Warum gute Menschen glücklich sind

Ein Plädoyer für Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit

    Die Philosophie der Antike versteht sich selbst als Lebensform und Lebenskunst, die uns anleitet, ein glückliches Leben zu führen. Dabei stellt sie eine These auf, die uns modernen Lesern zweifelhaft erscheinen mag: Nur gute Menschen sind auch glückliche Menschen. Wir glauben eher, dass das Streben nach dem eigenen Glück mit dem Glücksstreben anderer konkurriert. Diejenigen, die nur das eigene Glück suchen, bezeichnen wir als Egoisten, und diejenigen, die am Glück der Anderen interessiert sind, als Altruisten. Dabei haben wir die Vorstellung, dass Altruismus mit Selbstlosigkeit und Verzicht verbunden ist und folglich das Glück des Altruisten mindert.

    Im Folgenden möchte ich zeigen, dass der antike Gedanke einer engen Verbindung von menschlicher Güte und Glück auch heute noch Sinn macht. Vielleicht kennen Sie die Erfahrung, ohne ein Gefühl von Verzicht und Entbehrung von Ihren eigenen Interessen abgesehen zu haben. Vielleicht haben Sie schon einmal auf die Bonuszahlungen Ihrer Krankenkasse zugunsten einer Spende für krebskranke Kinder verzichtet oder Sie sind von der Arbeit ferngeblieben, um bei Ihrem kranken Sohn zu sein, der mit seinen 16 Jahren das Fieber zur Not auch ohne Mama oder Papa hätte durchstehen können. Und vielleicht hatten Sie dabei gar nicht den Eindruck selbstlos gehandelt zu haben. Vielleicht hatten Sie im Gegenteil das Gefühl, noch nie so sehr im Einklang mit sich selbst gewesen zu sein und sich selbst verwirklicht zu haben.

    Die Beispiele zeigen, dass mit Kosten verbundene Handlungen der Menschenliebe nicht zwangsläufig mit leidvoller Aufopferung einhergehen müssen, sondern auch der Gebende einen Gewinn daraus ziehen kann. Die rigide Trennung von Egoismus und Altruismus scheint folglich zu kurz zu greifen. Als alternativen Begriff für Handlungen der Nächstenliebe möchte ich daher den Begriff „Mitmenschlichkeit“ vorschlagen, der – anders als das Begriffspaar Egoismus und Altruismus – die Symmetrie und die Ausgewogenheit im Tun und Empfangen des Guten betont.

    Zum einen verweist Mitmenschlichkeit auf die Tatsache, dass der Andere ein Mensch ist wie ich – bedürftig, angewiesen auf andere, liebes- und leidensfähig, und dass seine Bedürfnisse grundsätzlich genauso wichtig sind wie die meinen. Im Umkehrschluss heißt das aber auch, dass meine Bedürfnisse ebenso zählen wie die seinen – altruistische Selbstlosigkeit ist vor diesem Hintergrund schwer plausibel zu machen. Die Vorstellung einer Gleichwertigkeit und wechselseitiger Bedingtheit von Selbstliebe und Nächstenliebe dagegen ist schon in den Weltreligionen tief verankert. In der Bibel heißt es eben nicht: „Du sollst deinen Nächsten mehr lieben als dich selbst“, sondern „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Mk 12,31) In einem weiteren Sinne ist der Begriff der Mitmenschlichkeit symmetrisch: Insofern wir als endliche, soziale und bedürftige Lebewesen auf die Unterstützung anderer angewiesen sind, sind wir alle manchmal Gebende und manchmal Empfangende. Es gibt niemandem auf der Welt, der nur gibt, und niemanden, der nur empfängt. Schließlich ist das Konzept der Mitmenschlichkeit symmetrisch, weil es im Unterschied zu dem des Altruismus die Möglichkeit offenlässt, dass mit Kosten verbundene Handlungen des Wohlwollens nicht nur das Glück des Empfangenden, sondern auch das Glück des Gebenden stiften.

