Glauben und Wissen

In einem monumentalen Alterswerk hat Jürgen Habermas die Genealogie des Verhältnisses von Glauben und Wissen erforscht. Die geistige Entwicklung des Okzidents spiegelt sich darin. 

    «Auch eine Geschichte der Philosophie», so der Titel des jüngsten zweibändigen Werks von Jürgen Habermas. 2019 hat er es als Neunzigjähriger nach zehnjähriger Arbeit vorgelegt. Sie gilt dem Verhältnis zwischen Religion und Philosophie. Besonders beschäftigt ihn die Frage, wie Religion die Wahrnehmungs-, Artikulations- und Wirkungsmöglichkeiten der Vernunft erweitert – und was an die Stelle der Religion tritt, wenn diese wegfällt.

    Philosophie ist hervorgegangen aus dem Formen und Zerbrechen religiös-metaphysischer Weltbilder. Da in letzteren sowohl Glaubens- wie Wissensinhalte stecken, bearbeitet Philosophie deren gegenseitiges Verhältnis; dies gilt auch noch da, wo das Philosophieren explizit vom Glauben Abschied genommen hat. Wo immer das Denken sich mit dem Sollen befasst, sind säkularisierte Gehalte biblischen Ursprungs mit im Spiel. 

    Exemplarisch zeigt sich dies am historischen Höhepunkt der Praktischen Philosophie, bei Kants Kernthema der Verbindung von Vernunft und Freiheit. Philosophisches Nachdenken über gutes Leben und rechtes Tun kann daher bis heute nicht absehen von Erträgen des Diskurses über Glauben und Wissen.

    Der zweite Band setzt ein mit Luther – für eine Philosophiegeschichte im engeren Sinn wäre das erklärungsbedürftig; für Habermas’ Projekt einer Genealogie des Verhältnisses von Glauben und Wissen ist es das selbstverständlich nicht. Vielmehr kommt dem Reformator hier sogar eine entscheidende Rolle zu. Er steht mitten in einer Transformationsdynamik. Territorialstaaten, Kapitalismus, Weltwirtschaft und Kolonialismus bilden sich heraus. Ferner rütteln Humanismus, Devotio moderna (neue Frömmigkeit, eine mystisch geprägte kirchliche Erneuerungsbewegung) und soziale Unruhen an der ständischen Gesellschaft. Die Konfessionsspaltung treibt indessen die Säkularisierung der Staatsgewalt voran. 

    Die aus der neuen Lektüre des Römerbriefs gewonnene Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade führt bei Luther zu keiner harmonischen Versöhnung. Vielmehr hegt er einen tiefen anthropologischen Pessimismus. Für ihn unterliegt der Mensch einem unbezähmbaren Drang zum Bösen, seine Natur ist zutiefst korrumpiert. Deshalb ist das Sündenbewusstsein unabdingbare Voraussetzung des Glaubens. Im Ablassstreit geht es im Kern um die Unausweichlichkeit dieses mentalitätsprägenden Bewusstseins. 

    Was nach Luthers Verständnis die Gläubigen rettet, sind nicht materielle oder moralische Leistungen, sondern eine Verinnerlichung, die das Individuum in eine lebenslange Beziehung zu Gott stellt. Dadurch verliert die Kirche ihre Verfügungsgewalt über das persönliche Heil. Luther entwickelt seine Theologie aus der Sicht des Gläubigen, der Gott als Einzelner gegenübersteht. Sie ist primär Kreuzestheologie und entkoppelt den Glauben radikal vom scholastischen Wissen. Glaube ist hier eine Sache des Vertrauens, nicht des Wissens. 

    Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770–1831), kürzlich wegen seines 250. Geburtstags in den Medien, knüpft bei Kants transzendentaler Subjektphilosophie an. Die entscheidende Neuerung vollzieht er, indem er die Realität nicht mehr wie Kant als «Erscheinung» versteht, sondern als natürliche und geschichtliche Wirklichkeit. Diese versucht Hegel mit dem schwierigen Begriff des absoluten Geistes zu fassen, der Natur, Kultur und Gesellschaft einschliesst. 

