Der Mensch als Empfangender und Handelnder

Menschliches Leben ist von Anfang an passiv und aktiv zugleich.

    Menschliches Leben ist von Anfang an passiv und aktiv zugleich. Biologische Erkenntnisse legen nahe, dass die menschliche Eizelle sich bereits im Eierstock bereitmacht, bevor sie sich auf „ihre Reise begibt“. Eizelle und Samenzelle vereinigen sich aktiv und passiv zugleich. Noch kann von einem Handeln und Empfangen im Vollsinn nicht die Rede sein. Doch zeigt sich bereits, dass das menschliche Sein von Anfang an (wie das Leben überhaupt) passiv und aktiv ist. Zugleich verdankt es sich einer Mutter und einem Vater, die beide das Kind „er-zeugen“, beide diesem Kind ihr Erbgut mitgeben, und zugleich beide ein Kind empfangen, auch wenn letztlich die Mutter sichtbar die Empfangendere zu sein scheint.

    Wenn der Befruchtungsvorgang abgeschlossen ist und der menschliche Embryo zu einem Individuum heranreift und sich einnistet, ist er ungeheuer aktiv. Er bewirkt, dass sich der Hormonhaushalt der Mutter radikal umstellen muss. Neben einer meist grossen Müdigkeit und immer wiederkehrenden Übelkeit entdeckt die Mutter auf einmal Vorlieben für bestimmte Speisen, die sie bis dahin keines Blickes gewürdigt hat. Auch ihr Tagesplan verändert sich aufgrund des heranwachsenden Kindes in ihrem Leib. Neue Gedanken beschäftigen sie und den Vater des Kindes. Auch der Vater spürt seine neue Verantwortung. Das Kind gewinnt bereits Einfluss über sein Leben, wenn er es noch nicht einmal ertasten konnte. Zugleich ist das Kind von der Mutter vollständig abhängig. Es empfängt von ihr die Nahrung, die es zum Leben braucht und vor allem die Wärme und Geborgenheit, ohne die es sterben würde. Es empfindet die mütterlichen Gefühlsschwankungen und ist der Mutter und ihrem Ja zu seinem Leben ausgeliefert.

    Auch nach der Geburt bleibt das Kind auf Menschen angewiesen. Ohne die emotionale Zuwendung von einem lebendigen Wesen kann es nicht einmal überleben. Wieder ist das Kind empfangend und lebt aus dem Geschenk der Nähe anderer Menschen, lebt von deren Handeln, das sich vielleicht in bestimmten Stunden darauf beschränkt, dem Kind liebevoll zuzulächeln. Gerade darin aber zeigt sich dem Kind die ursprünglichste Weise zu empfangen, nämlich bejaht zu werden. Es spürt, dass es in seiner einmaligen Konkretheit angenommen ist, und erfährt auf diese Weise das Geheimnis von Liebe als Wertschätzung des eigenen Selbst durch einen anderen.

    Doch keine Zuwendung, wie liebevoll sie auch sein mag, ist grenzenlos und fehlerfrei. Das Kind erfährt jetzt erste Verletzungen und spürt, dass es nicht alles bekommen kann. Bald empfängt das Kind auch von anderen Menschen Zuwendung und Nähe und spürt zugleich auch deren Grenzen. Es erfährt, was es bedeutet, wenn sich die Sehnsucht nach Liebe nicht gänzlich erfüllt. Es erfährt, dass es in einer Welt ist, die von Schuld durchwoben wird.

    Umgekehrt erweitert sich der eigene Handlungsspielraum. Das Kind kann zuerst durch zufriedenes Lächeln und Schreien Einfluss nehmen. Sein Rhythmus prägt die Lebensrhythmen der Eltern. Wenn es die ganze Nacht schreit, tun auch diese kein Auge zu. Wenn es zufrieden strahlt, sind auch die Eltern beglückt. Ohne sich dessen bereits ausdrücklich bewusst zu sein, merkt das Kind, dass es lieben, andere bejahen kann. Es merkt auch, dass es begrenzt ist und damit anderen nie alles zu geben vermag, was es selbst möchte oder aber die anderen erwarten.

    Der Mensch erfährt jetzt deutlich den grossen Unterschied zwischen seinem Wollen und Tun. Wollen kann er alles Mögliche und sogar Unmögliche, tun kann er nur, was im Bereich des Möglichen ist. Sein Wollen kann er wieder aufgeben und anderes wollen. Was er einmal getan hat dagegen, ist zu einer alle seine Freiheit übersteigenden Notwendigkeit geworden, zu einem realen Faktum, das er nie mehr wirklich ungeschehen machen kann. Wenn das Tun glückt, schafft es einen heilenden Raum, in dem es sich zu leben lohnt. Doch wird sich der Mensch, je mehr Lebenserfahrung er erwirbt, umso deutlicher bewusst, dass sein Tun nie ganz reine Liebe und Bejahung des anderen sein kann, dass sich immer wieder Schuld hineinmischt. Er nimmt nun umgekehrt sehr deutlich wahr, dass auch gegen ihn selbst Unrecht geschieht. Auch wenn ein Teil der Schuld wieder gutgemacht werden kann, so bleibt sie als Wirklichkeit dennoch erhalten. Manche Schuld aber lässt sich in dieser Welt nicht mehr gutmachen. Am klarsten wird dies, wenn jemand den Tod eines anderen Menschen verschuldet. Beim besten Willen kann er diesen Menschen nicht mehr ins Leben zurückbringen. Aber auch wer in seinem Leben eine falsche Entscheidung getroffen und dadurch das Gefühl bekommen hat, kostbare Jahre seines einmaligen Lebens verspielt und dadurch weder anderen Menschen die Liebe geschenkt zu haben, die sie benötigten, noch die Liebe erfahren zu haben, die möglich gewesen wäre, kann durch eine Revision der Entscheidung die Jahre nicht wiedergewinnen.

    Vielleicht dürfen wir manchmal reinen Liebe und Bejahung erleben. Vielleicht erleben wir Momente, in denen wir uns als rein liebende oder als absolut geliebte spüren, flüchtig, aber dennoch wie eine Vorahnung auf ein mögliches Glück. Doch gerade in dieser Vorahnung spürt er auch die Entzogenheit. Wir sind nicht Herr unseres eigenen Glücks. Wir spüren, dass wir aus eigener Kraft das letzte Heil nicht schaffen können. Streben wir das Paradies auf Erden an, so werden wir scheitern, wie vor ihm die grossen innerweltlichen „Erlöser“ gescheitert sind und noch scheitern werden. Der Homo Deus ist keine wirkliche Realität: Wir Menschen können nicht Gott spielen.

    Wenn uns das bewusst wird, wenn uns bewusst wird, dass wir bis zum letzten Atemzug immer auch empfangende sind, dann haben wir uns nicht an unserer Lebensrealität vorbeigemogelt. Dann begreifen wir auch den Tod als endgültige Grenze unserer irdischen Möglichkeiten und werden uns im Innersten bewusst, dass all unser Wollen und Handeln nie ganz das erreicht, wonach wir uns eigentlich sehnen, nach dem niemals endenden Glück.