Mit der Frage nach der Heimat scheint es sich so zu verhalten wie mit der nach der Zeit. Augustinus bekannte im vierten Jahrhundert nach Christus, dass er wisse, was sie sei, wenn ihn niemand danach frage, wenn ihn aber jemand danach fragt, wisse er es nicht mehr. Wenn die Frage nach der Heimat gestellt wird, scheint diese bereits verloren gegangen zu sein, denn jemand, der beheimatet ist, reflektiert das Verhältnis von innerer und äußerer Wirklichkeit nicht. Erst wenn es gestört ist, wird Heimat ihm zur Aufgabe. So antwortet der Auschwitzüberlebende Jean Amery auch im Exil auf die Frage "Wie viel Heimat braucht der Mensch?": "Um so mehr, je weniger man davon mit sich tragen kann."
Globalisierungs- und Modernisierungsprozesse führen zwar zum Erfolg, gleichzeitig aber auch zur Rückbesinnung auf Wurzeln und Identität. Denn mit dem Tempo, mit dem sich die Lebensverhältnisse und regionalen Bezüge ändern, verfremden sich die Herkunftswelten. Die gegenwärtige Wissens- und Informationsbeschleunigung erzeugt ein neues Zeitgefühl: Nicht mehr das überzeitlich Gültige ist normativ, sondern die Veränderlichkeit an sich. Die Erfahrung, dass Lebenszeit und Weltzeit ungleich groß sind, generierte das Gefühl, möglichst zeitökonomisch zu leben. Hinzutritt nun die unüberwindbare Differenz von Welt- und Lebenswissen. Sämtliches Wissen ist durch das Internet an jedem Punkt der Welt unmittelbar verfügbar. Die Informationsverdichtung führt dazu, dass Ereignisse, die früher lokal begrenzt waren, heute Panik auslösen. Das erzeugt den Wusch, inne zu halten. So bilden sich Bürgerproteste, die sich gegen jede Form von Veränderung wenden: Initiativen, die um die Erhaltung ihres Bahnhofs kämpfen oder gegen Brücken demonstrieren, Liedermacher, die sich in Mundart artikulieren, oder Menschen, die sich nach der „Landfluchtidylle“ sehnen, wie sie von zahlreichen Hochglanzprospekten propagiert wird – sie alle sind auf der Suche nach Heimat.
Wir kommunizieren und agieren zwar global, aber wir können nicht im Globalen wohnen, bekennt Rüdiger Safranski. Das Gleichgewicht von Mobilität und Weltoffenheit auf der einen Seite und Ortsbeständigkeit auf der anderen ist eine anthropologische Grundbedingung. So wird Heimat nicht zum Gegenbegriff der Globalisierung, sondern zu deren notwendigen Ankerpunkt.
Allgemein bezeichnet Heimat die Bilder und Mythen, mit denen man groß geworden ist, den Ort der Herkunft, in den man hineingeboren wurde und der existentielle Vorgabe ist, was in Sprache, Riten und Verhaltensmustern zum Ausdruck kommt. Zugleich ist Heimat aber auch der Ort der Vertrautheit und Sicherheit, den man versteht und in dem man verstanden wird. Das Heimatempfinden vermittelt einem das Gefühl von Geborgenheit und Annahme. Somit ist ein positiver Heimatbegriff Voraussetzung für Stabilität, Ordnung und Orientierung im Erleben und Handeln. Das „Heim“ ermöglicht es uns, Bindungen einzugehen. Aber beim Weg durch die Zeit und bleiben wir bei keiner eingenommenen Haltung stehen. So befinden wir uns immer auf dem "Heim-weg", wie Karen Joisten schreibt.
Im althochdeutschen „heimuot(e)“, steckt etymologisch die indogermanische Wurzel „kei“ mit ihrer Bedeutung „liegen“. "Heimat" ist also der „Ort an dem man sich niederlässt“. Der Begriff enthält Tönungen von Sicherheit und Ruhe. In der Neuzeit besaß Heimat eher rein wirtschaftliche Bedeutung, was in Begriffen wie „Heimatrecht“ und „Heimatbesitz“ zum Ausdruck kam. Wenn "Heimat" aber nur als Projektionsfläche von Sehnsüchten oder „geistiges Wurzelgefühl“ (Eduard Spranger) betrachtet wird, würde man dem Bedürfnis nach Orientierung und Sicherheit nicht gerecht. Heimat ist vielmehr unser von innen heraus entworfenes Verhältnis zur Welt. Sie bedarf der aktiven Aneignung, des sich „Heimischmachens“, und ist nicht nur Umgebung, an die man sich anpasst, sondern auch etwas, das es erst zu schaffen gilt. Heimat widerfährt einem, sie bildet sich unbemerkt. Das, was Heimat ist, wird einem erst im Verlust, im Erleben von Nicht-Heimat, und in der Begegnung mit dem Fremden bewusst.
