Zur Liebe gestiftet: Ereignis und Werden einer geteilten Erfahrung

"Liebe ist anfangs eine Gabe und schließlich ein Band zwischen mindestens Zweien, das umso fester ist, je mehr sich die Liebenden um die Liebe bemühen."

·

    Mit „Gefühlen“ tut sich die Philosophie bekanntlich schwer, sind Gefühle doch vor allem wortlos und stellen sich dem Verstand entgegen: Sich traurig zu fühlen, ist nun einmal präsent einzig und allein in der Erfahrung selbst – ein Sprechen über das Gefühl des Traurigseins wird das Gefühl selbst weder preisgeben noch erschöpfen können. Und doch gibt es eine Denktradition, die sich gerade auf Phänomene der Erfahrung und so auch der Gefühle festgelegt hat: die Phänomenologie. Gegenstand der Phänomenologie können nur solche Phänomene sein, die zur Bedingung haben, dass sie erfahrbar sind. Liebe scheint vor diesem Hintergrund ein ausgezeichneter Gegenstand zu sein: Es wird wohl kaum jemanden geben, der mit diesem Gefühl nicht schon so seine Erfahrungen gemacht hat.

    Phänomenologisch über Liebe zu sprechen, bedeutet also, sich der Liebe über ihren Erfahrungscharakter anzunähern: „Liebe“ muss nämlich von jemandem erfahren werden – doch enthält diese Erfahrung zudem immer schon einen Bezug zum Anderen: Ich kann Liebe erfahren, über Liebe nachdenken und Liebe empfinden einzig unter der Voraussetzung, dass ich bereits von jemandem geliebt worden bin, selbst jemanden geliebt habe usw. Somit zeigt sich Liebe als ein soziales und inter-subjektives Phänomen. Liebe ist also keineswegs eine private Angelegenheit!

    Zudem eröffnet der Erfahrungscharakter der Liebe einen Zugang zur Beschreibung ihrer zeitlichen Dimension: Wir können die Erfahrung von etwas nicht machen, wenn diese Erfahrung nicht zugleich auch in der Zeit statthat. Je nach Phänomen kann der Zeitlichkeit dabei eine je verschiedene Rolle zukommen. Während etwa das Phänomen „Durst“ verschwindet, sobald der Durst gelöscht ist, muss beim Phänomen der Liebe von einer anderen Zeitlichkeit ausgegangen werden. Denn bei der Liebe kann es kein bereits vorab bekanntes Ende geben (wäre dies der Fall, bräuchte es vor dem Traualtar etwa keinen Schwur). Was die Liebe in zeitlicher Hinsicht kennzeichnet, ist vielmehr, dass sie in Erscheinung treten muss, sprich: Liebe muss sich ereignen. Und nicht nur das: Sie hat auch eine Dauer, oder genauer: ein Werden. Ereignis und Werden der Liebe sollen im Folgenden mithilfe des Stiftungskonzeptsi genauer betrachtet werden.

    *

    Man wird nicht planen können, jemanden zu lieben. Während man sich etwa mit einer Nadel in den Finger stechen kann, um Schmerz zu empfinden, oder einen Horrorfilm schauen, um sich zu fürchten, ist das Besondere an der Liebe, dass sie kontingent ist, das heißt weder notwendig noch planbar. Daher eignet sich das Konzept der Stiftung in besonderer Weise, um das Phänomen der Liebe genauer zu beschreiben. Denn eine Stiftung lässt sich zunächst folgendermaßen bestimmen: Mit der Stiftung lassen sich im Unterschied zu Konzepten wie der „Intention“, der „Handlung“ oder „Konstitution“ Vorgänge beschreiben, die sich ereignen, ohne dass dies auf die willentliche bzw. bewusste Entscheidung eines Subjekts zurückgeführt werden kann. Eine Stiftung ist somit ein kontingentes Ereignis in der Raumzeit, aus dem etwas Gestiftetes hervorgeht. Mit Bezug auf eine Liebesbeziehung kann das etwa eine zufällige Begegnung zweier Menschen im Zug oder in einem Café sein. Im Moment der ersten Begegnung wird in den allermeisten Fällen nicht schon der Anfang einer Liebesgeschichte antizipiert werden können.ii Bezeichnend für eine Stiftung ist vielmehr, dass es sich um ein nachträgliches Sprechen über jenes Ereignis handelt, das Ursprung der Liebe erst noch gewesen sein wird. Es gibt also ein ursprüngliches Stiftungsereignis – im Französischen bietet sich hierfür, anders als im Deutschen, der Begriff des Avénément an.iii Dabei wird der Begegnung zunächst eine singuläre, eine besondere, Bedeutung beigemessen. Und weil diese Begegnung als bedeutend wahrgenommen und erfahren wird, werden sich diese zwei einander Begegnenden, die sich ‚später’ lieben werden, darum bemühen, das ursprüngliche Stiftungsereignis in einer anderen Form zu ‚wiederholen’ bzw. zu ‚aktualisieren’. Rekurrierend auf dieses Avénément wird jede folgende Begegnung, jeder Wortwechsel, jede Empfindung der oder dem Anderen gegenüber ein erneutes Stiften von Bedeutung sein, welches gegenüber des Avénéments als Événément gekennzeichnet werden kann.iv Hat also das ursprüngliche Ereignis einmal stattgefunden, kann sich darauf aufbauend eine ‚Liebesgeschichte’ entwickeln: Durch die ursprüngliche Stiftung kann ein Werden der Liebe hervorgehen, das von den folgenden Ereignissen, d.h. Handlungen, Gefühlen, Gedanken usw., getragen wird.