    Der absolute Geist verkörpert sich in der physikalischen und organischen Welt, erreicht mit den höchsten tierischen Entwicklungsstufen Bewusstsein und schliesslich im Menschen die Reflexion und das Bewusstsein seiner selbst im subjektiven Geist. Dieser objektiviert sich als freier, tätiger Wille und begreift sich als die alles bewegende absolute Idee, die zum Ziel des Weltprozesses – zur Freiheit – voranschreitet. – Dies «in a nutshell» das spekulative philosophische System Hegels, das ihn zu einem systematischen Interesse an Geschichte und Gesellschaft führt. Er ist der Erste, der die Entstehung der europäischen Moderne philosophisch reflektiert. 

    Hegel beobachtet die Wirkungen und Gefahren der akzelerierten Geschichte. So erkennt er die mit der Steigerung von Produktivkraft und Lebensstandard verbundene Auflösung der traditionellen Sozialstrukturen in der industriegesellschaftlichen Urbanisierung als philosophisches Problem. Für Hegel gibt es keine gesellschaftliche Integration und keine Sittlichkeit ohne Religion. Anders als alle massgeblichen Philosophen seit der Aufklärung kehrt er sich vom methodischen Atheismus ab. Hegel geht es darum, «die Vernunft der Religion» aufzuzeigen.

    Philosophie ist «ihre Zeit in Gedanken erfasst»

    Mit Kant empört sich Hegel über die empiristische Liquidierung der praktischen Vernunft bei Hume. Kritisch sieht er aber Kants Verharren in der Selbstbeziehung der Subjektivität. Für Hegel findet sich das handelnde Subjekt in einer gesellschaftlichen und kulturellen Umgebung vor, und diese muss als selbständige Sphäre des Geistes philosophisch bedacht werden. In allen Facetten seines enorm breit angelegten Denkens geht es Hegel um den Versuch, das explodierende Wissen und die zentrifugalen Kräfte der Gesellschaft seiner Zeit philosophisch in einem schlüssigen System zusammenzuhalten. Philosophie sei «ihre Zeit in Gedanken erfasst».

    Die «Selbstbewegung des Begriffs» (eine zentrale Hegel-Formel) wird durch erweiternde Negation vorangetrieben. Der so entstehende Widerspruch zum Bestehenden wird in einer Dynamik der Vereinigung abgearbeitet. In diesem Vorgang liegt der metaphysische Kern der ganzen Konstruktion: «Wie Gott sich im Spiegel der von ihm selbst geschaffenen Welt wiedererkennt, so das absolute Wissen in ‘seinem’ Anderen.» 

    Dabei stösst Hegel auf das alte metaphysische Problem der Relation von Unendlichem und Endlichem, des Einen und des Vielen. Wenn das Eine in der Mannigfaltigkeit des Seienden Einheit stiftet, kann es nicht ebenfalls als ein Seiendes aufgefasst werden. «Die ‘wahre’ Einheit muss als die Identität des Identischen und des Nichtidentischen gedacht werden.» Hegel verwandelt diesen schon bei Plotin aufgetauchten metaphysischen Gedanken der ontologischen Differenz in einen Reflexionsprozess. Mit dem Begriff der absoluten Idee markiert er den Kulminationspunkt der aus Affirmationen und Negationen verketteten Denkschritte. Im mäandernden, aber gerichteten Gang durch Natur und Geschichte erwirbt der Geist das Wissen, das ihn schliesslich zur Selbstgewissheit führt.

    Vernunft beherrscht die Welt

    In seinem Geschichtsdenken verschiebt Hegel die vernünftige Freiheit des Subjekts zum objektiven Geist. Seine Geschichtsphilosophie geht aus von dem «einfachen Gedanken», dass Vernunft die Welt beherrsche. Hegel sieht das in zwei historischen Tendenzen bestätigt: Überwindung des magischen Denkens und Abschaffung der Sklaverei. 

