Café Philo Thun: Fiktionskompetenz gegen Fiktionsmacht

Wie finden Heranwachsende sich in einer Welt zurecht, in der erschaffene Wirklichkeiten – Fiktionen – längst zu einem Machtfaktor geworden sind?

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    In der letzten Zeit kam im Bereich der Schul- und Lehrplanentwicklung häufig das Wort Kompetenzorientierung vor. Methoden-, Selbst- oder Sozialkompetenz sind dabei längst zu geläufigen Begriffe geworden. Doch wie finden Heranwachsende (und Erwachsene) sich in einer Welt zurecht, in der erschaffene Wirklichkeiten – Fiktionen – längst zu einem Machtfaktor geworden sind? Ein Plädoyer für die vielleicht etwas abwegig erscheinende «Fiktionskompetenz».


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    Text Niklaus Schefer
    Fotos Niklaus Schefer, REUTERS/Leah Millis/File PhotoBeitragsbild Jona Reichen, 25gS

     

    Die Einbildungskraft muss bewahrt, ja gestärkt werden, schrieb der Schweizer Philosoph Hans Saner in seinem Aufsatz «Der Kindermord zu Bethlehem». Denn sie rüttelt auf, befreit das Denken aus vertrauten Strukturen, bewahrt unsere kindliche Neugierde und hinterfragt Gewohnheiten. Sie gehört zur conditio humana, da wir als gebürtliche Wesen in eine vorgegebene Welt eindringen und diese neu entdecken müssen und gestalten können.[1] Doch leider wird diese kindliche Kraft oft durch die Macht der Erwachsenen, ihre Gesetze und etablierten Macht- und Ordnungsstrukturen drangsaliert. Genau hierfür sieht Saner die tiefere Bedeutung der biblischen Geschichte des Kindermords zu Bethlehem und schliesst eine pädagogische Folgerung aus dem Weihnachtsfest: Schule soll nicht zur Reproduktion der erwachsenen Fantasielosigkeit beitragen. So lautet sein Plädoyer. Denn er vermutet, dass das Bildungswesen genau das Gegenteil tut, dass sie Fantasie im Rahmen des Beschulungsprozesses systematisch abtötet und damit die Macht der Erwachsenen über die kindliche Einbildungskraft verfestigen möchte.

    Als ich mit etwa 30 Jahren diese Lesart der Weihnachtsgeschichte kennenlernte, beeindruckte sie mich und rettete so auch nach meinem Schritt in die Konfessionslosigkeit den Sinn des christlichen Festes in philosophisch-pädagogischer Perspektive.

    Diese Interpretation verändert sich aber, wenn sich mit neuer historisch-kritischer Forschung herausstellt, dass der Kindermord des Königs Herodes eine Erfindung ist, um die Figur Jesus literarisch in eine Traditionslinie von Heldenmythen zu stellen, von Moses über Herkules zu Ödipus[2]. Der besondere Status dieser Figuren erhält dadurch Glaubwürdigkeit, dass die widrigen Umstände, mit denen sie konfrontiert sind, bereits mit den ersten Lebenstagen einsetzen. Es stellt sich also heraus, dass diese Geschichte, die als Unterwerfung und Ausrottung der kindlichen Einbildungskraft gedeutet werden könnte, selber ein Erzeugnis der Einbildungskraft ist, eine dichterische Imagination mit der Intention, die besondere Rolle und aussergewöhnliche Kraft dieser Person unter Beweis zu stellen. So ergibt sich eine erstaunliche Dialektik, eine Widersprüchlichkeit in der Deutung dieser Erzählung.

    Die vielgestaltigen Aspekte der Einbildungskraft zeigen sich auch in der Gegenwart eindrücklich. Nüchtern betrachtet könnte man vermuten, dass in einem modernen, aufgeklärten und wissenschaftsorientierten Weltbild die Einbildungskraft kaum mehr eine tragende Rolle spielt. Fantasie, Mythen, Märchen und Fiktion scheinen obsolet, wie in philosophische Terminologie übersetzt die Position des Idealismus, die – grob ausgedrückt – neben die reale, empirisch erfahrbare Welt eine zweite ideale, geistige erfindet oder erdichtet.[3] Eine solche Denkhaltung, die den wahren Kern der Wirklichkeit gerade hinter dem konkreten Diesseits in einer metaphysisch-abstrakten Welt deutet, scheint überholt, ja grundsätzlich schon in Widerspruch mit den Ideen der Aufklärung und Moderne zu stehen.

