Was sich auf Hygiene-Demonstrationen und öffentlichen Plattformen der Lockdown-Gegner*innen versammelt, erscheint dem unvoreingenommen rationalen Verstand als ein eher wahlloses Sammelsurium heterogener und sich widersprechender Meinungen: Covid-19 sei eine durch die Lügenpresse verbreitete Erfindung dubioser Machthaber, um die Menschheit durch Zwangsimpfungen zu sterilisieren. Es sei die Rache der Natur dafür, dass wir Tiere essen und das Klima zerstören. Es sei aus einem chinesischen Geheimlabor entwichen oder wurde von CIA und Mossad gezielt freigesetzt. Es werde über das neue Handynetz 5G ausgelöst. Es sei ein Vorwand, um uns in unseren Grundrechten einzuschränken, eine Diktatur zu errichten und die Wirtschaft zu zerstören…
Was logisch eine Aneinanderreihung von Widersprüchen ergibt, fügt sich derzeit ideologisch zu einem Block. Doch was hält ihn zusammen? Eine Gemeinsamkeit scheint die aggressive Leugnung und Verdrängung der Fakten zu sein: „Corona gibt es nicht. Der Virus ist nicht tödlich, keiner der Todesfälle lässt sich auf Corona zurückführen. An Corona sterben nicht mehr Menschen, als bei einer normalen Grippewelle.“ Diese Stufenleiter des Leugnens über Verharmlosung bis hin zur Relativierung geht einher mit einem Mechanismus der Schuldabwehr. Zur Schuldabwehr gehört nach Adorno ganz wesentlich die Selbstinszenierung als Opfer. Die findet sich bei den Lockdown-Gegner*innen als zentrales, einendes Motiv: Neben Schildern wie „Mundtot und Rechtlos“ „Gefangen in einem freien Land“ „Gegen die globale Gesundheitsdiktatur“ „Kill Bill“ „Gebt uns unsere Grundrechte zurück“ „Wir wollen unser Leben zurück“ und „Gegen die Corona-Diktatur“ tragen einige Demonstrant*innen auch Judensterne und Bilder von Anne Frank als zynische Insignien ihres Opfer-Seins.
Die unbewusste Schuldabwehr zeigt an, dass das Ziel der staatlichen Schutzmaßnahmen, Leben zu retten, verdrängt werden muss. Ob in Deutschland von der AfD unterstützt oder in Spanien von der rechtspopulistischen Partei VOX organisiert, skandieren die Demonstrant*innen überall: „Freiheit! Freiheit! Freiheit!“ und übertönen damit den Umstand, dass ihre Freiheit, uneingeschränkt am öffentlichen Leben teilzunehmen, weiter in Vollzeit zu arbeiten, ihre Kinder betreuen zu lassen, gern auch auf Konzerte oder in Kneipen zu gehen und weltweit zu reisen, derzeit den Tod von unabschätzbar vielen Menschen bedeuten würde. Im Namen von Grundrechten und Selbstbestimmung fordern Rechtspopulist*innen, Impfgegner*innen, Verschwörungstheoretiker*innen, Esotheriker*innen und Wutbürger*innen aller Couleur, dass das Leben von chronisch Kranken, Behinderten, alten Menschen oder einfach das von denen, die Pech haben, nicht geschützt werden soll. Der sozialdarwinistische Effekt, den eine Aufhebung der Schutzmaßnahmen hätte, wird zwar nicht (oder kaum) propagiert, aber stillschweigend in Kauf genommen. Darum muss die Gefahr von Covid-19 geleugnet, das In-Kauf-Nehmen von Todesopfern durch die Gegenüberstellung von Werten wie Freiheit und Grundrechten gerechtfertigt, ihre Zahl an der von Verkehrstoten oder anderen relativiert und die potentielle Schuld am Tod von Menschen durch das Herausstellen der eigenen Opferrolle psychisch abgewehrt und verdrängt werden.
