Können wir uns auf die Wissenschaft verlassen?

Es kommt immer wieder vor, dass die Wissenschaft ihre Erkenntnisse revidiert.

    Vor Kurzem wurde beispielsweise die lange als sicher angesehene Tatsache in Zweifel gezogen, dass der Verzehr von tierischen Fetten das Risiko von Herzkrankheiten erhöht. Ein Forscherteam um den britischen Epidemiologen Rajiv Chowdhury hat 2014 in einer groß angelegten Meta-Studie gezeigt, dass in Anbetracht der bis heute vorliegenden Daten kein Zusammenhang zwischen der Einnahme von gesättigten Fettsäuren und einem erhöhten Risiko von Herzkrankheiten hergestellt werden kann.

    Hierbei ist es wichtig anzumerken, dass Chowdhury und sein Team selbst gar keine klinischen Untersuchungen angestellt, sondern nur die Frage gestellt haben, ob das, was man bis heute an Untersuchungen unternommen hat, ausreicht, um einen entsprechenden Schluss zu ziehen. Die Forscher haben also das Verhältnis zwischen dem kausalen Zusammenhang von gesättigten Fettsäuren und Herzkrankheiten und der empirischen Evidenz für diesen Zusammenhang untersucht. Sie sind dabei offenbar zu einem anderen Schluss gelangt, als ihre Fachkolleginnen und –kollegen vor ihnen.

    Doch was bedeutet das genau? Dass sich alle Wissenschaftler vor Chowdhury geirrt haben? Dass sie die Daten falsch interpretiert haben? Vielleicht haben sie ja bewusst falsch informiert und die Daten so ausgelegt, so dass diese genau das belegten, was nachgewiesen werden sollte, nämlich dass allzu viel tierisches Fett ungesund ist? Eventuell waren sie voreingenommen oder gar von einer vorherrschenden Ideologie geprägt? Aber all das könnte ebenso gut auf Chowdhury und sein Team zutreffen. Was, wenn sie selbst es sind, die sich irren, und es vielleicht doch zutrifft, dass zu viel tierisches Fett dem Herzen schadet, wie dies viele Fachleute auch heute noch behaupten?

    In Anbetracht dieses Beispiels könnte man leicht zu der Überzeugung gelangen, dass auf die Aussagen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nicht viel zu geben sei. Tatsächlich lassen sich in der Geschichte der Wissenschaft zahlreiche weitere Beispiele dafür finden, dass die Wissenschaft immer wieder fundamentale Änderungen an ihren Theorien vorgenommen hat. Selbst so grundlegende Disziplinen wie die Physik scheinen davon betroffen zu sein.

    Der Physiker Max Planck notierte 1926 unter dem Eindruck der tiefgreifenden Umwälzungen, welche sein Fach in den ersten beiden Jahrzenten des 20. Jahrhunderts erfahren hatte, und zu denen er selbst massgeblich beigetragen hatte, Folgendes:

    „Zuvörderst dürfen wir es durchaus nicht als von vornherein selbstverständlich betrachten, dass eine physikalische Gesetzlichkeit überhaupt existiert, oder dass sie, wenn sie auch bisher existiert hat, auch in Zukunft stets in gleicher Weise existieren wird.“

    Die Einsicht, dass selbst die Physik keine unumstößlichen Wahrheiten hervorbringt und keine für alle Zeiten gültigen Gesetze formuliert, scheint also sogar von eminenten Vertretern der Zunft geteilt zu werden. Wenn aber wissenschaftliches Wissen derart fehl- und wandelbar ist, gibt es dann überhaupt noch einen wesentlichen Unterschied zwischen dem wissenschaftlichen Wissen und anderen Formen des Wissens?

    Es lässt sich wohl kaum bestreiten, dass die Wissenschaft sich von anderen Wissensformen vor allem dadurch unterscheidet, dass sie ihr Wissen auf eine besonders systematische und wohlorganisierte Weise hervorbringt. Die Systematizität der Wissenschaft zeigt sich insbesondere auch an der Art und Weise, wie die Hervorbringung, die Verbreitung und die Kritik von wissenschaftlichem Wissen institutionell organisiert sind. Wer Wissenschaft betreibt, verpflichtet sich, die Regeln einer spezifisch strukturierten sozialen Praxis einzuhalten. Dazu gehören unter Anderem die Verpflichtung auf intellektuelle Redlichkeit und die Bereitschaft, sich der fachlichen Kritik von Kolleginnen und Kollegen zu stellen und diese Kritik ernst zu nehmen.

    Die hoch ausdifferenzierte soziale Organisation der Wissenschaften führt oft zu einem erstaunlich hohen Mass an Konsens. Wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Kollektiv Evidenzen beurteilen, gelangen sie in den allermeisten Fällen zu einem übereinstimmenden Urteil. Die Wissenschaftssoziologin Naomi Oreskes hat wissenschaftliches Wissen daher als eine Art Schwarmintelligenz eines ganz besonderen Schwarmes bezeichnet („a kind of wisdom of the crowd, but a very special kind of crowd“). In dieser Perspektive ist wissenschaftliches Wissen nichts anderes als ein durch kritischen Diskurs erreichter Konsens von Experten.

    Die Tatsache, dass wissenschaftliche Konsense immer wieder infrage gestellt werden, und dass Theorien und Hypothesen im Lichte neuer Evidenzen revidiert werden, sollte jedoch nicht zum Anlass genommen werden, dem Urteil der Wissenschaft grundsätzlich und jederzeit zu misstrauen. Im Gegenteil. Es ist vielmehr ein Ausdruck der Kritikfähigkeit der Wissenschaft und insbesondere auch ihrer Fähigkeit zur Selbstkritik.

    Eine naive Wissenschaftsgläubigkeit, welche alle nicht-wissenschaftlichen Praktiken und Wissensformen als Humbug oder Aberglaube abstempelt, wäre allerdings genauso einseitig wie eine radikale Wissenschaftsskepsis. Es lässt sich zwar kaum bestreiten, dass die Wissenschaft die beste und wohl erfolgreichste Möglichkeit bietet, Wissen über die empirische Realität hervorzubringen. Aber die Wissenschaft ist nur eine menschliche Praxis unter vielen. Philosophie, Kunst, Kultur und sogar die Religion gehören genauso dazu. Das menschliche Leben und die Welt als Ganze sind viel zu vielfältig, als dass sie sich durch die Wissenschaft alleine vollständig erschließen liessen. Weil sich die unterschiedlichen Weisen der Auseinandersetzung mit der Welt und den Fragen, die sich in ihr ergeben, in ihren Zwecken und Zielen oft grundsätzlich unterscheiden, wäre es schlichtweg müssig, diese gegeneinander in Opposition zu bringen.


    Literaturhinweise:

    Chowdhury, Rajiv, et al. „Association of dietary, circulating, and supplement fatty acids with coronary risk: a systematic review and meta-analysis.“ Annals of Internal Medicine 160 (2014): 398-406.

    Hoyningen-Huene, Paul. Systematicity: The Nature of Science. Oxford, New York: Oxford University Press, 2013.

    Oreskes, Naomi. Why We Should Trust Scientists. TED talk at TEDSalon2014, New York, May 2014.

    Planck, Max. „Physikalische Gesetzlichkeit im Lichte neuerer Forschung. Vortrag gehalten am 14. Februar 1926 in den Akademischen Kursen von Düsseldorf.Die Naturwissenschaften (1926) 14: 249-261.