    Die Betonung liegt hier jedoch auf dem „kann“: Um dem Zufall der ursprünglichen Begegnung ein Liebesband zwischen den einander Begegnenden folgen zu lassen, müssen nicht nur beide der Begegnung eine Bedeutung bemessen, sondern diese muss sich als Treue zu diesem Zufall des Anfangs zeigen.v Dies bedeutet zum einen, dass jede einzelne Beziehung eine ganz eigene Stiftung der Liebe ist: Keine Liebesgeschichte gleicht der anderen. Zum anderen bedeutet dies, dass es mit der einmaligen Stiftung noch lange nicht getan ist. Dass die ursprüngliche Stiftung kontingent ist, bedeutet zugleich nämlich auch, dass es keinerlei Garantie gibt, dass eine Liebesgeschichte ewig fortdauert. Entsprechend kann etwa dem Liebesbeweis oder dem Liebesschwurvi eine besondere Bedeutung zukommen: Liebe ist dann wie ein Feuer, das erlöschen kann und das daher immer wieder angefacht werden muss. Es liegt an den Liebenden selbst, Liebe in Form von Événéments wieder und wieder neu zu stiften, zu erneuern. Die Leichtigkeit des Anfangs (Avénéments) steht letztlich im größtmöglichen Kontrast zur Schwierigkeit der nötigen Aufrechterhaltung (Événéments), ohne welche die Liebe erlöschen würde.

    Liebe ist somit abhängig von der Bedeutung, die ihr beigemessen wird, und dem Engagement, das um ihrer Willen betrieben wird. Liebe ist anfangs eine Gabe und schließlich ein Band zwischen mindestens Zweien, das umso fester ist, je mehr sich die Liebenden um die Liebe bemühen.


    i Das Konzept der Stiftung, auf das sich die Autorin bezieht, stammt ursprünglich von Edmund Husserl, dem Begründer der Phänomenologie; vgl. Edmund Husser, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, hrsg. von Walter Biemel, Den Haag: Martinus Nijhoff 1976.

    ii Sehr wohl allerdings kann selbstverständlich schon etwas empfunden und erfahren werden, dass später mit der erfahrenen Liebe in Verbindung gebracht werden kann.

    iii vgl. Maurice Merleau-Ponty, L’institution et la passivité. Notes de cours au Collège de France (1954-1955), hrsg. von Dominique Darmaillacq, Claude Lefort und Stéphanie Menasé, Paris: Belin 2003, 56 et pass.

    iv Diese Unterscheidung führt Maurice Merleau-Ponty ein, vgl. ebd.

    v Alain Badiou, Lob der Liebe. Ein Gespräch mit Nicolas Truong, aus dem Französischen von Richard Steurer, Wien: Passagen 2011, 43.

    vi Während kulturell institutionalistierte Akte wie die Verlobung, Heirat, usw. stabilisierend wirken können, kommt dem Liebesbeweis bzw. dem Liebesschwur eine gesonderte Bedeutung, die über das Stabilisieren hinaus Wirkungen entfalten kann, zu. Mehr hierzu vgl. ebd., 40ff.