Philosophieren mit Kindern und Erwachsenen

Wie sehen wir die Natur?

Entdecken, Erforschen, Erkennen

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    Die seltsame Insel

    Eine Forschungsgruppe kommt auf eine Insel, die erst kürzlich entdeckt worden ist. Bald stellen die Forschenden fest, dass dort seltsame Dinge geschehen: Es kommt vor, dass Wasser bei 30 Grad gefriert; Dinge verschwinden plötzlich und tauchen an ganz anderen Orten wieder auf; ab und zu werden Steine weich wie Gummi; aus Eiern schlüpfen hin und wieder Tiere wie Hasen; gelegentlich werden Dinge durchsichtig oder explodieren einfach usw. Die Forschenden wollen den seltsamen Vorkommnissen auf den Grund gehen: Sie stellen Beobachtungen an, machen Messungen und Experimente. Bald müssen sie sich aber eingestehen, dass sie die Phänomene nicht erklären können. Einige sind überzeugt, man müsse nur lange genug weiterforschen, dann werde man schon Erklärungen finden. Andere meinen, dass auf dieser Insel die Naturgesetze nicht gelten, sodass weiteres Forschen zwecklos ist. Wieder andere glauben, dass die seltsamen Vorgänge gar nicht wirklich sind, sondern nur Illusionen der Forschenden, denn all diese Dinge können nur in Träumen oder Halluzinationen geschehen.

     

    Forschen, Entdecken und Erkennen haben das Ziel, die Dinge und Vorgänge, denen wir begegnen, zu verstehen: zu wissen, wie sie zustande kommen, wie sie sich verhalten, welche Eigenschaften und Wirkungen sie haben. Von den meisten Dingen und Vorgängen, mit denen wir im alltäglichen Leben zu tun haben, wissen wir das recht gut. Wir haben Erfahrungen mit ihnen gesammelt und den Umgang mit ihnen erlernt. Nicht zuletzt hilft uns dabei die Wissenschaft, die die Dinge und Vorgänge systematisch erforscht und sie so besser verständlich macht. Die wissenschaftliche Herangehensweise ist vor allem auch dann nützlich, wenn wir auf Phänomene stossen, die uns noch unbekannt sind. Methodische Beobachtung, das Sammeln von Daten, das Bilden von Hypothesen und die Durchführung von Experimenten führen zu Erklärungen. Solche wissenschaftlichen Erklärungen haben die Form von allgemeinen Aussagen und beschreiben Gesetzmässigkeiten. Die Beschreibung von Gesetzmässigkeiten macht es möglich, dass wir die Vorgänge in der Natur verstehen, sodass wir etwa Berechnungen und Voraussagen machen können.

     

    Nun kennen wir auch Berichte von Phänomenen, die (scheinbar) nicht erklärbar sind: Telepathie, das Verschwinden im Bermudadreieck, Geistererscheinungen usw. Solche Phänomene mögen zwar unerklärlich sein, stellen aber unser alltägliches und wissenschaftliches Weltbild nicht generell in Frage. Deshalb können wir sie in den Bereich des Esoterischen oder Phantastischen schieben, sie als «Wunder», «Magie», als «paranormal» oder «übernatürlich» einstufen oder geradewegs ihre Realität bestreiten. Was geschieht aber, wenn nicht nur einzelne unerklärliche Phänomene auftreten, sondern sich die Welt generell auf unerklärliche Weise verhalten würde? Dies ist die Situation auf der im Gedankenexperiment dargestellten Insel: Hier ist das Unerklärliche die Regel und es scheint, dass hier die Dinge nicht Naturgesetzen unterstehen, sondern sich völlig zufällig und unberechenbar verhalten: Alles ist möglich.

     

    Die Ratlosigkeit der Forschenden in dieser Situation ist verständlich: Wissenschaft zielt auf ein Verständnis der Welt durch allgemeine Gesetze – die Vorgänge auf der Insel scheinen aber keinen Gesetzen zu unterliegen und entziehen sich deshalb dem wissenschaftlichen Verständnis. So wie sich die Dinge auf der Insel verhalten, sind aus den Beobachtungen und Daten keine Regelmässigkeiten ablesbar und Experimente führen, wenn man sie wiederholt, zu immer anderen Resultaten. Deshalb können die Forscher keine allgemeinen Aussagen formulieren und keine Gesetzmässigkeiten erkennen. Das heisst aber nichts anderes, als dass unter Bedingungen, wie sie auf der seltsamen Insel herrschen, keine Wissenschaft möglich ist.