    Der darin sichtbare Durchgriff der Vernunft durch die Weltgeschichte ist für Hegel nichts anderes als ein «notwendiger Gang des Weltgeistes». Die Geschichte ist das Material, in der sich die Idee der Freiheit verwirklicht. Geschichte ist eine «zweite Natur», in der es, im Unterschied zur ersten, Unvorhergesehenes und Neues gibt. Sie folgt einem Trieb der Vervollkommnung hin zu einem vernünftigen Entwicklungsziel. Hegel ist dabei kein naiver Optimist. Er rechnet durchaus mit der Kraft der Negation und hat in den Revolutionswirren und -kriegen deren historische Virulenz vor Augen.

    Das Recht als Medium der Freiheit

    In seiner Rechtsphilosophie erklärt Hegel das Hineinwachsen des subjektiven Geistes in den gesellschaftlich-politischen Zusammenhang des objektiven Geistes systematisch. Das Recht ist das entscheidende Medium der Freiheit. Hierbei vollzieht Hegel gegenüber Kant einen Perspektivenwechsel von der unhistorischen Betrachtung zu einer Sicht des in gesellschaftlichen Zusammenhängen lernenden Subjekts. 

    Die Rechtsphilosophie wird zum Ausgangspunkt einer kritischen Gesellschaftstheorie. Hegel sieht den entfremdenden Charakter industrieller Arbeit und den Klassengegensatz. Es handelt sich um Folgen der einseitigen Durchsetzung privatrechtlicher Normen in der kapitalistischen Marktwirtschaft. Zugleich beschreibt Hegel die Modernisierung aber auch als fortschreitende Emanzipation der Einzelnen. Die Privatpersonen werden zu freien und gleichen Bürgern, die sich als Privateigentümer zueinander strategisch verhalten. Hegel formuliert es so: «Jeder macht sich die Bedürfnisse und die Arbeit eines anderen im kalkulierenden Umgang zu Mitteln für jeweils eigene Zwecke.»

    Steilvorlage für Hegels Kritiker

    Für die Gesellschaft und die Individuen hat die Vergesellschaftung über Marktbeziehungen auch einen befreienden und zivilisierenden Effekt. Gleichzeitig sieht Hegel die Logik der unaufhaltsamen Akkumulation von Besitz, die zur Proletarisierung und zum Kolonialismus führt. Der konservativ gewordene Denker will diese Dynamik mit der zähmenden Macht einer autoritären Obrigkeit auffangen. So überhöht er denn die Monarchie und den Staat überhaupt als Manifestationen der absoluten Idee. Diese gegenaufklärerische Tendenz ist die Folge seiner Ablehnung einer vernunftrechtlichen Begründung der Staatsgewalt. Sie verführt Hegel dazu, die von ihm festgestellten Ungleichgewichte zwischen frühindustrieller Dynamik, Individualisierung und mobilisierter Gesellschaft durch autdestruiertoritäre staatliche Machtmittel ausbalancieren zu wollen.

    Hegels Nachfolger – Junghegelianer genannt – haben den metaphysischen Kern von dessen System durchschaut und diesen religionskritisch destruiert. Sie verzichten auf eine theoretische Erfassung der Welt als Ganzer, wodurch diese zum lebensweltlichen Hintergrund verblasst. Indem Feuerbach und Marx mit dem Idealismus brechen, bereiten sie erneut den Boden eines nachmetaphysischen Denkens. Schon Hume und Kant haben der Metaphysik programmatisch abgesagt; Hegel hingegen ist zum Totalitätsdenken der Metaphysik zurückgekehrt. Doch obschon von vielen Seiten kritisiert, verliert das Hegelsche System seine inspirierende Kraft nicht. Es hat das Auseinanderfallen der Begriffe Natur und Geist verhindert und den Weg freigemacht zu einer philosophischen Anthropologie und Gesellschaftstheorie.

    Hegel vom Kopf auf die Füsse stellen

    Karl Marx (1818–1883) beansprucht in seiner Kritik von Hegels Rechtsphilosophie, diesen vom Kopf auf die Füsse zu stellen, indem er den durch die Destruktion der Metaphysik obdachlos gewordenen objektiven Geist materialistisch uminterpretiert. Er kritisiert namentlich Hegels Mystifikation des Staats: «Hegel geht vom Staat aus und macht den Menschen zum versubjektivierten Staat; die Demokratie geht vom Menschen aus und macht den Staat zum verobjektivierten Menschen.» 