Diese psychologischen Mechanismen entsprechen erschreckend genau jenen, die Adorno in seinen Studien zum autoritären Charakter der autoritären Persönlichkeit attestierte. Um die Empfänglichkeit für faschistische Propaganda in der Bevölkerung statistisch abbilden zu können, entwickelte Das Institut für Sozialforschung in den USA der 40er Jahre die F-Skala, die latente antidemokratische Tendenzen in der Charakterstruktur aufdeckt. Das Besondere an dieser Skala ist, dass sie Vorurteile misst, „ohne diesen Zweck sichtbar zu machen und ohne eine Minderheitengruppe mit Namen zu nennen“ (T.W. Adorno, Studien zu autoritären Charakter, suhrkamp 2018, S. 37). Anstatt also explizite Fragen zur politischen Haltung zu stellen, wurden unverfänglichere Themen abgefragt: Ob man glaube, dass die Ursache von Konflikten und Kriegen letztendlich in der Natur des Menschen läge, ob es eine natürliche Verschiedenheit im Verhalten von Frauen und Männern gäbe, ob die Zivilisation bei allem Fortschritt den Menschen verweichliche, ob es heimliche Verschwörungen von Politikern gäbe, ob die Wissenschaft vielleicht nicht alles erklären könne, ob an der Astrologie mehr dran sei, als viele meinen etc. Dahinter steckt die These, dass bestimmte Tendenzen in der Charakterstruktur Bedürfnisse erzeugen, die das Subjekt besonders empfänglich machen für rechte Bewegungen, ohne dass es darum offen antisemitisch oder rassistisch eingestellt sein muss. Neben einer starren Bindung an konventionelle Werte, autoritäre Unterwürfigkeit und –Aggression, kennzeichnet die autoritäre Persönlichkeit ihr Hang zum Aberglauben und die Empfänglichkeit für Verschwörungstheorien. Die Gemeinsamkeit von Esoterik, Verschwörungsglauben und den affirmativ-autoritären Haltungen liegt darin, dass über sie das Bedürfnis erfüllt wird, das eigene Schicksal als durch äußere Mächte bestimmt und gelenkt wahrzunehmen.
Den Grund dafür, warum die autoritäre Persönlichkeitsstruktur auch in demokratischen Ländern verbreitet ist, sieht Adorno in der ökonomischen Fremdbestimmung: „Hier ist natürlich zu berücksichtigen, daß in der modernen Industriegesellschaft das Individuum tatsächlich immer weniger über sein Leben entscheiden kann“. (Ebd. S. 56.) Auch wenn die Ausformung eine irrationale ist, gibt es in der Gesellschaftsstruktur für diese heterogenen autoritären Ideologien einen objektiven Grund: in der kapitalistischen Produktion sind die Menschen tatsächlich ökonomischen Gesetzen unterworfen, die ihr Leben zu großen Teilen bestimmen und auf die sie keinen Einfluss nehmen können. Dies erkläre, warum die autoritäre Persönlichkeitsstruktur sich als ein „gemeinsames Denkmuster“ vieler Menschen herausbilden könne, denn ihre Ideologien erfüllen allesamt „eine Funktion bei der Anpassung des Individuums an die Gesellschaft“. (Ebd. S. 3) Die menschenverachtende Haltung des autoritären Charakters, die sich in den Anti-Lockdown-Demonstrationen äußert, geht daher in der Konsequenz mit rationalen wirtschaftlichen Überlegungen konform. In den Fox News, einem der meistgesehenen Nachrichtensender der USA, erklärte Dan Patrick, Vizegouverneur von Texas, am 20. April: „There are more important things than living and that‘s saving this country!” Auch Wirtschaftskorrespondentin J. Löhr fragte unter der Überschrift „Geld oder Leben“ in der FAZ vom 26.3.: „Rechtfertigt der Schutz einer bestimmten Bevölkerungsgruppe, erhebliche Teile der Gesellschaft in wirtschaftliche Existenzängste zu stürzen?“ Die Alten und Schwachen sollen das Risiko auf sich nehmen, zu sterben, damit die Wirtschaft leben kann. Die Freiheit, die von den Demonstrant*innen eingefordert wird, ist nichts als die doppelte des Lohnarbeiters, sich mangels Alternativen uneingeschränkt in der allgemeinen Konkurrenz behaupten zu dürfen. Darum bleibt sie notwendig partikular und schließt jene Risikogruppen, die ihre Haut nicht mehr zu Markte tragen können, gerne aus. Kapitalistisches Kalkül und autoritäre Persönlichkeitsstruktur passen nach wie vor hervorragend zusammen und bilden in Krisenzeiten eine gefährliche antidemokratische Melange. Die soziale Kälte, die mit der Corona-Pandemie in der Gesellschaft deutlicher spürbar wird, hat ihren Grund nicht in den Abstandsregeln.