Erfahrungsberichte aus den Mittelschulen

Meine Zeit am Gymnasium St.Klemens

Ein kurzer Bericht

    Während meiner Zeit am Gymnasium galt meine grosse Leidenschaft zuerst den Naturwissenschaften. Molekülmodelle und biochemische Prozesse in den Zellen von Lebewesen faszinierten mich zutiefst, die Welt der Naturwissenschaften war klar strukturiert, prägte sich mir leicht ein und das Wunder des Lebens schien nie an Wirkkraft zu verlieren. Meine Idylle geriet erst in Schieflage, als zwei Jahre vor der Matura das neue Fach “Philosophie” hinzu kam. In sokratischer Manier rüttelte mein Philosophielehrer an den Pfeilern der naturwissenschaftlichen Empirie und Klarheit. War auch in der Biologie eigentlich alles komplizierter als es schien? Kam auch die empirische Wissenschaft gar nicht zu eindeutigen Ergebnissen? Nach etlichen Diskussionen im Philosophie-Unterricht, die mir den Übernamen “Frau Biologin” eingebracht hatte, musste ich mich schliesslich geschlagen geben. Wie die Figuren in den Platonischen Dialogen, musste ich einsehen, dass mir wenige Argumente blieben, um mein reduktionistisches naturwissenschaftliches Weltbild aufrechtzuerhalten. Ich musste mich der Ungewissheit einer nicht rein physikalisch berechenbaren Welt stellen. Dies sollte sich als wahrer Befreiungsschlag erweisen; ohne dass ich mich von meiner Faszination für die Naturwissenschaften ganz verabschieden musste.

    Das Gymnasium St.Klemens ist eine relativ kleine Schule und erfüllte zumindest damals Teile des Klischees, einen verstaubten katholischen Hauch zu besitzen. Neben Schulgottesdiensten, die zum Glück mit Texten aus Rap-Songs aufgefrischt wurden, hiess das aber auch, dass humanistische Werte wie die des Zusammenhalts, der gegenseitigen Rücksichtnahme und Aufmerksamkeit gepflegt wurden. An den zahlreichen Schulfesten und Veranstaltungen gab es Gelegenheit mit Mitschülerinnen und Lehrern gleichermassen über Gott und die Welt zu philosophieren. Je näher wir den Maturaprüfungen kamen, desto mehr verlagerten wir unsere philosophischen Diskussionen von den Schulfesten in die Raucherbars der Luzerner Altstadt. In einer vierer Gruppe diskutierten wir eifrig und wild über die Texte, die wir gelesen hatten, kauten an grossen Namen wie Habermas und Durkheim, versuchten Platon und Aristoteles zu verstehen, feierten Marx Religionskritik und Hannah Arendts Gedanken zur Gesellschaft. Was sich für uns anfühlte, als würden wir im Sturm die ganze Welt der Gedanken erobern, mag von aussen ziemlich anstrengend gewesen sein. Nicht alle Mitschülerinnen und Mitschüler teilten unsere Hochachtung der komplizierten Gedanken und unsere zuweilen aufgesetzte Gelehrsamkeit. Immerhin waren wir knappe 17 Jahre alt, als wir uns fühlten, als würden wir in die Fussstapfen alter grosser Denkerinnen und Denker treten. Heute glaube ich, dass etwas weniger Fokus auf komplizierte alte Texte und etwas mehr Bezug zur Alltagsrealität unserem Unterricht gut getan hätten. So wird die Philosophie zugänglicher, spielerischer, und findet mehr zu dem zurück, was ich persönlich am wichtigsten finde: Sich in der Welt und dem eigenen Leben besser orientieren zu können und Dinge sagbar zu machen.

    Damals war die Welt der Philosophie für mich neu und aufregend, mit ihrem subversiven Charakter aber genauso anstrengend und verwirrend. Nach dem Gymnasium entschied ich mich, an der ETH Zürich Umweltnaturwissenschaften zu studieren, in der Hoffnung, mein Interesse für Naturwissenschaften und Philosophie vereinen zu können. Immerhin stellt dieses interdisziplinäre Feld neben physikalischen stets auch moralische und politische Fragen nach der Beziehung zwischen Mensch und Natur. Nach nur zwei intensiven Jahren des Philosophie-Unterrichts am Gymnasium war es mir aber nicht mehr möglich, Konzepte wie “Nachhaltigkeit” oder “Natürlichkeit” einfach so hinzunehmen und die Umweltwissenschaften lebten nunmal nicht von Begriffsdiskussionen. Was schade ist, denn ich bin überzeugt, dass naturwissenschaftliche Studiengänge, insbesondere die Umweltwissenschaften, von einer philosophischen Reflexion ihrer Grundbegriffe sehr profitieren würden. Die Frage, wie weit die Aussagekraft empirischer Untersuchungen reicht, scheint mir angesichts aktueller politischer Debatten relevanter denn je. Für den Master entschied ich mich, auf Philosophie zu wechseln und studierte Philosophie und Geschichte des Wissen an der ETH Zürich. Sehr zur Freude meines alten Philosophie-Lehrers vom Gymnasium, der mir dafür anerkennend auf die Schultern klopfte. Lachend erklärte er, dass gewisse Schülerinnen und Schüler etwas länger brauchen, um “zur Vernunft” zu kommen. Ohne zu behaupten, dass der Weg der Philosophie der einzig gangbare oder gar vernünftige ist; so sehe ich doch, dass in meinem Leben vieles fehlen würde, wäre ich nicht mit der Kunst des Denkens in Kontakt gekommen. Nicht zuletzt dieser Einfluss auf mich hat mich dazu bewogen, selbst Philosophielehrerin für die Mittelschule zu werden – um weiterzugeben, was ich als wertvoll erachte, und hoffentlich besser zu machen, was ich an meinen Lehrerinnen und Lehrern kritisiere.