     

    Daraus kann man den Schluss ziehen: Wissenschaftliche Erkenntnis ist nur möglich, wenn man davon ausgehen kann, dass sich die Natur im Grossen und Ganzen konstant und regelmässig verhält. Dinge einer bestimmten Art haben bestimmte gleichbleibende Eigenschaften, sie verändern sich unter gleichen Bedingungen immer auf die gleiche Weise und rufen unter gleichen Bedingungen jeweils gleiche Wirkungen hervor.

    Die Vorgänge in der Natur müssen also Gesetzmässigkeiten unterliegen, nur dann sind sie vorhersehbar, berechenbar und erklärbar. Nur eine gesetzmässig funktionierende Welt ist eine wissenschaftlich erklärbare Welt.

     

    Die Gleichförmigkeit der Vorgänge in der Welt ist aber nicht nur eine Voraussetzung für die wissenschaftliche Erkenntnis, sondern auch für unser alltägliches Verständnis der Welt. Wir können nur deshalb zweckmässig handeln, weil die Dinge, mit denen wir es zu tun haben, sich im Grossen und Ganzen unseren Erwartungen entsprechend verhalten. Diese Erwartungen repräsentieren zwar keine wissenschaftliche Theorie, es sind aber doch Erwartungen über das regel- und gesetzmässige Verhalten der Dinge: Wenn ich eine Hunderternote ins Portemonnaie stecke, erwarte ich, dass sie immer noch da ist, wenn ich damit bezahlen will – und sich in der Zwischenzeit nicht in Luft aufgelöst hat; wenn ich eine Tasse auf den Tisch stelle, erwarte ich, dass sie auf der Tischplatte bleibt – und nicht einfach hindurch fällt; wenn mein Kind von der Schule kommt, erwarte ich, dass es dasselbe Kind ist, dass am Morgen weggegangen ist – und nicht inzwischen die Persönlichkeit mit einer Klassenkameradin ausgewechselt hat.

     

    Unser ganzes Wissen und Handeln beruht auf Erwartungen über das regelmässige Verhalten von Dingen, Vorgängen, Personen usw. Solche Erwartungen sind nur dann sinnvoll, wenn sich die Dinge im Grossen und Ganzen regelmässig und berechenbar verhalten. Oder andersherum gesagt: Wäre es nicht so und würden sich die Dinge so verhalten wie auf der seltsamen Insel, wäre die Welt für uns unverständlich und wir würden uns in ihr nicht mehr zurechtfinden. Wir können also die Welt nur dann verstehen, wenn die Welt im Grossen und Ganzen gesetzmässig funktioniert. Das gilt nicht nur für die Welt im Grossen und Ganzen, sondern auch für die einzelnen Dinge, Vorgänge und Personen: Wir verstehen sie nur, wenn wir erkennen können, was für Eigenschaften sie haben und wie sie sich unter bestimmten Bedingungen verhalten. Man kann sogar sagen, dass wir etwas überhaupt nur dann als Ding, Vorgang oder Person begreifen können, wenn wir ihm einigermassen stabile Eigenschaften und regelmässige Verhaltensweisen zuschreiben können. Mit anderen Worten: würden sich Dinge, Vorgänge und Personen nicht einigermassen regelmässig verhalten, hätten wir überhaupt keine Begriffe von Dingen, Vorgängen und Personen, d.h. wir würden schlichtweg nicht wissen, was Dinge, Vorgänge und Personen sind.

     

    Wenn es richtig ist, dass wir Dinge, Vorgänge und Personen überhaupt nur als Dinge, Vorgänge und Personen begreifen können, wenn sie sich einigermassen regelmässig verhalten, dann kann man sagen: Nur dasjenige, was sich einigermassen regelmässig verhält, können wir als wirklich betrachten. Unser Verständnis von Wirklichkeit beruht wesentlich auf der grundsätzlichen Voraussetzung einer Regel- oder Gesetzmässigkeit der Welt. Demgegenüber zeichnen sich Träume und Halluzinationen dadurch aus, dass hier Dinge geschehen, die, wie auf der seltsamen Insel, völlig ungesetzmässig und unberechenbar erscheinen (wenigstens solange man im Traum oder in der Halluzination befangen ist; im Wachzustand können wir mit Hilfe von Traumdeutung und Psychologie, durchaus Erklärungen finden). Diese Regellosigkeit ist ein entscheidender Grund dafür, dass wir das Geträumte und Halluzinierte nicht als wirklich betrachten. Dass einige der Forschenden auf der Insel die Realität der seltsamen Vorkommnisse in Zweifel ziehen, hat also einen guten Grund.