In der anthropologischen Analyse des Heimatbegriffes zeigt sich, dass drei Aspekte für Bildung von Beheimatung wesentlich sind. Dies sind die Orte, die einen geprägt haben und prägen, die Wohnung, das Haus, die Straße, die Stadt und Region. Orte der Beheimatung sind immer relational auf den Einzelnen bezogen. So sind "meine Orte" andere als die meines Nachbarn. Und diejenigen, die ihren Heimatort frühzeitig verlassen haben, wünschen, dass die alte Heimat sich nicht verändert, obwohl sich auch diese im Laufe der Zeit entwickelt.
Der zweite in einer mobilen Gesellschaft immer wichtiger werdende Heimataspekt ist der Sozialraum. Die Lebendigkeit von Orten und Stabilität der Gemeinschaft spielt für die Beheimatung eines jeden eine ganz wesentliche Rolle. So werden auch soziale Netzwerke Räume von Beheimatung und Identität.
Der dritte Aspekt ist der zeitliche. Alle in den Raum eingeschriebenen Relationen schreiben sich auch in die Zeit ein. In der Zeit findet die Synchronisation von innerer und äußerer Wirklichkeit statt. Die zivilisatorische Innovationsdynamik bewirkt unvermeidlicherweise Erfahrungen lebensweltlichen Vertrautheitsschwundes, wie Hermann Lübbe ausführt. Man kann heimatlos werden, ohne seinen Wohnort zu verlassen, weil die Welt um einen herum sich rasant entwickelt. Zur Beheimatung gehört die Beheimatung in der Zeit.
Die archetypische Handlung, die Beheimatung in der Zeit ermöglicht ist das Spiel. So wird in einem Fragment des Philosophen Heraklits auch die Zeit in ihrer ursprünglichen Eigenschaft als ein Kind dargestellt, das mit Würfeln spielt. Im spielerischen Festhalten an der Ordnung wird diese unterbrochen. Die Verkleinerung und Verdichtung der Zeit im Spiel erlaubt es, sie überhaupt erst zu erfassen. Giorgio Agamben verweist darauf, dass man sich im Spiel von der heiligen Zeit löst und in der menschlichen vergisst. Hier zeigt sich das breite Band, das Heimat, Kultur und Identität verbindet. Denn Spielen ist nach Johann Huizinga kein Tun im gewöhnlichen Sinne. Kultur in ihren ursprünglichen Phasen wird gespielt. Sie entspringt nicht aus dem Spiel, aber sie entfaltet sich im Spiel und als Spiel. So verleihen Kult und Kultur als zeitliche Unterbrechung und stellvertretende Handlungen dem Wirklichkeitsprozess Bedeutung.
Dem Tun des Spielers ist ganz verwand das Tun des Sammlers. Auch er unterbricht den Zeitfluss und ermöglicht damit Beheimatung in der Zeit. Der Sammler löst den (Sammel-)Gegenstand aus der diachronen Entfernung oder synchronen Nähe und erfasst ihn in der entfernten Nähe der Geschichte. So sind kulturelle Spielstätten, Museen und Sammlungen alles Orte, die dasselbe Ziel verfolgen: Beheimatung in der Zeit und somit die Ausbildung von Sinn.
"Beheimatet sein in der Zeit" bedeutet, eine Narration für den eigenen Lebensweg zu besitzen. Sie zieht sich durch die verschiedenen Heimatschichten hindurch, dient der Orientierung und ermöglicht es dem Einzelnen, verantwortlich die Zukunft zu gestalten. „Erzählen“ heißt bereits, dass über die erzählten Ereignisse reflektiert wird. Durch die Erzählungen wird der Gemeinschaft Einblick gewährt, wie der Einzelne sein Leben deutet, mit welcher leitenden Idee er es bewältigt. Erzählen ist ja keine Tatsachenaufzählung, sondern in der Erzählung werden die Fakten aus Perspektive des Erzählenden zu einer neuen sinnstiftenden Einheit zusammenfügt, was besonders kulturell sichtbar wird. Kultur stiftet Heimat und Heimat stiftet Kultur. Ohne ein übergeordnetes Interesse an der Gemeinschaft gäbe es gar keine Kultur, und umgekehrt ohne Kultur, d.h. ohne Interpretation der Geschichte, gäbe es keinen Sensus Communis.
Was die Beheimatung im Rückblick dann ausmacht, setzt sich aus den Heimatschichten der Lebensphasen von der Kindheit bis ins hohe Alter zusammen, jeweils geprägt durch Ort, Narration und Sozialraum. Heimat muss sich dabei von Schicht zu Schicht immer wieder neu angeeignet werden. Dieser Prozess kommt bis zur „letzten Heimat“ zu keinem Abschluss.