Zwar gibt es Philosophen, die meinen, es handele sich um ein rein subjektives Gefühl, das nur in einem Subjekt verankert sein müsse, also nichts, was zwei oder mehrere Subjekte teilen.[1] Doch wäre das der Fall, wäre es nichts weiter als eine Projektion oder eine Halluzination.
Das Wir-Gefühl ist vielmehr ein gemeinsam geteiltes Gefühl der Verbundenheit und Nähe. Es muss nicht auf Dauer angelegt sein, sondern kann sich auch in einer sehr kurzen Alltagsepisode für lediglich einige Momente einstellen. Diejenigen, welche ein solches Gefühl teilen, sind dabei bewusst aufeinander bezogen, weshalb es zumindest zwei Wesen braucht, die sich in dieser Weise aufeinander beziehen können.
Ein solches Gefühl ist ein Grundbaustein jeder Gemeinschaft, deren Aufgabe es nicht zuletzt sein sollte, zu ermöglichen, dass der Einzelne Solidarität erfährt und mit seiner Perspektive und seinen Interessen Beachtung findet. Zur Gemeinschaftsbildung und ihrem Funktionieren trägt das Wir-Gefühl wie kaum ein anderes bei, weil es eine wechselseitige Anerkennung des jeweils Anderen als fühlendes, empfindsames Wesen enthält. Dieses Gefühl kommt daher zum Tragen, wenn wir gemeinsam nachdenken, Überlegungen anstellen, Sorgen und Bedenken teilen, gemeinsam Ideen und Vorstellungen entwickeln und vorantreiben.
Das Wir-Gefühl ist nicht zu verwechseln mit gemeinsamer Aufmerksamkeit, bei der zwei Subjekte gemeinsam ihre Aufmerksamkeit auf etwas richten und sich bewusst sind, dass sie das tun. Es ist auch keine Empathie, obgleich auch diese ein soziales Gefühl ist,[2] mit Hilfe dessen etwas gefühlsmäßig erfasst wird, denn im Nachempfinden (Empathie) verstehe ich wie sich der Andere fühlt, aber es ist nicht notwendiger Weise mein Gefühlszustand. Das ist beim Wir-Gefühl anders. Hier fühle ich dasselbe wie der Andere. Empathie muss zudem nicht wechselseitig sein, sie ist nicht unbedingt ein Gefühl, durch welches sich zwei Personen aufeinander beziehen. Auch das ist beim Wir-Gefühl, das ein wechselseitig aufeinander bezogenes Gefühl ist, anders. Wäre dem nicht so, handelte es sich nicht um ein Wir-Gefühl, sondern um Einbildung oder um Projektion. Aber ebenso wenig, wie wir eine Halluzination Wahrnehmung nennen, sollten wir ein Wir-Gefühl, das nur von einer Person erlebt wird, ein Wir-Gefühl nennen, weil, das für das Wir erforderliche Du, das die Empfindung teilt, fehlt. Schließlich ist das Wir-Gefühl auch keine Gefühlsansteckung. Bei der emotionalen Ansteckung bin ich mir der Ich – Du – Differenz, die in einem Wir stets enthalten ist, nicht bewusst. Das Wir-Gefühl als gemeinsame, geteilte Empfindung der Verbundenheit, welche die Anerkennung des Anderen als in irgendeiner Weise Gleichen beinhaltet, geht hingegen mit einer Ich – Du – Differenz einher.[3]
Das Verhältnis von Selbst, Du und Wir setzt in seiner Entstehung einen Entwicklungsschritt voraus, der abgeschlossen sein muss. Dieser Schritt besteht darin, dass die Unterscheidung in das Selbst und der Andere (die Ich – Du – Differenz) ganz und gar vertraut geworden ist, – was bei einem Säugling noch nicht der Fall ist. Ohne die Aufspaltung in ein Ich und ein Du, ein Selbst und den Anderen fehlen die Instanzen, die sich wechselseitig aufeinander beziehen können.
Allerdings setzt das Wir-Gefühl die Differenzierung in Selbst und Anderer zwar voraus, das Auftauchen eines Wir-Gefühls, mit dem ich den Anderen anerkenne, kann aber dennoch erst die Anerkennung des Anderen als Anderen bedeuten. Dem ist so, weil der Umstand, dass mir die Differenzierung in Selbst und Anderer vertraut ist, noch nicht bedeutet, dass ich den Anderen auch als Anderen anerkenne. Die Anerkennung erfolgt erst in einem zweiten Schritt.
Auf ein Wir-Gefühl sind wir in unserem Leben immer dann angewiesen, wenn wir mit Anderen gemeinsam Pläne schmieden, gemeinsame Interessen verfolgen oder gemeinsame Vorhaben planen. Mit anderen Worten, immer dann, wenn wir unser Leben gestalten wollen, Mitglied einer Gemeinschaft sein möchten, aber auch schlicht, wenn wir unsere Interessen durchsetzten wollen. Wir können und sollten diese Frage aber auch aus einem weiteren Blickwinkel betrachten. Dieses Gefühl spielt auch immer dann eine Rolle, wenn wir einen Anderen nicht für unsere Interessen einspannen oder arbeiten lassen, sondern gemeinsam mit ihm etwas erreichen wollen. Die Anerkennung des Anderen als Gleicher geht damit einher, dass wir nicht lediglich unsere eigenen Interessen im Auge haben, sondern auch die anderen.
Denkt man das zu Ende, ist ein solches Wir-Gefühl eine Voraussetzung für Gemeinschaftsbildung und damit letztlich auch für gemeinsam geteilte Normen. „Normen des Zusammenlebens, die auch noch unter Fremden Solidarität stiften können, sind auf allgemeine Zustimmung angewiesen.“ (Jürgen Habermas[4]) Diese allgemeine Zustimmung entwickelt sich in modernen Gesellschaften in moralischen Diskursen, an denen sich viele beteiligen können und sollen. Letztlich muss ein solcher Diskurs allerdings von einem wie auch immer erreichten und geteilten Wir-Gefühl getragen sein, um moralische Wirksamkeit zu erlangen.
[1] J. Searle, Collective intentions and actions, in: Intentions in communication, hrsg. v. P. R. Cohen, J. Morgan, u. M. E. Pollack, Cambridge, Mass., 1990, S. 401-415.
[2] Current Disciplinary and Interdisciplinary Debates on Empathy, E.-M. Engelen u. B. Röttger-Rössler, in: Emotion Review Vol. 4 (1) (2012), S. 3-8.
[3] D. Zahavi, You, me, and we. The sharing of emotional experiences, in: Journal of Consciousness Studies 22 (2015), S. 84-101.
[4] J. Habermas, Öffentlicher Raum und politische Öffentlichkeit. Lebensgeschichtliche Motive von zwei Gedankenmotiven, in: ders., Zwischen Naturalismus und Religion, Frankfurt a. M. 2005, S. 15 – 26 hier S. 21.