    Allerdings gibt Marx dann die für die Autonomie der Privatleute unentbehrliche Unterscheidung von Staat und Gesellschaft auf. Seine Denkfigur, wonach der emanzipierte Mensch die Staatsgewalt verinnerlicht, ist wirkungsgeschichtlich verhängnisvoll. Sie führt zur Reduktion der Menschenrechte auf Eigentums- und Vertragsrechte und damit zur Abschaffung subjektiv-privater Grundrechte. «Marx sieht nicht, dass die rechtlich abgesicherte private Autonomie in jeder modernen Gesellschaftsform eine notwendige Bedingung für die demokratische Ausübung der staatsbürgerlichen Autonomie (und vice versa) darstellt.»

    Menschen als Produzenten ihrer selbst

    In den Studien zur Rolle des Privateigentums tritt «die Gesellschaft» philosophisch an die Stelle «des Menschen», und dies nicht etwa zufällig. Marx und Engels wenden sich polemisch und programmatisch ab von der Bewusstseinsphilosophie. Das spezifisch Menschliche machen sie am Produzieren fest: «Indem die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben selbst.» Marx konzipiert den Historischen Materialismus als eine «Naturwissenschaft vom Menschen». 

    Durch das Festhalten am Prinzip der Emanzipation bleibt diese «Wissenschaft» dem philosophischen Thema der vernünftigen Freiheit verhaftet. Marx sieht die als Hintergrund von Handeln und Bewusstsein wahrgenommene Freiheit im Unterschied zu Hegel nicht mehr uneingeschränkt positiv. Sie hat befähigende und repressive Anteile: als zur Freiheit ermächtigende Produktivkräfte einerseits, als freiheitsbeschränkende Produktionsverhältnisse andererseits.

    Der von Marx und Engels entwickelte Begriff der Emanzipation schiesst weit über das hinaus, was von der vernünftigen Freiheit in der Geschichte realistisch erwartet werden kann. Der revolutionäre Umsturz soll zunächst die ökonomische Basis den vereinigten Gesellschaftsmitgliedern unterwerfen; in der Folge soll daraus dann aber die dauerhafte kommunistische Steuerung von Wirtschaft und Gesellschaft hervorgehen. Als Ergebnisse dieser doppelten Revolution erwartet Marx die Entfesselung aller Produktivkräfte und die Entstehung einer solidarischen Lebensform.

    Innovative Analyse und fataler Determinismus

    Mit der Niederschlagung der Februarrevolution von 1848 erstirbt das beflügelnde Pathos, das aus dem Kommunistischen Manifest spricht. Marx verschiebt die Last der Geschichtsdeutung auf die Krisentheorie. Er beschreibt den Kapitalismus als die Ursache von dessen eigenem Zerfall. Innovativ daran sind die Mehrwerttheorie und der Blick auf die Verselbständigung der kapitalistischen Entwicklungen. In «Das Kapital» läuft die theoretische Ausarbeitung auf einen ökonomischen Determinismus hinaus. Mit seiner fixen Option für die Weltrevolution hat Marx nicht Recht behalten, wohl aber mit seiner Voraussage einer systemischen Verselbständigung des finanzmarktgetriebenen globalen Kapitalismus.

    Der fatale Fehler dieser praktischen Philosophie liegt bei der ungeprüften Übernahme von Hegels Kritik an Kants Moraltheorie, auf die Marx seine Zurückweisung der Menschenrechtsidee gestützt hat. Mit der Vorstellung eines revolutionären Bruchs im Kontinuum der Geschichte hat er jedoch einen fruchtbaren Denkanstoss hinterlassen. Die Vorstellung einer endgültigen Revolution jedoch geht darüber hinaus. Sie hat messianische Erlösungshoffnungen beerbt. 

