Verletzlichkeit

Alle Menschen sind verletzlich – sind es einige mehr als andere?

    Verletzlichkeit wird uns zur Zeit immer wieder als Grundeigenschaft menschlichen Lebens eindrücklich vor Augen geführt. In Anbetracht von Krieg, Flucht und dem Sterben an den Grenzen der Festung Europa beispielsweise. Verletzlichkeit dient aber auch als argumentative Grundlage für eine Abgrenzungspolitik des globalen Westens gegenüber „dem Anderen“, „dem Fremden“: In (nicht nur) rechtspopulistischer Rhetorik sind es beispielsweise emanzipierte weisse Frauen, die vor dem „sexuell übergriffigen Migranten“ beschützt, die fortschrittliche Nation, die vor dem „Eindringen eines rückständigen Wertesystems“ bewahrt oder das friedliche Miteinander, welches vor der Gewalttätigkeit des „Fremden“ geschützt werden muss. Diese Rhetorik baut auf einer Gegenüberstellung zwischen dem eigentlich autonomen, abgegrenzten Selbst und dem bedrohlichen, verletzenden Anderen. So betrachtet scheint es kein Zufall zu sein, dass gegenwärtig zwei Entwicklungen parallel verlaufen: Die starke Individualisierung des Menschen im neoliberalen Kapitalismus – also die Betonung des autonomen Selbst – und das gegenwärtige Erstarken von nationalistischem und fremdenfeindlichem Gedankengut. Es ist allerdings auch nicht zufällig, dass sich gegen diese Tendenzen gerade eine feministische Bewegung formiert. Der Women’s March in Washington am Tag der Inauguration des neuen US-Präsidenten Donald Trump ist die grösste Single-Day-Demonstration in der Geschichte der USA. In zahlreichen Städten weltweit fanden seither ähnliche Märsche statt. Feminismus, das sei nicht nur eine Bewegung für alle, sondern er kümmere sich auch um alles, wie Antje Schrupp in der "Frankfurter Rundschau" es formuliert. Angela Davis fordert in Anlehnung an den Slogan der Occupy-Bewegung, einen „Feminismus der 99%“. Und gerade zu Fragen rund um das Subjekt, um Autonomie und um Handlungsfähigkeit hat die Feministische Theorie so einiges an Antworten und Gedankenanstössen zu liefern. Verletzlichkeit spielt in diesen Überlegungen eine zentrale Rolle.

    Im Wissen darum, dass in einer bürgerlich-patriarchalen Geschlechterordnung Subjekt-sein nichts Gesetztes, Garantiertes ist, hat sich die feministische Theorie, wie auch queere und postkoloniale Theorien, an der Frage nach Subjektwerdung abgearbeitet. Subjekt-sein wird hier als etwas prozesshaftes, dynamisches, offenes und auch prekäres gefasst. Das vorherrschende Verständnis von Subjekt, das oben beschriebene autonome, sich selbst beherrschende, also souveräne, Subjekt ist kein geschlechterneutrales Denkmodell: Vielmehr lässt sich die hegemoniale Subjektivierungsweise, die sich mit der Moderne durchsetzte, als Konstruktion einer weißen, westlichen, heterosexuellen bürgerlichen Männlichkeit fassen. (Maihofer 1995). Das Subjekt bildet sich in Abgrenzung zu einem konstitutiven ‚Außen‘ und imaginiert sich selbst als autonom. Alles was dieser Imagination der Autonomie widerspricht, wird, psychoanalytisch gesprochen, verdrängt. Der Mechanismus hierfür wird als Selbstaffirmation und Veranderung beschrieben (Maihofer 2014). Mit diesem Selbstverständnis geht also ein spezifisches Verhältnis zum_zur Anderen einher (Zimmermann 2014): Auch hier inszeniert sich beispielsweise Europa oder der globale Westen als fortschrittlich, emanzipiert und friedlich und entwirft das Gegenbild des „Anderen“ als rückständig, gewalttätig und sexuell übergriffig. Widersprüchlichkeiten innerhalb des „Eigenen“ (beispielsweise die späte Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechts in der Schweiz) werden unsichtbar gemacht (Dhawan 2016). „Das Andere“ dagegen wird wirkmächtig und auf abschätzige Weise inszeniert (wie beispielsweise die mediale Berichterstattung zur Silvesternacht 15/16 in Köln zeigt).
    Um diesen wirkmächtigen Prozess der Selbstaffirmation und Veranderung zu unterbrechen, stellt sich, und das nicht erst seit gestern und heute, die Frage nach alternativen Selbstverhältnissen. Wie lässt sich das Subjekt als handlungsfähig denken, ohne der Imagination der Autonomie zu verfallen?
     
    Gerade in den jüngeren Texten der Philosophin Judith Butler spielt hierbei Verletzlichkeit/Vulnerabilität/Verwundbarkeit ("vulnerability") eine zentrale Rolle (Butler 2005, 2010, 2013, 2014). Verletzlichkeit entsteht aus der grundsätzlichen Gebundenheit des Selbst an das Andere. Anders formuliert: Der Mensch ist sozial verfasst. Er ist auf die Anerkennung anderer angewiesen und entfaltet seine Handlungsfähigkeit grundlegend in der Sozialität. So betrachtet, ist die Idee, dass sich Leben gänzlich schützen liesse, nichts anderes als eine Allmachtsphantasie. Handlungsfähigkeit, die erst dann ensteht, wenn Verletzlichkeit überwunden wurde ist für Butler ganz klar ein maskulinistisches Ideal (Butler 2014). Diese Verletzlichkeit ist zwar ontologisch, aber nicht unabhängig von sozialen und politischen Bedingungen zu denken. Sie ist ein existenzielles Gemeinsames, aber sie ist zugleich relational, historisch und geografisch unterschiedlich. Die ungleich verteilte Verletzlichkeit hat damit etwas sowohl Trennendes, als auch etwas Verbindendes. „Sie [Judith Butler] plädiert dafür, nicht die Angst vor dem Prekärsein zu reproduzieren und damit traditionelle moderne Herrschaftslogiken zu stützen, sondern im Gegenteil die fehlende Anerkennung des grundsätzlich prekären Lebens als Ausgangspunkt für die Analyse von Herrschaftsverhältnissen zu setzen“ wie es Isabell Lorey (Lorey 2011) formuliert. Verletzlichkeit soll hierbei nicht etwa erhalten werden, aber auch überwinden lässt sie sich nicht (Hark 2017).

    Verletzlichkeit wird in dieser Herangehensweise, also als Ausgangspunkt der Analyse von Herrschaftsverhältnissen, zur neuen Grundlage, nicht nur eines alternativen Selbstverständnisses, sondern auch neuer Formen von kritischer Kollektivität, zum Motor gemeinsamen politischen Handelns. So kann der Women’s March ein mögliches Beispiel einer Bewegung sein, die nicht mehr Identität als Grundlage gemeinsamen Handelns annimmt, sondern geteilte Verletzlichkeit als Ausgangspunkt hat und hierin Differenzen anerkennt.