    Aber eine Beschreibung unseres alltäglichen Lebens und Handelns in der spätkapitalistischen Konsumkultur verdeutlicht rasch, dass die Ideen und Fantasien, die zum Beispiel eine Werbung für ein Produkt erwecken möchte, eine grosse Wirksamkeit in unserem Konsumverhalten entfalten. Wenn wir uns einen bedeutsamen Teil unserer Identität durch die erworbenen und angeeigneten Produkte aufbauen, wird offenbar, dass es nicht bloss um die Objekte oder Dienstleistungen selber, sondern um deren eingebildete, gesellschaftlich hinzugedichtete Aura geht. Viele Dinge konsumieren wir gerade wegen diesen ideellen Konnotationen. Und so erhält der Idealismus mit dem Leitsatz, «der wahre Kern der Wirklichkeit liegt hinter den konkreten Dingen», eine neue und aktuelle Bedeutung. Es sind die den Dingen absichtlich hinzugefügten oder -gedichteten Fantasien, die erst richtig ein oft nicht rationales Konsumverhalten der Menschen im System des Spätkapitalismus verstehen und nachvollziehen lassen.

     

    Aber in der Welt der 20er-Jahre des 21. Jahrhunderts – mitten im Prozess der globalen Digitalisierung – sind Industrieprodukte und Dienstleistungen nicht allein die zentralen Tausch- und Handelsvolumina. Wie Zuboff diese Transformation mit dem Begriff des Überwachungskapitalismus oder Wissens- und Informationsgesellschaft zu beschreiben versucht, haben Daten und Informationen eine ökonomische Bedeutung erhalten, wie sie noch vor 25 Jahren, zu Beginn des Internetzeitalters, unvorstellbar war.[4] Die oben beschriebene Aktualität des Idealismus jedoch, mit dem eine zweite Realität geschaffen werden kann, hat nicht im Geringsten an Einfluss eingebüsst. Ja, das Prinzip des Idealismus funktioniert noch viel leichter, wenn auf materielle Konsumobjekte verzichtet werden kann. Daten, Zahlen und Informationen lassen sich per Zauberstreich erfinden und erdichten und in einem ungeahnten Ausmass und Tempo verbreiten. So lässt sich das anscheinend unstillbare Bedürfnis nach einer alternativen Idealwelt leicht und schnell allein durch die Verbreitung und ständige Wiederholung von fingierten Datenformen, die wie reale Informationen aussehen, befriedigen. Während diese Funktion im traditionellen Selbstverständnis der Literatur und der Kunst vorbehalten war, scheint der aktuelle Politik- und Medienbetrieb mit seinen gewagten Fiktionen und Simulationen die Kunst mittlerweile eingeholt, ja überholt zu haben. Warum soll man heute noch Serien wie «House of Cards», «Homeland» oder Shakespeare-Theaterstücke betrachten, wenn die Nachrichtensendungen und soziale Medien mit dem Aufeinanderprallen von Realpolitik und Verschwörungsbewegung die Gesellschaft wochenlang in Atem und in Hochspannung halten? Die politischen Magazine und Kanäle werden so zu süchtig machenden Telenovelas.  Wir alle brauchen täglich eine neue Stoffdosis, egal, von welcher Seite er oder sie die politischen Prozesse betrachtet. Hauptsache ist, dass wir alle immer neu das für kurze Zeit befriedigende Gefühl der moralischen Empörung spüren und uns täglich neu in unserer Überzeugung bestätigt fühlen, dass man sich auf der richtigen Seite der Geschichte befindet.

    Als ideologische Grundmatrix fungiert dabei weiterhin der Kapitalismus. Es ist gleichgültig, ob es sich um Konsumartikel oder um Informations- und Newsportionen vom jeweiligen Produzenten des Vertrauens handelt: Solange der Umsatz stimmt und die Nachfrage nach solchen Produkten solid bleibt oder sogar wächst, funktioniert das altbewährte Wirtschaftssystem, ganz unabhängig davon, wie «real» die Informationen sind, wie solid oder nachhaltig das Produkt ist.[5] Wenn genug Menschen Fiktionen und alternative Welterklärungen wollen, wird es in einem liberalen Gesellschaftssystem einen Markt geben, der entsprechende Produkte verkauft und gleichzeitig den Individuen beim Aufbau und bei der Pflege ihrer konsumkulturellen Identität und ihres Selbstverständnisses hilft.

    Es gehört zur eingangs angesprochenen Widersprüchlichkeit der Fantasie, dass sich gerade am 6. Januar 2021, am Tag der Epiphanie, die vielgestaltigen Aspekte der Einbildungskraft eindrücklich und erschreckend in Szene gesetzt haben: beim Sturm aufs amerikanische Kapitol. Diese zeitgenössischen Applikationen der Fantasie verdeutlichen, dass Saners These der Abtötung der Einbildungskraft durch die Macht der Erwachsenen[6] überhaupt nicht stimmt. Die Fantasien haben trotz einem modernen Zeitverständnis nach wie vor einen riesigen Einfluss auf unser Gesellschaftssystem, gerade auch auf Erwachsene.