    Erste amerikanische Philosophie

    Charles Sanders Peirce (1839–1914) ist der letzte in der langen Reihe grosser Denker, an deren Philosophien entlang Habermas seine Genealogie des Verhältnisses von Glauben und Wissen entwickelt. Das Werk des US-amerikanischen Mathematikers, Logikers, Semiotikers und Philosophen Peirce ist erst in Teilen erforscht. Zu seinen Lebzeiten veröffentlichte er lediglich einzelne Aufsätze und Essays. Neben seinen vor allem in den 1930er-Jahren posthum erschienenen mathematischen und philosophischen Hauptwerken mit 12’000 Druckseiten hat Peirce über 1’600 weitere Manuskripte hinterlassen, die zum grössten Teil noch nicht publiziert sind.

    Peirce zählt mit William James, John Dewey und George Herbert Mead zu den Begründern des Pragmatismus, der ersten genuin amerikanischen Philosophie. Sie ist eine ganz eigene Form des nachmetaphysischen Denkens. Peirce nimmt mit dem Motiv der vernünftigen Freiheit das Kernthema des deutschen Idealismus auf, nun aber mit einem sprachpragmatischen (die Sprache als ein Handeln auffassenden) Zugang. Seine eingehenden, auf die logischen Grundlagen fokussierten Kant- und Hegelstudien führen ihn zu seinem neuartigen Konzept, das die ganze Philosophie in eine Meta-Reflexion über Sprache und Sprachpraxis umwandelt. Er verschiebt den Wahrheitsbezug zum Handlungsbezug: Die Richtigkeit von Erkenntnissen wird erprobt und im Konsens validiert. Dabei greift der Diskurs kontrafaktisch auf eine ultimate Opinion vor, deren Geltung sodann im Austausch von Gründen geprüft wird. 

    Kooperative Wahrheitssuche statt erkennendes Subjekt

    Die mentalistisch operierende Subjektphilosophie setzte eine intuitive Evidenz der introspektiv gewonnenen Wahrheiten voraus. Peirce fordert nun die Umkehr dieser Blickrichtung. Auf innere Vorgänge, so seine These, kann man nur aufgrund von intersubjektiv geprüften Erfahrungen schliessen. Die erkennende Subjektivität überträgt sich auf Interpretationsgemeinschaften. Diese Kollektive sind das neue Subjekt der Erkenntnis. Sie handeln immer im Bewusstsein der eigenen Fehlbarkeit. An die Stelle der spontanen erkenntnismässig «gesetzgebenden» Leistung des transzendentalen Subjekts bei Kant steht bei Peirce die kooperative Wahrheitssuche empirischer Subjekte. Die Interpretengemeinschaft macht bei ihrer Tätigkeit Lernprozesse durch, weil unvorhergesehene Ereignisse als Widerstand begegnen. 

    Peirce beschäftigt sich mit der Frage des Realismus aufgrund seiner Kritik an Kants «Ding an sich». Kant postuliert, dass wir die Wirklichkeit nicht als solche erfassen; vielmehr ist das als wirklich Erscheinende ein Verstandesprodukt. Soweit folgt ihm Peirce. Aber er stellt fest: Man kann die erscheinenden Dinge gar nicht anders auffassen als mit Bezug auf mögliche Erkenntnis. 

    Was als Realität gilt, ist nicht bei der Quelle der gedanklich verarbeiteten Sinneseindrücke zu suchen, sondern bei den in falliblen Lernprozessen einer Interpretengemeinschaft erzeugten Ergebnissen. Diese Gemeinschaft kann bei ihren Lernprozessen von einem allgemeinen Hintergrundkonsens ausgehen. Peirce hierzu: «Diese realistische Theorie ist also eine im hohen Grad praktische und dem gesunden Menschenverstand entsprechende Einstellung. Wo auch immer allgemeine Übereinstimmung vorherrschend ist, wird der Realist nicht derjenige sein, der die allgemeine Überzeugung durch unnütze und fiktive Zweifel stört.»

