Selbstmörder hat es zu Millionen gegeben

Eine Einsendung im Rahmen des Essaywettbewerbs zum Thema "Selbstmord"

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    «Selbstmörder hat es zu Millionen gegeben.» «Aber alle nicht deswegen. Alle haben sie sich mit Angst und nicht deswegen getötet.»

    Selbstmord. Darf man diesen Begriff heute noch verwenden? Bei kaum einem Wort schwingt eine solche Härte, eine solche Wucht mit wie diesem. Bilder von grotesken Szenen, trauernden Familien und einer verständnislosen Öffentlichkeit. Persönliches Versagen, Feigheit und Verantwortungsentzug sind Vorwürfe, die an die verstorbene Person gestellt werden.

    Aufgrund dieser Vorbelastung bedient man sich heute gerne des neutraleren Terminus «Suizid», frei übersetzt; Selbsttötung. Hat der Begriff «Tötung» doch auch nicht die rosigsten Konnotationen, so scheint er immer noch besser als «Mord», der die Unrechtmässigkeit der Tötung bereits präsupponiert. «Suizid» klagt niemanden an, ist deskriptiv nicht normativ und enthaltet sich eines Urteils. Insgesamt scheint er einem zeitgenössischen Diskurs dienlicher.

    Doch ist das nicht Verharmlosung? Die kritische Stimme mag einwerfen, dass «Selbstmord» genau der passende Begriff sein, denn es wird ein Unrecht verübt, wenn man sein eigenes Leben nimmt. Eine solche Anklage mag mit verschiedenen Vorstellungen verbunden sein. Die Heiligkeit der Seele, charakterliches Versagen, Entwürdigung der eigenen Person, der Schaden an Freunden und Familien, materielle Konsequenzen für Angehörige. Grob lassen sich aus diesen Äusserungen zwei Positionen formulieren: Erstens; Suizid ist prinzipiell falsch, da die Selbstauslöschung an sich verwerflich ist. Zweitens; Suizid ist aufgrund der Konsequenzen und des Leides der Angehörigen verwerflich.

    Diese zweite Position ist ein komplexes Thema, da sie eine Auseinandersetzung mit verschiedensten Szenarien und Umständen voraussetzt. Verschiedene Suizide können unterschiedlichste Konsequenzen nach sich ziehen, manche vielleicht schlimmere als andere. Man könnte vielleicht sogar ein (sehr unwahrscheinliches) Szenario erfinden, indem der Suizid einer Person für niemanden negative Auswirkungen hat, oder noch extremer, nur positive Auswirkungen.

    Die erste Position, die im Suizid ein prinzipielles, intrinsisches Unrecht sieht ist hingegen simpler, doch umso radikaler. Selbst wenn keine einzige Person der Welt von dem Suizid betroffen wäre, so hat die verstorbene Person ein Unrecht an sich selbst, der Vernunft, der Menschenwürde, der Natur oder an Gott verübt. Im Folgenden soll diese Position, oder besser, diese Art der Argumentation untersucht werden und wie schlüssig diese ist.

    Ob man die Heiligkeit der Seele, die Menschenwürde oder was auch immer herbeizieht, die Idee bleibt ähnlich: Suizid ist ein Unrecht nicht gegenüber anderen, sondern, in letzter Konsequenz, gegenüber sich selbst. Indem man sich selbst tötet, negiert man die eigene Menschlichkeit. Kann man das Leiden auch nicht besiegen, so muss man doch darüberstehen. Erkennen, dass all das Leiden der Welt niemals gegen die Würde, ein Mensch zu sein aufgewogen werden kann. Wer sich selbst tötet, degradiert sich zu einem Tier, ohne Kontrolle über das eigene Benehmen. Man folgt dem Impuls das Leid zu beenden, entgegen der Forderung der Vernunft. Ähnlich einer suchtkranken Person, die trotz besseren Wissens konsumiert, um die Entzugserscheinungen zu lindern.

    Die Idee ist also, dass mit dem Suizid ein Gut verletzt wird, dass von einer anderen, höheren Qualität ist, als das Leiden oder die Freude im Leben. Wer sich selbst tötet, um das Leiden zu beenden nutzt die eigene Person nur als Mittel zu einem Zweck. Das verhinderte Leid kann niemals den Verlust der Menschlichkeit aufwiegen. Und wer vernünftig an diese Frage herangeht, so die These, muss das auch erkennen. Daher ist der Suizid prinzipiell ein Sieg der «niederen» Begierden und ein Zeichen der Schwäche der Person, die entgegen der Vernunft und der Menschlichkeit gehandelt hat.

    Eine radikale Gegenposition bietet die literarische Figur Alexei Nilytsch Kirilloff aus Dostojewskis Roman «Die Dämonen».1 Ohne tief in die Handlung des Werkes eingehen zu wollen, lässt sich sagen, dass Kirilloffs zentrale Rolle dessen Suizid ist. Wird dieser auch im Rahmen der Handlung instrumentalisiert, so sieht Kirilloff im Suizid primär einen Akt der Selbstermächtigung. Seine Motivation zum Tod ist kein weltlicher, kein Gebrechen, kein Entzug vor einer Verantwortung. Im Gegenteil, Kirillov negiert seine eigene Körperlichkeit, seine eigene Sterblichkeit und Begrenztheit im Akt des Suizids. Im Suizid ohne greifbaren Grund besiegt er die menschliche Angst vor dem Tod. Diese Angst, so Kirillov, sei die Grundlage für den Glauben an Gott. In seiner willentlichen Selbsttötung erhebt er seinen eigenen Willen zum Absoluten und Ungebundenen.