    Und doch möchte ich Saners These nicht vorschnell für ungültig erklären. Wenn wir grob die modernen Phänomene des Fantasiegebrauchs analysieren, bemerken wir rasch ihren industriellen und passiven Charakter. Fiktionen werden nicht bloss in Hollywood kulturindustriemässig produziert, verbreitet und anschliessend weltweit in typischer Konsumhaltung eingenommen. Dies ist auch im Bereich der Werbung für massenhaft hergestellte Produkte und Dienstleistungen der Fall. Und ebenso verhält es sich mit den Newsportalen und einzelnen einflussreichen Persönlichkeiten, die die Weltöffentlichkeit im Takt einer effizienten Industrieproduktion mit informationsähnlichen Daten über die modernen Kommunikationstechnologien beliefern und immer wieder neue Futterportionen (Feeds) verabreichen. Kurz: Dieses industrielle Produktions- und Konsummuster von Fantasien kann wirksam die individuelle und originelle Einbildungskraft hemmen, ja sogar abtöten. Es erzeugt Herrschaftsfantasien im doppeldeutigen Sinne des Wortes. Sie prägen unser Denken und Imaginieren und beginnen, es mit flankierenden algorithmischen Recherche- und Verlinkungstechnologien zu dominieren. Der systematische Bestätigungsfehler, den unser kognitiver Apparat fast unwillkürlich begeht, schottet uns zudem von Informationen, die diesen Fantasien widersprechen, ab und hilft im Aufbau von Echokammern, in die wir uns einnisten und in denen wir uns wohl fühlen.

    Fiktionsmacht nenne ich eine solche autoritäre Fantasie, die der jedem Menschen innewohnenden Einbildungskraft und Neugierde Einhalt gebieten möchte. Wer die Fiktionsmacht innehat, besitzt nicht nur die Gestaltungskompetenz der Erfindungen und Lügen, sondern verfügt auch über deren Deutungshoheit. Er kann also bestimmen, welche Fiktionen in der breiten Öffentlichkeit als realitätsstiftende soziale Tatsachen gelten sollen. Fiktionsmacht ist keine neue Erscheinung. Denn das Beispiel der Legende vom Kindermord veranschaulicht die Kraft, mit der einzelne Autor*innen oder Institutionen dank der ständigen Wiederholung ihrer Erdichtungen es geschafft haben, eine Realität zu erschaffen, an die die Mehrheit der Gesellschaft glaubt. Erst dank historisch-kritischer Betrachtung gelingt es, solche Realitäten als Fiktionen und Erdichtungen zu entlarven.

    Ich vermute, dass eine regelmässig gepflegte und trainierte persönliche Fantasiefähigkeit die argen, ja ungeheuerlichen Effekte der gesellschaftlichen Phänomene von Fake News, alternativen Fakten, Verschwörungstheorien und Bullshit minimieren würde. Darum plädiere ich wie Saner für ein Bildungssystem, in dem die individuelle Einbildungskraft täglich gefördert werden kann. Diese Fiktionskompetenz könnte junge Menschen dazu befähigen, eigene Erdichtungen zu erschaffen und so gleichzeitig ein Gespür für den Unterschied zwischen Tatsachen, Dichtung und Lügen, zwischen Information und Desinformation, zwischen Nachrichten und Fake News zu entwickeln. Eine solche Fiktionskompetenz könnte uns dazu befähigen, autoritäre Fiktionsmachtstrukturen zu dekonstruieren und die moderne Kommunikationsgesellschaft demokratischer zu gestalten.

    Und die Weihnachtsgeschichte behält mit ihren widersprüchlichen Facetten für mich weiterhin einen tiefgründigen philosophisch-pädagogischen Sinn.


    [1] Vgl. H. Saner: Geburt und Phantasie (1995), S. 77-101.

    [2] Vgl. S. Paganini: Von wegen heilige Nacht (2020).

    [3] Vgl. W. Ullrich: Haben Wollen (2008), 45ff. Ullrich betont den massiven emotionalen Mehrwert von Konsumgütern, die diese durch Fiktionen der Werbung und des Marketings erhalten, und registriert eine Verschiebung vom Gebrauchswert hin zum Fiktionswert von Produkten.

    [4] Vgl. Sh. Zuboff: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus (2018).

    [5] Vgl. B.-C. Han: Shanzhai – Dekonstruktion auf Chinesisch (2011), S. 75ff.

    [6] Vgl. H. Saner (1995), 92ff.