Globalisierung fordert flexibel agierende Menschen; aber er braucht ein Zuhause. Kriege und Naturkatastrophen lassen Menschen ihr Land verlassen, sie suchen eine neue Heimat. Was macht einen Ort zur Heimat?
Gibt es Heimat unabhängig vom Ort? Hat Heimat mit mir zu tun? Mit den Menschen in meiner Umgebung? Wie finde ich eine neue Heimat, wenn Brüche und Schicksalsschläge mein Dasein heimatlos werden lassen?
Jeder Mensch wird als Kind in eine Welt gesetzt, die voll von festen Orientierungspunkten ist. Es sind die Eltern, die Familie, die Sprache, es ist das Haus, es sind Gegenstände, die wir anfassen, aber auch der Ort oder die Landschaft, in die wir hineingeboren werden. Hier werden weitestgehend Identität, Charakter, Mentalität, Einstellungen und auch Weltauffassungen geprägt. Weil diese Entwicklung überwiegend in jungen Jahren stattfindet, ist der Begriff Heimat zunächst mit der Erfahrung der Kindheit verbunden. Das verleiht ihm eine meist stark gefühlsbetonte, ästhetische und nicht zuletzt auch ideologische Komponente. Diese gefühlsbetonten Komponenten aus ersten Erfahrungen spielen mit hinein in spätere „Beheimatungen“ im Erwachsenenalter.
Der Blick auf die Bedeutungsgeschichte des Begriffs Heimat zeigt in anthropologischer Hinsicht das Bedürfnis nach Raumorientierung, nach einem Territorium, das für die eigene Existenz Identität, Stimulierung und Sicherheit bieten kann.
Existenzphilosophisch betrachtet bietet der Begriff Heimat Möglichkeiten zur Selbstaneignung des Menschen in Beziehung zum Begriff der Fremde. Die Begriffe Heimat und Fremde stellen die Konstitutionsbedingungen von Gruppenidentität dar. Hier bekommt Heimat dann neben der inneren auch eine eigene historische Dimension, denn der Begriff Heimat hat neben der allgemein menschlichen Fundierung auch historisch Entwicklungen durchlaufen, die selbst wieder historische, soziale und psychische Prozesse widerspiegeln.
Spüren wir den verschiedenen Bedeutungen nach, lassen sich Konkretisierungen für die genannten „späteren Beheimatungen“ vornehmen. Im Erwachsenenalter haben wir uns in unterschiedlicher Intensität eine sprachliche, eine geistige, religiöse, kulturelle und eine politische Heimat angeeignet Wer aber ist sich seiner späteren Beheimatungen explizit bewusst? Wer kann sie benennen?
Die Reflexion über den Begriff Heimat gerät mithin zum Nachdenken über sich selbst, wenn ich frage: wer bin ich, woher komme ich, weshalb bin ich so wie ich mich fühle? Was gehört zu meiner Identität? Was ist meine politische Heimat, wenn ich mich als Bürger des Landes, der Stadt, in der ich lebe, verstehe? Was verkörpere ich, wenn ich mich als Kulturträger verstehe? Was ist meine kulturelle Heimat? Welche Kunst beflügelt mein Heimisch-Sein? Welche Dichter und Denker haben in meinem Denken eine Heimat gefunden? Welchem Zeitgeist folge ich bewusst oder unbewusst?
Man mag die Selbstbefragung zum Begriff der Heimat als eine theoretische Spielerei sehen. Sie entfaltet aber auch praktische Bedeutung, und dazu bedarf es nicht des Bildes von Flüchtlingen, die ihre örtliche Heimat verlassen müssen:
Tod eines nahestehenden Menschen, Verarmung, Trennung, Diagnose einer schweren Erkrankung, Arbeitslosigkeit, Verunglimpfungen oder Vereinsamung in sonst vertrauter Umgebung erzeugen einen Zustand der Heimatlosigkeit. Das sind Ereignisse, nach denen nichts mehr so ist, wie es vorher war und nach denen nichts mehr so werden wird, wie es einmal war. Der Boden unter den Füßen scheint entzogen zu sein, eine fundamentale Zugehörigkeit bricht unwiederbringlich weg.
In diesen Situationen erweist es sich als hilfreich, sich seiner verschiedenen Beheimatungen bewusst zu werden. In der Vergegenwärtigung konkreter Beheimatungen scheinen eine Reihe von Ressourcen auf, derer sich bedient werden kann, um der zunächst verspürten Heimat- oder Bodenlosigkeit nicht alles zu opfern, was mich als Menschen ausmacht. Im Wege der Selbstbefragung gesellen sich dem im Ereignis erlittenen Heimatverlust nach und nach jene Quellen des Heimisch-Seins zu, die jeden Menschen bewusst oder unbewusst durchdringen. Sie können genutzt werden.
Die bewusste Betrachtung jener nicht immer offensichtlich begleitenden Quellen von Heimisch-Sein gerät mithin zu einem lebensdienlichen Beispiel des Philosophierens als Lebenskunst. Letztlich lassen sich dann auch Antworten finden auf die eingangs formulierten Fragen zu Begriff und Bedeutung von Heimat.
*Anmerkung zum Titel: Das Thema „Was ist Heimat?“ wurde im Philosophie-Café der Stadtbibliothek/VHS Solingen (Nordrhein-Westfalen) im Dezember 2016 diskutiert. Der hier wiedergegebene Text behandelt einen Aspekt der Diskussion.
Literatur dazu:
Uta-D.Rose: Die Komplexität politischen Handelns. Die Liberalismus-Kommunitarismus-Debatte im Lichte des Denkens von Hannah Arendt. Waldkirch: Edition Gorz, 2004.
Uta-D.Rose: Von der Lüge und anderen Wahrheiten. Anregung zu philosophischen Streitgesprächen. custos verlag Solingen 2011.