Die massive Verwendung des Wortes „beispiellos“ in der letzten Zeit ist, ironischerweise, beispiellos. Dies ist begründet, denn dies sind eben keine Zeiten, um sich an Beispielen zu orientieren. Dies sagt uns etwas über die Tragweite von Kasuistik, nach der man Theorien und abstrakte, generelle Regeln ablehnt, um sich stattdessen von Präzedenzfällen leiten zu lassen. Für das Denken in beispiellosen Zeiten zeigt Kasuistik eine fundamentale Schwäche: Es muss einen Fall geben, der dem aktuellen gleicht, um kasuistisch zu arbeiten.
Doch scheint sich diesmal nichts klarerweise Vergleichbares zu finden. Wenn ein Vergleich her muss, dann zieht man am ehesten die jährlichen Grippewelle heran oder, drastischer, die Hong-Kong-Grippewellen 1968 und 1970, die Ebola-Epidemie 2014 bis 2016, die Schweinegrippe von 2009, die spanische Grippe um 1919. Aber dennoch muss jeder mögliche Orientierungsfall erst einmal in zentralen Merkmalen gleichen. Und jeder dieser Fälle ist merklich anders als Sars-Covid-19, wenn es um die Übertragungsart und -häufigkeit, die Sterberate, die Eindämmungsmöglichkeiten usw. geht.
Wenn ein Vergleichsfall erst also in den relevanten Aspekten gleichen muss, um Orientierung zu geben, dann müssen wir anscheinend zuvor wissen, was einen Aspekt genau zu einem relevanten macht. Aber das kann die Kasuistik prinzipiell nicht leisten, denn dies würde heißen, über Einzelfälle hinaus generelle und geteilte Merkmale ins Zentrum zu stellen. Gerade das geht ja aber gegen den Kern der Kasuistik.
Unser Wunsch, uns an Vertrautem zu orientieren, ist natürlich verständlich; aber diese Orientierung basiert auf einer Orientierung, die wir bereits außerhalb der Einzelfälle besitzen: Wir sind bereits im Abstrakten orientiert, weil nur dies uns ermöglicht, zu eruieren, welche bereits vorgekommenen Merkmale für diesen Fall relevant sind. Zumindest insofern, dass wir gewisse Aspekte sinnvoll ausschließen können, was den Suchraum nach einer Lösung einengt.
Beispiellose Zeiten wie diese, die wir gerade durchmachen, verdeutlichen, dass uns Theorien festeren Halt geben als reine Präzedenzfälle. Dass wir mit Theorien anstatt Beispielen arbeiten müssen. Dass wir am ehesten in der Theorie Orientierung finden. Durch sie trennen wir adäquat die relevanten von den irrelevanten Vergleichen. Dies sind also Zeiten, in denen wir aufgrund der Daten, die wir haben, theoretisieren müssen. Es sind Zeiten des Philosophierens.
Sie geben uns die Eckpunkte vor, die unsere Theorien erfassen müssen und an denen sie gemessen werden. Und auch die Empfehlungen, die uns diese Theorien geben, sollten sowohl im Persönlichen als auch im Gesellschaftlichen bis ins Globale hinein tragfähig sein.
Wenn es wirklich so ist, dass wir eine solche Art des Theoretisieren für singuläre Katastrophenfälle wie die jetzige brauchen, dann hat dieses Bedürfnis nach substantiellen Theorien selbst wiederum Auswirkung darauf, welche Weichen wir nun stellen sollten.
Medizinische sowie natur- und ingenieurwissenschaftliche Fächer wurden mehr und mehr auf Praxis, auf Anwendung, auf Vermarktbarkeit ausgerichtet. Das Primat des Nutzens ist jedoch notwendig auf eine jetzige Praxis, auf jetzige Anwendungen und jetzige Märkte ausgerichtet – und lässt uns gerade deswegen für beispiellose Zeiten unvorbereitet. Das Theoretische kam vergleichsweise kurz — wenn, dann wurde es häufig durch eine geschichtliche Betrachtung ersetzt: So hat die Abteilung für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an den meisten Universitäten eine historische statt einer theoretischen Ausrichtung.
