Essaywettbewerb - Der digitale Mensch

Ein paar Fragen auf einer Wanderung

Sophia Pizalas Essay für den nationalen Essaywettbewerb 2020

    Ich lade Sie zu einer kleinen Reise aus Hinterfragungen und Überlegungen ein. Eine reizvolle Wanderung durch meine Gedankenwelt. Der Weg führt an den Themen Individualität und Digitalisierung vorbei. Am Anfang des Weges steht die Frage: «Wie stellt die Digitalisierung die traditionelle Vorstellung vom Individuum in Frage?»

     

    Ich halte einen Moment inne und die Gedanken sprudeln. Was ist eigentlich diese «traditionelle Vorstellung»? Von welcher Tradition ist hier die Rede?

    Ist damit Opa Hans von gegenüber, der den grössten Teil seines Lebens ohne Digitalisierung verbracht hat, sonntags beim Bäcker Brötchen holt, jede dritte Woche ins Kino ging (Corona lässt grüssen) und seine Bücher in der Stadt in einer Bücherei kauft, gemeint? Verkörpert er die «traditionelle Vorstellung», weil er sich nicht auf Netflix Serien anguckt, weder seine Bücher online bestellt, noch das Sonntagsfrühstück geliefert bekommt?

    Und stellt die Digitalisierung das «traditionelle Individuum» überhaupt in Frage? Ist es nicht eher umgekehrt, hinterfragt nicht eigentlich der analoge Opa Hans von gegenüber, die Digitalisierung? Oder begutachten sich die beiden gegenseitig?

     

    Ich erinnere mich an den Weg, gehe weiter und beschliesse für mich, dass Opa Hans von gegenüber DIE traditionelle Vorstellung ist – der analoge Mensch. Geprägt durch Arbeit mit den Händen, Erfahrungswissen, praktisches Tun und einfach Sein – meint auch, soziale Kontakte in Analogform. Telefonnummern im Kopf und nicht im Speicher eines Gerätes, uns entfremdet – auf einen Bildschirm tippen, statt Gedächtnistraining.

    Wie wird sich das Verhältnis von Mensch und Maschine wohl entwickeln, wenn wir mit der Digitalisierung so weiterfahren? Werden wir nur noch ‘Screentappen’ und reale Handlungen und Erfahrungen anderen überlassen, oder gar auf Handlungserfahrungen verzichten, weil diese nur noch virtuell stattfinden? Könnte sein. Die Idee gefällt mir nicht. Sie macht mich traurig. Ich lege eine Verschnaufpause ein. Der Mensch wird doch dann nicht nur einfach vor Langeweile veröden, es droht durch die Virtualisierung eine Entmenschlichung ungeahnten Ausmasses. Ein Bildschirm reicht nicht aus, um eine stabile Verbindung zu Menschen aufzubauen. Nicht grundlos heisst es zwischenmenschliche Beziehung.

    Der Mensch ist von seiner Natur aus analog, wir funktionieren nicht binär – nicht in der Wahl zwischen Null und Eins. Der Kern unseres Daseins ist Prozess, Entwicklung, mit den Händen Tun, Erfahrungswissen sammeln und weitergeben, Geschichten erschaffen, erleben und erzählen. Ein Narrativ haben und in analogen Beziehungen stehen – 0 und 1 reicht da nicht. Ich laufe weiter.

     

    Niko Paech, Ökonom und Verfechter der Postwachstums-Gesellschaft weisst auf vielleicht den wesentlichen Punkt bei der Betrachtung der Frage hin. Die Zeit. Sie ist unsere knappste Ressource. Wir sind endlich, die Ressourcen der Welt sind endlich. Womit wollen wir unsere Zeit verbringen – mit analogen Handlungen und realem Erfahren von Wirklichkeit, die wir selbst erschaffen und gestalten, oder mit virtuellen Räumen und einer Realität, die von der Grafikkarte des Computers oder des Smartphones mehr abhängt als von unserem Zutun?