    Abschied vom methodischen Zweifel

    Diesen Commonsensismus verteidigt Peirce gegen Descartes’ radikalen Zweifel. Ein prinzipielles Zweifeln regt den Verstand nicht an. «Es muss ein wirklicher und lebendiger Zweifel da sein, ohne ihn ist jede Diskussion wertlos.» Descartes’ Forderung nach methodischem Zweifel nicht nur an jeder einzelnen Erkenntnis, sondern auch an der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt ist aus Peirces Sicht bloss ein Paper Doubt. An seiner Statt darf vielmehr auf einen Hintergrundkonsens abgestellt werden, sofern dieser dem öffentlich erreichten Argumentationsstand Genüge tut.

    Peirce interessiert sich für das kommunikative Idealmodell einer Forschergemeinschaft als Vorbild kooperativer Erkenntnispraktiken. Die verhaltensstabilisierende Kraft des Diskurses auf dem Boden von begründetem Konsens ist nach seiner Überzeugung die Signatur der Moderne. Der Vorteil der wissenschaftlichen Methode, so Peirce, besteht darin, dass am Ende die Ansichten mit den Tatsachen übereinstimmen. Die Rationalität des Verfahrens stützt sich auf die Elemente Gemeinschaft, Logik und kooperative Wahrheitssuche. Ganz hegelianisch verbindet Peirce sein Vertrauen in die problemlösende Kraft der Vernunft mit jenem in ihre sozialintegrative Wirkung. Habermas schliesst daran seine eigene Formel an: «Sie (die Vernunft) hält die auseinanderstrebenden Geister mit der sanften Nötigung des besseren Arguments zusammen.»

    Permanente Wahrheitssuche

    In Peirces Vorstellung eines Interpretationsflusses spiegeln sich Kants Prozesscharakter der leistenden Vernunft und Hegels Selbstbewegung des Begriffs – nun aber definitiv als innerweltliches Geschehen ohne idealistischen Überbau. Wie Kant orientiert sich Peirce an der Idee der Wahrheit. Bei ihm wirkt diese jedoch in der Praxis, wobei die sich ihrer Fallibilität bewusste Wahrheitssuche sich auf bewährte Hintergrundgewissheiten stützt. 

    In dieser Spannung von Gewissheit und Suche verrät sich der Überschuss einer vorausgreifenden Vernunft. Peirce fragt nach den praktischen Bedingungen der Möglichkeit kooperativer Wahrheitssuche, nicht mehr – wie Kant – nach den transzendentalen Bedingungen für die Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt. Die Unterstellungen, die er für seine pragmatische Philosophie vornimmt, sind nicht «logisch» oder «notwendig», sondern «unvermeidlich» für das Gelingen einer faktisch bewährten Praxis.

    Peirces Optimismus und Habermas’ Ernüchterung

    So wie die Forschung sich an Wahrheit orientiert, richten sich praktische Diskurse auf Gerechtigkeit aus. Die Teilnehmer müssen nicht nur allgemein zustimmungsfähige Lösungen suchen, sondern auch zu gegenseitiger Perspektivenübernahme bereit sein. Ein Sollgeltungsanspruch kann nur mit Gründen gedeckt werden. Eine solche Diskursethik detranszendentalisiert den Kant’schen Begriff der Autonomie. Damit geht der Gebrauch der praktischen Vernunft vom intelligiblen Ich über zu einer auf intersubjektiver Selbstgesetzgebung beruhenden Diskurspraxis. 

    Peirce ist optimistisch bezüglich solcher Lernprozesse in Staat und Gesellschaft. Ein Jahrhundert nach ihm klingt das von Habermas gezogene Fazit hinsichtlich der Eignung dieser Philosophie für die Förderung von Demokratie und Gerechtigkeit vergleichsweise ernüchtert: «Ohne das Entgegenkommen einer ermächtigenden kulturellen und einer ermöglichenden gesellschaftlichen Infrastruktur können die für eine demokratische Legitimation der Herrschaft wesentlichen Voraussetzungen der Deliberation keinen Halt in der Realität finden. Den Zerfall dieser Infrastruktur beobachten wir heute auf den wirtschaftlich und machtpolitisch absteigenden Kontinenten selbst in den ältesten Demokratien. Die vielfältigen Ursachen sind nicht leicht auf einen Nenner zu bringen. Aber die Fragilität einer Staatsform, die auf dem freien Flottieren von Gründen basiert, ist kein Rätsel.»