Die Abkehr vom Generellen rächt sich in beispiellosen Zeiten, weil hier nun Orientierung fehlt. Wir bemerken, dass wir kaum Notfallpläne hatten, als Sars-Covid-19 in Europa aufkam. Dass Mediziner*innen häufig überfordert sind von den ethischen Entscheidungen, die sie tagtäglich treffen müssen, wenn zu wenig Beatmungsmaschinen vorhanden sind. Dass es keine Schemata gibt, unter welchen abstrakten Umständen welche Grundrechte für wie lange eingeschränkt werden dürfen. Es fehlt an allen Ecken und Enden an theoretischer Hilfestellung und muss nun mit Blick auf Nachbarländer oder durch parallel laufende Gerichtsverhandlungen geklärt werden.
Manche erinnern sich an eine der Galionsfiguren des deutschen Krisenmanagements, Helmut Schmidt. Gerade dieser war philosophisch und theoretisch ein äußerst versierter Politiker, was vielleicht half, sich weder von Zauderhaftigkeiten noch Impulsen führen zu lassen. Theorien im Hintergrund verleihen eine gewissen Sicherheit. So können sie dem Rückgrat halt geben, den Wankelmut zügeln, und Handlungen beschleunigen, weil man sich nicht mit Irrelevantem aufhält.
Natürlich sollen wir unseren Theorien nicht unkritisch gegenüber stehen. Man mag nun meinen, dass diese kritische Einstellung wiederum verunsichert. Aber Kritik folgt selbst abstrakten Normen. Und in diesen versiert zu sein erlaubt es, passende von unpassender Kritik zu trennen und die passende ernst zu nehmen, ohne sich einer Handlungsempfehlung notwendig enthalten zu müssen. Zudem ist Kritik oft konditional: Wenn X, dann ist Theorie Y falsch, unangebracht, abzulehnen. Fakten geben dann eine weitere Orientierung in der Kritik: Wenn X nicht der Fall ist, dann ist die Kritik zwar richtig, aber hohl. Kritikfähigkeit muss deswegen nicht zu Unsicherheit führen, sondern betont nur die Notwendigkeit zur Orientierung im Abstrakten. Im Gegensatz ist Theorieverzicht sicherlich keine Lösung.
Dies bedeutet nicht, dass ein Primat der Anwendung auf den Kopf gestellt werden muss. Jedoch sollten vor allem auch in anwendungsbezogenen Fächern theoretische Lehr- und Forschungsstellen eingerichtet werden – Philosophie der Medizin, Ethik des Gesundheitsmanagements, Theorie der Epidemiologie, etc. Wollen wir uns für beispiellose Zeiten vorbereiten, so müssten diese Stellen sowohl ein theoretisches wie auch eine ethisches Standbein haben, um Handlungsempfehlungen für bisher uneingetretene Fälle geben zu können. Eine solche, unterschiedliche Zukunftsvisionen erfassende Ausbildung in den Fachdisziplinen fehlt, auch im selbsternannten „Land der Dichter und Denker“.
Obwohl solche rein fachbezogenen Theorie-Lehrstühle ein erster Schritt in der Ausbildung für diese Krisen wäre, würden sie uns in diesen Zeiten nur bedingt weiterhelfen. Denn wir bemerken nun, wie sehr verflochten alles ist: Ökonomie mit Virologie, Pädagogik mit Epidemiologie, und wer in der letzten Zeit (wie ich) versuchte, noch einen letzten Heimflug zu erwischen, entdeckt die Zusammenhänge zwischen Tourismus-Logistik und Sozialdarwinismus. Was wir brauchen ist eine Forschungseinrichtung, die Risikoabschätzungen fächerübergreifend theoretisch bearbeitet und faktenbasierte, theorie-intensive Entscheidungspläne ausarbeitet.
