich mehr als nur eine Voraussetzung der selbstkritischen Rationalität bildet. Selbstwissen und selbstkritische Rationalität sind zwei Seite einer Medaille. Es ist nicht so, dass da mein Wissen über meine Überzeugungen und meine Handlungen liegt, und dort meine kritische Einstellung dazu. Es ist eher so, dass ich Überzeugungen und Handlungen gerade als meine erkenne, insofern sie meine selbstkritische Rationalität zum Ausdruck bringen. Ich betrachte sie nicht nur als Reaktionen auf bestehende Gründe, sondern als meine Reaktionen auf Gründe, die für mich bestehen. Ich fühle mich für sie verantwortlich, und bin gerade deswegen bereit, sie zu korrigieren, wenn sie mir falsch erscheinen. Im Selbstwissen präsentieren sich meine Überzeugungen und meine Handlungen als Tätigkeiten der selbstkritischen Rationalität.

    Rational und selbstkritisch zu sein beinhaltet die Fähigkeit, sich selbst zu bestimmen. Ich bestimme was ich glaube und was ich tue im Lichte der vorgelegten Ziele und der vorhandenen Gründe. Am Ende bestimme ich was ich von der Welt halte, und wie ich bedenke mich darin zu verhalten, in dem ich mir immer wieder die Frage stelle, was ich glaube und was ich tue. Selbstwissen in diesem Sinn ist eine Form von Selbstbestimmung.

    Der alltäglich als selbstbewusst bezeichnete Mensch reagiert prompt und zuverlässig auf bestehende Gründe und er korrigiert ohne zu zögern begangene Fehler. Er bestimmt seinen Weg im Vertrauen auf seine selbstkritische Kontrolle. Um all das zu tun, muss er sich kennen. Er muss wissen, was er wirklich glaubt, und was er wirklich tut. Er darf nicht systematisch Gründe erdichten, wo keine bestehen, und Ziele verfolgen, die nicht in der Natur der ausgeübten Tätigkeit liegen. Wer sich selbst systematisch täuscht, wer sich massiv über seine eigenen Überzeugungen und Handlungen täuscht, begeht nicht nur einen epistemischen Fehler. Er hat nicht nur falsche Überzeugungen über sich selbst. Er ist sich selbst fremd. Die tatsächlich ausgeführten Handlungen und gebildeten Überzeugungen sind keine Ausübungen seiner selbstkritischen Rationalität, sondern Konsequenzen von Mechanismen, die außerhalb seiner Kontrolle stehen. Sie sind ihm selbst so sehr fremd, dass er sie leugnen muss. Der im alltäglichen Sinn selbstbewusste Mensch ist mit der Welt vertraut weil er es mit sich selbst ist. Wer sich unentwegt selbst täuscht verliert nicht nur den Kontakt zu sich selbst, sondern auch zur Welt. Tatsachen in der Welt wirken auf sein Leben ein, er erkennt darin aber keine Gründe, um sein Leben irgendwie zu bestimmen.