Kralle, die philosophische Katze,

fragt sich heute

Was ist eine tugendhafte Person?

Kralle fragt sich, ob solch' gute Charaktereigenschaften wie Tapferkeit und Klugheit alle gleichermassen haben. Könnte es sein, dass dies ein anderer Zugang zur Ethik ist?

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    (Text von Sandro Räss)

    Im Unterschied zur Pflichtethik und zum Konsequentialismus fokussiert die Tugendethik weniger auf Handlungen oder auf die Folgen einer Handlung, sondern auf den Charakter einer Person. Im Zentrum der Tugendethik steht der Begriff der tugendhaften Person, einer Person, die exzellente Charaktereigenschaften besitzt. Klassische Beispiele für exzellente Charaktereigenschaften, sogenannte Tugenden, sind Weisheit oder Klugheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit und Selbst-Beherrschung. Die Tugendethik versucht ethische Fragen zu beantworten, indem sie fragt, was eine tugendhafte Person in einer bestimmten Situation tun würde.

    Eine häufig genannte Kritik an die Tugendethik ist, dass die Tugendethik nicht in der Lage ist, konkrete Antworten zu liefern. In der Tat, verglichen zum Konsequentialismus oder zur Pflichtethik, bietet die Tugendethik keine Regeln oder Prinzipien an, die man „mechanisch“ auf ethische Probleme anwenden könnte, wie im Beispiel des Trolley-Gedankenexperiments. Aber vielleicht liegt genau in diesem angeblichen Mangel die Stärke der Tugendethik.

    Wir alle haben von Menschen gehört, die Aussergewöhnliches zustande gebracht haben. Wir alle kennen Geschichten von Menschen, real und fiktiv, die wahren Mut bewiesen haben und die sich trotz Lebensgefahr für die Schwachen eingesetzt haben. Wer von uns hat den Mut und das Durchhalte-Vermögen von Mahatma Ghandi, der sich für die Ärmsten der Inder eingesetzt und sich mit dem britischen Imperium angelegt hat? Wer von uns besitzt die Selbst-Beherrschung und Besinnung von Nelson Mandela, der trotz Apartheid, erfahrenen Strapazen und nach 27 Jahre Gefängnis nicht zur Gewalt gegen Weisse ausgerufen hat? Und wer von uns besitzt die Weisheit eines Jesus Christus‘ oder die Klugheit eines Albert Einsteins?

    Selbst wenn man persönlich diese eben genannten Menschen nicht schätzt, wird jeder von uns Menschen kennen, deren Charaktereigenschaften man selber bewundert. Und wollen wir nicht selber auch diese besonderen Charaktereigenschaften erwerben? Wollen wir nicht auch klüger und weiser werden? Wollen wir nicht auch mutiger und selbst-beherrschter sein?

    Was der Tugendethik fehlt, nämlich eine konkrete Anleitung zu was eine Handlung gut oder falsch macht, macht sie wieder gut, in dem sie uns eine Orientierung gibt, wie wir besser im Leben werden können, nämlich, durch das Aneignen von guten Charaktereigenschaften, die wir in besonderen Menschen erkennen oder durch das Abgewöhnen von schlechten Charaktereigenschaften, die wir wiederum in schlechten Menschen sehen.

    Der Chef, der einfach so Frauen einen schlechteren Lohn anbietet, als gleich-qualifizierten Männern, ist nicht nur deshalb schlecht, weil er Leid in Form von Frustration verursacht, sondern auch, weil er schlechte Charaktereigenschaften besitzt: Er ist unweise, ignorant und voreingenommen. Er denkt nicht über Dinge nach, wie wir es von einer klugen und weisen Person erwarten würden.

    Die Geschäftsfrau, die unbekümmert Geschäfte mit Kinderarbeit macht, ist nicht nur deshalb schlecht, weil sie Leid in Form von Misshandlung und Armut verursacht, sondern auch, weil sie schlechte Charaktereigenschaften besitzt: Sie ist skrupellos, opportunistisch und besessen von Geldgier. Sie nimmt die Bedürfnisse, Interessen und Rechte Anderer nicht wahr, wie wir es von einer fairen und gerechten Person erwarten würden.

    Selbst wenn sich beim sexistischen Chef noch nie eine Frau beworben hat oder selbst wenn die skrupellose Geschäftsfrau bisher nie Geschäfte mit Kinderarbeit gemacht hatte, sind sie, aus der Sicht der Tugendethik, immer noch kritisierbar. Was bei der Tugendethik zählt ist nicht, ob die Personen bereits etwas Schlechtes oder Gutes getan haben, sondern, ob sie geneigt wären, in der jeweiligen Situation das Richtige oder das Falsche zu tun. Menschen mit schlechten Charaktereigenschaften sind dazu geneigt, schlechte Dinge zu tun, während Menschen mit guten Charaktereigenschaften dazu geneigt sind, gute Dinge zu tun.

    Die Orientierung an Charaktereigenschaften hilft uns vielleicht wenig, wenn es um die Frage geht, ob wir einen Menschen töten dürfen, um 5 andere zu retten, wie im Beispiel des Trolley-Gedankenexperiments. Aber die Orientierung an Charaktereigenschaften hilft uns, so denke ich, Entscheidungen in Alltagssituationen zu treffen, wo konsequentialistische oder deontologische Überlegungen weniger hilfreich sind.