Von der Systemrelevanz Philosophischer Praxis in Krisenzeiten

    Philosophie lässt sich in ihrer mehr als 2500 Jahre langen Geschichte als eine Initiative zum Verstehen, zur Bildung und zur Lebenskunst beschreiben, die so fundamental angelegt ist, dass aus ihr dereinst alle Wissenschaften hervorgegangen sind. – Nun hat Marx in der vielzitierten elften Feuerbachthese den Philosoph*innen vorgeworfen, sie hätten „die Welt immer nur verschieden interpretiert“, es komme aber drauf an, „sie zu verändern.“ 1 Dagegen lässt sich indes mit Hermann Schmitz einwenden, dass Philosoph*innen, indem sie die Welt interpretierten, diese sehr wohl verändert haben und stets weiter verändern.2 Sie entwickeln Weltbilder, Lehren von der menschlichen Existenz, Gesellschaftsentwürfe, Ethikkonzepte usw., die tief in die Lebenswelt und -gestaltung hineinwirken, auch wenn die Ergebnisse dieser Praxis nicht immer so greifbar sind wie bei den Natur- und Technikwissenschaften. Es lässt sich aber, kritisch auf die eigene Zunft gerichtet, schon ex negativo zeigen, wie die Ausrichtung des Erkenntnisinteresses das Leben in seiner Komplexität auch verfehlen oder sogar dazu verleiten kann, dass dem Menschen in der Folge vieler Generationen wesentliche Züge seines Menschseins geradezu entgehen.

    Wenn wir also von Systemrelevanz sprechen, und zwar nicht nur in dem Sinn, wie dieser Begriff in der gegenwärtigen Pandemie bezogen auf den Gesundheits- und Infrastruktursektor verwendet wird, sondern langfristig und grundsätzlich mit Blick auf die Gesellschaft als ganze, so gehört die mit Philosophie verbundene Praxis der Interpretation der Welt zu den wesentlichen Säulen kultureller Entfaltung. In offenen, pluralistischen, an Humanität und Rechtsstaatlichkeit orientierten Gesellschaften ist die fortwährende Besinnung sogar notwendig für die Stabilisierung der Grundordnung, die politische Mündigkeit ihrer Mitglieder und eine allgemeine Orientierung darüber, wie wir unser Menschsein entfalten wollen. Das Rüstzeug der Philosophie ist dabei nichts weniger als die methodisch gestützte Ausbildung und Anwendung des komplexen (d.h. nicht nur vernunft-, sondern auch emotionsgestützten) menschlichen Verstehensvermögens und damit einhergehend der Kritik- und Diskursfähigkeit.

    Es ist nun keine Neuigkeit, dass dieser Bildungsauftrag der Philosophie seit geraumer Zeit sträflich vernachlässigt wird – mit erheblichen Konsequenzen, wie sich gerade in der durch die Massenmedien ‚eingehegten‘ Coronakrise zeigt. Im Zuge von ‚Imagofixierung‘ (weltweit übereinstimmende Visualisierung des Virus, Fokus auf dramatische Bilder von Kranksein und Tod) und ‚Gefühls- und Bewusstseinsimprägnierung‘ (Angst vor Infektion, Eingenommenheit) befinden wir uns derzeit in einer seltsam anmutenden polarisierenden Gemengelage: haarsträubende Verschwörungsnarrative; einseitig und unnötig enggeführte Medizin- und Wissenschaftsgläubigkeit; kaum hinterfragte Affirmation beispielloser staatlicher Verordnungen und Einschränkungen von Grundrechten; hingenommene mediale Manipulation der Meinungsbildung und Abwehr der Diversität persönlicher Sichtweisen; pauschale Stigmatisierung heterogener Protestgruppen u.v.a.m. Man sehnt sich geradezu nach klarer und deutlicher Vernunfttätigkeit, wie sie Descartes in den vier Vorschriften seines „Discours de la méthode“ vorgestellt hat. Man sehnt sich nach dem Sapere aude! der Aufklärung. Man sehnt sich nach radikaler sozialer und ökonomischer Veränderung wie sie Marx und Engels zu denken versuchten, nach einer Diskussionskultur à la Sit-In in der 1968er Bewegung. Schließlich sehnt man sich nach politischem Mut, philosophischem Querdenken und einem Leben nach Überzeugungen, wie Platon sie dem Sokrates in die Biographie geschrieben hat. – Und selbst wenn sich schon länger neue soziale Bewegungen formiert haben und auch die Intellektuellen in diesen Tagen durchaus nicht stumm geblieben sind, konnte ein umfassender kritischer Diskurs in der Öffentlichkeit nicht angestiftet oder weitergeführt werden, so dass wir uns fragen müssen, wie wir die konträren Positionen gesellschaftlich verstehen und in Vermittlung bringen können.