    Der Mensch ist sozial interaktiv – Digitalisierung bietet keine Beziehungen, sie führt zur Vereinsamung. Die Kinos werden leerer und verschwinden, weil keine Notwendigkeit mehr besteht ausser Haus zu gehen, ein zunehmendes Repertoire an Filmen und Serien wird jetzt schon online nach Hause geliefert, in einer digitalen Zukunft mit VR-Brille wird es nicht mehr nötig sein, vor die Türe zu treten. Wir erfahren vom Wetter aus den virtuellen Nachrichten.

    Opa Hans findet schon heute kaum mehr Möglichkeiten, sich einen Film zu leihen, inklusive des Weges zur Bibliothek, den Begegnungen mit Menschen, dem Austausch und des Einübens von Frustrationstoleranz, wenn der ersehnte Streifen (analoger Slang der 80er für Film) vergriffen ist. Analog macht geduldig, unabhängig und willensstark. Digitalisierung führt bestenfalls zum Aufmerksamkeitsdefizit einer ganzen Gesellschaft, die so ihrer Geschichte ( gelebte Erfahrungen) beraubt wird und viel leichter manipulierbar ist. Cambridge Analytica lässt grüssen. Ich trinke einen Schluck Wasser. Analog ist schwerer zu beeinflussen. Analog ist realer.

     

    Auf dem Weg sitzt ein kleiner Schmetterling und ruht. Opa Hans kommt mir wieder in den Sinn, der täglich seine Zeitung liest und auf meine Nachfrage, warum er das mache, es gäbe sie doch digital, meint, er sei froh, dass er seine Zeitung läse und nicht sie ihn. Ausserdem gäbe es eine Redaktion aus «echten Menschen» und was Geschriebenes in den Händen. Das könne man selbst sammeln, archivieren und im wahrsten Sinne des Wortes «begreifen». Der Schmetterling breitet seine Flügel aus und flattert davon. Ein analoges Archiv – gibt es das eigentlich? Wer verwaltet das? Und Nachrichten posten kann ja jeder, überprüfbar ist da wenig.

    Da fällt mir ein, dass wir in unserer schon existierenden digitalen Welt zwar viele Nachrichten erhalten und Informationen, aber gemessen an dieser Flut, relativ wenig zusammenhängende geschichtliche Bezüge. Digitalisierung macht uns vergessen. Wie war das nochmal? Cambridge Analytica, Gesichtsbuch und Co – Manipulationsversuche von Wahlen, Fake News, Lügen, Datenskandale und hunderttausende gehackte, geklaute Nutzerdaten. In dieser kurzen Zeit der Existenz der Digitalisierung eine erschreckende Menge an Verfehlungen. Wer weiss, was uns noch alles erwartet.

    Gibt es eigentlich analogen Identitätsdiebstahl? Man kann mir die ID klauen, aber ohne digitalen Fingerprint von mir war es das auch schon. In einer digitalen Welt ist dann vermutlich alles weg. Und wie bekommt man dann seine Identität zurück? Bekommt man sie je zurück? Ich stolpere über einen Stein, den ich nicht gesehen habe und blicke auf. Am Himmel kommen mehr und mehr Wolken auf. Zeit für den Rückweg. Wo waren meine Gedanken nochmal? Ach ja, beim Identitätsklau.

    Schön für Opa Hans. Den kann man seiner Identität nicht berauben. Die ist in ihm und nicht im Netz. Ein interessanter und zugleich etwas unheimlicher Gedanke. Analoges Dasein als Voraussetzung für Identität und Sinnstiftung. Digitales schafft keine reale Identität. 0 und 1 reicht nicht für Sinnstiftung. Warum sollten sie aber nicht als Hilfsmittel nützlich sein? Wir müssen uns wohl daran gewöhnen, die Digitalisierung zu entzaubern, unsere Naivität diesbezüglich aufgeben und sie für uns handhabbar, durchschaubar und damit kontrollierbar machen. Die Digitalisierung raubt den Menschen Zeit und ihre Identität. Es gilt das zu akzeptieren und neue Umgangsformen zu finden. Keine einfache Aufgabe. Ich spüre, wie einzelne Tropfen vom Himmel fallen und frage mich, ob ich es noch vor dem Gewitterbruch in Sicherheit schaffe. Was denken Sie, meine Mitreisenden? Schaffen wir es?