    Der Gedanke, dass menschliche Güte auch das Glück des Gebenden befördert, wird am prägnantesten von Aristoteles formuliert. Der dabei zugrundeliegende Glücksbegriff ist der eines dauerhaften Erfüllungsglücks, das der Mensch durch Charakterbildung und innere Stärke selbst gestaltet und mit dem er sich vom Zufallsglück, das seinem Einfluss entzogen ist, unabhängig macht. Aristoteles geht von der Prämisse aus, dass dasjenige, was spezifisch für das Wesen des Menschen ist und was ihm vor allen anderen Lebewesen zu eigen ist, auch dasjenige ist, was ihn glücklich macht. Glücklich sind wir, kurz gesagt, wenn wir unsere Menschlichkeit tätig verwirklichen. Worin liegt nun das Wesen des Menschseins? Es findet sich, die Antwort ist naheliegend, in seiner Vernunft. Tätigkeiten, die den Vernunftgebrauch beinhalten, sind aber nicht nur theoretischer Natur. Auch für Dinge der Moral gebrauchen wir unsere Vernunft: Um gerecht handeln zu können, muss ich wissen, was in einer gegebenen Situation das Gerechte ist. Das zwischenmenschliche Ideal, das Aristoteles vor Augen steht, ist das der Freundschaft. Gute Freunde wünschen dem anderen um seiner selbst willen Gutes und verwirklichen dieses gegenseitige Wohlwollen im Handeln. Im Unterschied zum Alltagsverständnis betont Aristoteles, dass die Freundschaft mehr im Lieben als im Geliebtwerden liegt. Der Grund dafür ist, dass ein guter Freund in der Freundschaft Fähigkeiten verwirklicht, die spezifisch menschliche Exzellenzen darstellen: Großzügigkeit, Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit. Die Freundschaft trägt nicht nur deshalb zu unserem Glück bei, weil wir passiv durch den Anderen Gutes erfahren, sondern weil wir aktiv Gutes tun. Albert Camus schreibt in diesem Sinne: „Nicht geliebt zu werden ist nur misslicher Zufall, nicht zu lieben jedoch ist Unglück“ (HnT 100), und der Sozialpsychologe Erich Fromm bekräftigt in seinem gleichnamigen Buch, dass die Liebe eine Kunst ist, die feinsinnig kultiviert werden muss und ohne die ein erfülltes Leben nicht möglich ist. Sowohl Aristoteles als auch Fromm bestätigen, dass das scheinbare Gegensatzpaar von Selbstliebe und Liebe zu anderen auf einem falschen Verständnis von Selbstliebe beruht: Wahre Selbstliebe, so Aristoteles, teilt sich selbst die wertvollsten Güter zu, nämlich die Tugenden. Aristoteles behauptet sogar, dass Selbstliebe die Voraussetzung für die gelingende Freundschaft mit anderen darstellt. Interessant ist die Überzeugung des Denkers, dass nur gute Menschen in der Lage sind, sich selbst zu lieben und in seelischer Harmonie zu leben, weil sie konsequent nach ihren ethischen Prinzipien leben, nicht gespalten sind zwischen dem sittlich Guten und dem außermoralisch Erstrebenswerten und folglich weder Reue noch Selbsthass empfinden. Diese Auffassung des Aristoteles wird von der modernen sozialpsychologischen Forschung bestätigt. Menschen, für die praktizierte Mitmenschlichkeit und ehrenamtliches Engagement auf der Tagesordnung stehen, sind seelisch stabiler und weniger vulnerabel als andere. Sie zeichnen sich aus durch innere Stärke und Vertrauen in die Wirksamkeit des eigenen Handelns und sind somit auch glücklicher.

    Warum ist das so? Zum einen liegt das in der Natur der Mitmenschlichkeit. Anders als Güter wie beruflicher Erfolg, Ansehen, Attraktivität, die – nicht nur, aber auch – vom Zufall abhängig sind, liegt Mitmenschlichkeit in unserer Hand und ist selbst unter widrigen Umständen möglich. Menschen, für die Mitmenschlichkeit und Güte wichtige Werte darstellen, sind naturgemäß weniger abhängig von den Fügungen des Schicksals: Sie können ihre Grundwerte konsequent realisieren und mit ihren Werten auch sich selbst und ihr Erfüllungsglück verwirklichen. Dass Mitmenschlichkeit auch unter extremen Umständen möglich ist, zeigen die Erfahrungen des Psychiaters und Holocaust-Überlebenden Viktor Frankl. Menschliche Zuwendung in Form von Mitfühlen und guten Worten zeigen, so Frankl, die unzerstörbare Freiheit des Menschen, zu gegebenen Umständen eine destruktive oder eine konstruktive Einstellung einzunehmen. Destruktiv ist eine Haltung des Fatalismus und der Hoffnungslosigkeit, konstruktiv ist eine Haltung der Güte und Hinwendung zum anderen, die auch im Leiden Sinn stiften kann. Diese sinnstiftende Kraft ist ein weiterer Grund, weshalb Mitmenschlichkeit glücklich macht. Eben deshalb ist Mitmenschlichkeit auch eine effektive Strategie zur Bewältigung von Leiderfahrungen. José Carreras gab seiner Blutkrebserkrankung einen Sinn, indem er eine Leukämie-Stiftung ins Leben rief, die bis heute Ärzte und Patienten mit Forschungsstipendien und Krankenbesuchen unterstützt.

    Durch engagierte Mitmenschlichkeit nehmen wir Einfluss auf unsere Deutung der Welt: Wenn wir anderen mitfühlend begegnen, dann beweisen wir auch uns selbst, dass das Gute möglich ist. Eine zynische Weltsicht lässt sich dann nicht mehr aufrechterhalten.

    Ein Letztes: Tätige Mitmenschlichkeit konfrontiert uns mit Erfahrungen, die wir sonst aus unserem Leben ausklammern: Leiden, Krankheit und Tod. Wenn wir einen sterbenden Menschen begleiten, lernen wir auch den Umgang mit unserer eigenen Sterblichkeit. Im besten Fall können der Kranke und seine Angehörigen zum Vorbild für uns werden. Mitmenschlichkeit ist so verstanden ein Geben und Nehmen.


    Zur weiteren Lektüre

    Aristoteles, Nikomachische Ethik, übers. und hg. von Ursula Wolf, Reinbek bei Hamburg 20082.

    Albert Camus, Hochzeit des Lichts. Heimkehr nach Tipasa, München 1994.

    Viktor Frankl, …trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager, München 200829.

    Erich Fromm, Die Kunst des Liebens, München 201573.

    Pierre Hadot, Philosophie als Lebensform. Antike und moderne Exerzitien der Weisheit, Frankfurt am Main 2002.