    Bildung durch Philosophie soll also in die persönliche Lebensform und gesellschaftliches Engagement einfließen, ungeachtet der Ignoranz, die viele Professionelle diesem Praxisfeld ihrer Disziplin zollen. Doch auch in dieser Facette gehört Philosophie in die Lehrpläne der Schulen, in eins mit Musik und Tanz, Literatur und Theater, Kunst, Humor und kreativem Ausdruck, wie Martha Nussbaum betont.3 Denn Humanität wird durch die Schärfung der Verstehensorgane und durch die Kultivierung der Einbildungskraft und des Einfühlungsvermögens gefördert. In herkömmlicher Bildung, die sich überwiegend einer ökonomischen Rationalität unterwirft, lernen Heranwachsende wenig darüber, wie sie lebensbezogen denken, ihre Intuition und Emotionalität schulen, wie sie Freundschaften, Liebes- und Familienbeziehungen pflegen, Zugang zu ihrer Kreativität finden oder Krankheiten und Lebenskrisen bewältigen können. Unauffällig und en passant sollen wir alle das Leben meistern, unter Bedingungen, die in der technisch-wissenschaftlich-kapitalistischen Zivilisation noch strukturell verschärft werden. In einem lockeren Gefüge scheinbar unbegrenzter Lebensmöglichkeiten sind wir dem Anspruch extremer Flexibilität in allen Rollen ausgesetzt, fühlen uns zur Selbstoptimierung, ja Selbstausbeutung verpflichtet und verlieren leibvergessen den spürenden Zugang zu uns selbst und unseren Mitmenschen – um nur ein paar Parameter zu nennen. Die Totalität menschlicher Bedürfnisse, die Bedeutung ethischer Haltungen und die Entfaltung all jener Fähigkeiten, die dem ökonomischen Erwerbskampf vordergründig nicht dienlich sind, rücken aus dem Blickfeld. So geraten wir allzu oft in eine existenzielle Ratlosigkeit darüber, was denn ein gutes Leben sein könnte.

    Hier kommt erneut die Systemrelevanz der Philosophie ins Spiel, denn beginnend in der Antike hat es immer wieder freie Gruppen, Aktivitäten und Institutionen gegeben, die Philosophie als Lebensform und Weltweisheit sowie als Initiatorin kultureller Erneuerung entwickelt haben. Vor 100 Jahren, im November 1920, hat Hermann Keyserling (1880-1946), prototypisch für unser Zeitalter, in Darmstadt eine damals aufsehenerregende „Schule der Weisheit“ gegründet. Damit wollte er den Anspruch der Philosophie, im Leben wirksam zu sein, wieder beleben, u.a. mit Übungen, Exerzitien und individuell beratenden Gesprächen. Keyserling hat sich auch in großen Zeitungen zur politischen Lage geäußert, was damals geächtet und belächelt, schließlich staatlich geahndet wurde. Heute mischen sich Philosoph*innen sogar in eigenen Fernsehformaten in die Meinungsbildung ein – mit gutem Grund. Und heute gibt es auch, seit der ersten Gründung einer „Philosophischen Praxis“ 1981 durch Gerd Achenbach, in jeder größeren Stadt selbstständige Praktiker*innen, die mit öffentlichen Angeboten das Bedürfnis nach Orientierung mit Philosophie beantworten. Offen für eine Vielzahl möglicher Anliegen richtet sich die Philosophische Praxis an Individuen, Gruppen und die Gesellschaft. Dabei ist sie von drei Säulen getragen: Trost, Selbsterkenntnis und Neujustierung der eigenen Orientierung (1), Bildung und Persönlichkeitsentfaltung (2) sowie Solidarität und politisch-gesellschaftliches Engagement (3). In dieser Weise breit aufgestellt, ergänzt die Philosophische Praxis sowohl die Philosophie als Wissenschaft als auch andere Begegnungs- und Beratungsformen.

    Die gesellschaftliche Bedeutung der Philosophie sollte nicht unterschätzt werden. Sie wirkt auf die ethischen Haltungen, die politische Mündigkeit und die allgemeine Lebensfähigkeit ein. Sie ist wesentlich für das Vermögen, sich selbst und die Welt zu verstehen, und sie ist notwendig für die Kultivierung von Humanität und Solidarität. – Als König*innen regieren, wie Platon es in seiner „Politeia“ andachte, sollten Philosoph*innen vielleicht nur im Ausnahmefall. Als Professionelle für den Weckruf sich selbst zu erkennen und die eigene Filterblase zu lüften, wie Platon es im Höhlengleichnis beschreibt, sind sie unverzichtbar. So ist und bleibt die Philosophie die erste Disziplin für Medienkompetenz, die nicht erst bei mobilen Endgeräten ansetzt, sondern schon bei den körpereigenen Erkenntniswerkzeugen.


    Literaturverzeichnis

    Marx, K., & Engels, F. (1998). Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA). Vierte Abteilung. Bd. 3. Berlin: Akademie Verlag.

    Nussbaum, M. C. (2012). Nicht für den Profit! Warum Demokratie Bildung braucht. Überlingen: TibiaPress Verlag.

    Nussbaum, M. C. (2016). Politische Emotionen. Warum Liebe für Gerechtigkeit wichtig ist. Berlin: Suhrkamp.

    Schmitz, H. (2007). Utopische und topische Praxis. In U. Gahlings, D. Croome, & R. Kozljanic (Hrsg.), Praxis der Philosophie. Gernot Böhme zum 70. Geburtstag (S. 143-151). München: Albunea.


    1 Marx/Engels 1998, 21: Hervorhebungen im Original.

    2 Schmitz 2007, 149.

    3 Vgl. dazu Nussbaum 2012 und 2016.