    Gibt es moralische Lernprozesse?

    In einem dichten Postskriptum zu den zwei Bänden zieht Habermas Bilanz. Von der achsenzeitlichen Revolution hat er die Genealogie des Verhältnisses von Glauben und Wissen bis zum Pragmatismus von Charles Sanders Peirce verfolgt, wobei diese Thematik oft implizit, aber deswegen nicht weniger prägnant in Erscheinung getreten ist. 

    Die Moralisierung des Heiligen in der Achsenzeit hat zur Verknüpfung moralischer Urteile mit Wahrheitsaussagen und dadurch zu deren Unbedingtheit geführt. Dem entspricht im Abendland die privilegierte Rolle des Rechts, aber auch die Denkfigur des ermächtigenden subjektiven Freiheitsrechts. Die praktische Philosophie hat neben der theoretischen ein Proprium erlangt. Moralische und ästhetische Themen haben den Anspruch erworben, mit Gründen beurteilt zu werden. 

    Peirce hat die definitive Geltung von Wahrheitsansprüchen in die Zukunft verschoben, da alle Feststellungen fallibel bleiben und diskursiv zu prüfen sind. Dass dies beim theoretischen Wissen funktioniert, ist evident. Gibt es aber auch Beispiele für Lernprozesse im Praktischen, die zu bleibenden Fortschritten geführt haben? 

    Habermas nennt hier nicht an erster Stelle die von Hegel als Beispiel angeführte Abschaffung der Sklaverei, sondern die Entwicklung von Rechtssystemen und Rechtspraktiken sowie die anerkannten Legitimationsanforderungen für die Ausübung von Herrschaft. Als Schlüssel zur Überwindung von Ungerechtigkeiten sieht er die gegenseitige Perspektivenübernahme. Es geht nicht nur darum, im Anderen den Gleichen anzuerkennen; der moralische Fortschritt besteht darin, die Gleichbehandlung des Anderen als Anderen zu gewährleisten.

    Verwehte Spuren des Sakralen

    Im Überschuss des unbedingten Sollens und der absoluten Pflicht kann man verwehte Spuren des Sakralen vermuten. Muss also das aufgeklärte Subjekt quasi an die Stelle Gottes treten und sich selbst die Befolgung der eigenen moralischen Einsichten befehlen? Habermas hierzu: «Diese Deutung verfehlt (…) die Pointe des kantischen Freiheitsverständnisses, wonach wir uns nur dann als autonom verstehen können, wenn wir unsere Willkür an vernünftig gerechtfertigte und daher kategorisch geltende Normen binden.»

    Kant wollte «ein vernünftig begründetes Äquivalent für den erschütterten Glauben an die Gerechtigkeit Gottes anbieten». Sein weit ausgespanntes Denken ermutigt den Menschen zum autonomen Gebrauch seiner Vernunft. Lernprozesse, die in der Folge den demokratischen Verfassungsstaat entwickelt haben, können das fragile Vertrauen in die eigenen Kräfte stützen.

    Habermas zitiert am Ende einen Satz von Adorno, der ihm als Leitfaden gedient habe: «Nichts an theologischem Gehalt wird unverwandelt fortbestehen; ein jeglicher wird sich der Probe stellen müssen, ins Säkulare, Profane einzuwandern.» Zwar hat sich die säkulare Moderne mit guten Gründen vom Transzendenten abgewendet, aber ein Verschwinden jeden Gedankens, der über das Seiende im Ganzen hinausgeht, würde die Vernunft verkümmern lassen. Für Habermas ist es insbesondere die gelebte Religion, die liturgische Praxis, die «ein Pfahl im Fleisch der Moderne» bleibt. Sie «hält (…) die Frage offen, ob es unabgegoltene semantische Gehalte gibt, die noch einer Übersetzung ins ‘Profane’ harren.»

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