    Diese Ansicht mag vorerst wie die Spinnerei eines Verrückten wirken. Doch bei genauerer Betrachtung wird klar, dass sich Kirillov derselben Logik bedient, die bisher zur Argumentation für die Unrechtmässigkeit von Suizid herbeigezogen wurde. Reine Vernunft leitet Kirilloff, das weltliche Leiden oder Erfreuen ist irrelevant im Vergleich zu seiner Würde und seinem abstrakten Willen. Auch er teilt das menschliche Wesen in einen vernünftigen, «höheren» und einen körperlichen, «niederen» Teil ein, wobei die Vernunft für ein würdevolles Leben obsiegen muss. Doch er sieht im Hang zum Leben und in der Angst vor dem Tod Elemente, die es zu überwinden gilt. Nur durch den Suizid kann sich die ultimative Freiheit manifestieren.

    Kirilloffs Entscheidung zum Suizid scheint ihn dadurch nicht untermenschlich, sondern übermenschlich zu machen. Sowohl die Gegner des Suizids als auch Kirillov plädieren für die Selbstermächtigung; auf der einen Seite um dem körperlichen und geistigen Leid zu trotzen und würdevoll darüber zu stehen. Auf der anderen Seite um die Welt, Leiden und Freude, Leben und Tod hinter sich zu lassen. Beide sehnen sich nach der uneingeschränkten Freiheit der Vernunft, nur meint die eine Seite, dass aus dieser folgen muss, dass Suizid prinzipiell ausgeschlossen ist. Kirilloff meint andererseits, dass Suizid der einzige Weg zur Freiheit sei. Aus seiner Perspektive ist die Person nicht mehr Mittel zum Zweck, viel eher wird die Person selbst zum ultimativen Zweck, wenn sie sich aus dem richtigen Grund selbst tötet. Der Suizid ist danach der Weg, die Person und deren Freiheit zum Höchsten zu steigern.

    Durch diese Überlegung soll nicht suggeriert werden, dass man für ein wahrlich selbstbestimmtes und würdevolles Leben Suizid zu begehen hat. Doch ebenso absurd ist die extreme Forderung, dass Suizid immer einer Selbstentwürdigung und Charakterschwäche gleichkommt. Beiden dieser Thesen unterliegt dieselbe Logik des Triumphs der Vernunft gegenüber den niederen körperlichen Impulsen. Es ist also keinesfalls klar oder selbstverständlich, dass Suizid immer eine Art des Unrechts gegenüber der eigenen Person, Würde und Menschlichkeit darstellen muss.

    Im Gegenteil, die Praxis der Sterbehilfe zeigt, dass Suizid unter Umständen eine Möglichkeit sein kann, würdevoll zu leben und zu sterben. Assistierter Suizid stellt eine Art und Weise dar, wie man am Lebensabend die eigene Autonomie bestätigen oder wiederherstellen kann. Statt sich dem eigenen qualvollen und zuteil tiefst entwürdigenden Schicksal hinzugeben, entscheidet man bewusst, wie das Leben zu Ende gehen soll. Eine Art der Selbstermächtigung wie Kirillov sie besprochen hat.

    Es bleibt grundsätzlich fragwürdig, wie adäquat die Vorstellung ist, dass man sich selbst (oder seiner Würde, Menschlichkeit, Natur, …) gegenüber eine Verantwortung trägt und sich selbst Unrecht zufügen kann. Doch will man sich dieser Logik bedienen, so lässt sich daraus kein prinzipielles Suizidverbot ableiten. Das Dostojewski Zitat, dass diesem Essay den Titel gibt, spiegelt die Situation viel besser wider. Relevant ist nicht die Handlung, sondern die Gründe dazu. Suizid als letzter Ausweg, als Aufgeben gegenüber dem Leiden, hier könnte man ein Unrecht an sich selbst verorten, eine charakterliche Schwäche, welche die Person einknicken liess. Doch nicht jeder Suizid muss diesem Extrem zugehören. Auf der anderen Seite des Spektrums liegt der Suizid, der ausgeübt wird, um die eigene Autonomie wiederherzustellen oder zu erhalten. Nicht Flucht und Entkommen, sondern Kontrolle, Selbstermächtigung und Agency. Das Leben wird bewusst beendet, nicht, da man es nicht mehr ertragen kann, sondern weil man selbst einen würdevollen Schlusspunkt setzen will.

    Viele Suizide liegen zwischen diesen zwei Polen. Die Fälle sind kompliziert, die Grenzen verwischen. Etwa der Fall einer Person, die nach einer leidgeplagten Phase im geplanten Suizid den Weg findet, um das Leid zu beenden und immerhin im Ende die Kontrolle über ihr Leben zurückzuerlangen. Es ist nicht offensichtlich wie ein solcher Fall zu bewerten ist. Und genau darin liegt die Erkenntnis; der Suizid ist nicht intrinsisch mit dem Unrecht behaftet. Entscheidend sind die Gründe und die Einstellung, die eine Person zu ihrem Leben und ihrem Tod einnimmt.


    1Die relevanten Passagen (inklusive dem Zitat aus dem Titel) finden sich in: Dostojewski, F. M. (1921a). Sämtliche Werke 5-6: Die Dämonen. R. Piper & Co., S. 154-163.