Eine solche Ausrichtung vertrat, bis zu deren Umzug ins Ausland, ein Teil der Stiftung für Effektiven Altruismus. Generell ist der Effektive Altruismus hier eine der Vorreiter, weil direkt im ethischen Reflektieren auch extreme Risikofälle auf globaler Ebene betrachtet werden. Weil es darum geht, das meiste Leid zu vermeiden, müssen eben auch unwahrscheinliche Fälle betrachtet werden, die – falls sie eintreten – extremes Leid bei extrem vielen verursachen.
Jedoch scheint eine private Stiftung nur bedingt der richtige Ort für ein solches Unterfangen. Ich stelle mir eher akademische Institute vor, die empirisch-kompetente theoretische Philosophie und Ethik, Entscheidungstheorie, Soziologie, Gesundheitswesen, Ökonomie, Systemwissenschaften, Physik und andere Fächer zusammenbringen, um langfristige Pläne für globale und internationale Risiken entwickeln. Oxford ist hier führend mit dem von Nick Bostrom geleiteten Future of Humanity Institute, Deutschland könnte leicht ein entsprechendes Max-Planck-Institut einrichten, Europa hätte hierfür im Rahmen des ERC-Programms ebenfalls die Mittel.
Idealerweise würde jedes Fach einen Vertreter für ein Jahr an dieses Institut abtreten, denn hier können wir uns keine verhärteten Strukturen wie bei der Vergabe klassischer Lehrstühle leisten. Solche Institute können der Politik entsprechende Orientierung geben für Fälle, an die Politiker*innen in ihrem Tagesgeschäft nicht denken. Wenn ein*e Politiker*in oder ein Parlament von diesen Empfehlungen abweicht, dann passiert dies eben in einem demokratischen Prozess, aber informiert durch diese von Experten vorgeschlagenen Krisenpläne.
Diesmal ist es ein Pandemie. Wir wissen nicht, was es das nächste Mal sein wird. Und wir haben keine Notfallpläne für den vorhergesehenen Zusammenbruch der Ackerböden in 60 Jahren, worauf bereits die UN hinwies; keine für einen nahenden Asteroiden, obwohl ein solcher bereits in der Vergangenheit die dominierende Lebensform zum Aussterben verdammte; keine für den Zusammenbruch des Kapitalismus; keine für synchronisierte Super-Eruptionen von Vulkanen und den daraus entstehenden Winter; keine für beispiellose Maße an kosmischer Strahlung und Partikeln, wie wir sie bei der kommenden Passage durch einen Spiralarm unserer Galaxie zu erwarten haben; zumindest keine öffentlich bekannten Pläne für ein Zusammenleben nach einer Nuklearkatastrophe; und letztlich haben wir – trotz mehr als 80 Wochen Fridays for Future – immer noch kein Modell für eine Gesellschaft in einer Zeit, in der die Klimakatastrophe nicht abgewendet wurde. Und, andererseits, keine ernstgemeinten, zielführenden Vorschläge für die Abwendung der Klimakatastrophe. Wie kann Politik zukunftsorientiert sein, wenn weder Politiker noch Volk ausgeklügelte, realistische Visionen der Zukunft auf verständliche Weise zur Diskussion gestellt bekommen?
Alle genannten Szenarien sind realistisch, wahrscheinlich, teils unumgänglich. Aber keines dieser Szenarien ist von irgendeiner Einzelperson adäquat zu erfassen, weil jedes einzelne unzählige Aspekte hat, die nur von Fachleuten zu überblicken sind. Wenn irgend eines dieser Szenarien eintritt, so können Entscheidungen ohne theoretische Beihilfe nur aus der Hüfte kommen – und solche schießen vermutlich mit massiven Folgen daneben.
Alle diese Szenarien sind realistisch. Aber keines dieser Szenarien ist von irgendeiner Einzelperson adäquat zu erfassen, weil jedes einzelne unzählige Aspekte hat, die nur von Fachleuten zu überblicken sind. Wenn irgend eines dieser Szenarien eintritt, so können Entscheidungen nur aus der Hüfte kommen – und diese können mit massiven Folgen daneben gehen.
In einer globalisierten, beispiellosen Welt können wir es uns nicht leisten, theoriefrei zu navigieren. Ohne Theorie keine Zukunft.