Ein Beitrag von Philipp Blum

Das Boot ist voll

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    Jetzt ertrinken auch im Ärmelkanal Menschen, die sich mehr oder weniger frei dazu entscheiden, mit einem Gummiboot (oder einem Garten-Planschbecken) eine gefährliche Überfahrt zu wagen. Stellen wir uns mal vor, wie verzweifelt sie sein müssen. Aber nicht darüber wird geredet, sondern davon, ob unsere "Abschreckung" "funktioniert". Überlegen wir uns doch kurz, was ein solches Wort bedeutet. Leute davon "abzuschrecken", ein besseres Leben (oder überhaupt ein Leben) zu suchen, heisst, ihnen die Alternative schlimmer als ihre jetzige Situation zu machen, und sie "funktioniert", wenn ihnen dies klar kommuniziert wird und sie rational das kleinere Übel wählen. In vielen Fällen heisst das: die Menschen, die auf der Flucht bei uns hier ankommen, gleich bei der ersten Gelegenheit zu erschiessen, bei vielen, sie zuerst auch noch zu foltern; die Frauen zu diskriminieren – oder ihnen Schlimmeres anzutun, den Kindern jede Zukunft zu nehmen. Das alles möglichst dramatisch gefilmt und in den (dortigen) lokalen Medien breit gestreut. 

    Aber natürlich macht die Schweiz etwas anderes, etwas Halbes, behauptet das Gegenteil, aber lässt durchblicken, dass sie das nicht wirklich so meint (es muss ja auch "funktionieren"). Aber auch dies hat reale Konsequenzen: Leben werden zerstört, Hoffnungen vernichtet, menschliche Psychen für immer geschädigt, Ehen zerrüttet, Kinderträume vorsätzlich und böswillig zunichtegemacht . Menschen sterben, werden zu Krüppeln, depressiv, "auffällig"; Kinder verhaltensgestört, geschädigt, kaputtgemacht. All dies im Namen der halt leider nötigen "Abschreckung", weil wir ja nicht alle aufnehmen können – wo kämen wir da hin. 

    Das “wo kämen wir denn da hin” Mantra ist allerdings kein Argument, sondern Ausdruck einer Emotion. Was soll denn, bitte, "Abschreckung” sein und wie soll sie "funktionieren"? Ist es denn wirklich so, dass wir als Schweiz uns in einem “Migrationswettbewerb” befinden, der ähnlich funktioniert wie der “Steuerwettbewerb”, halt einfach nur umgekehrt, dass wir uns möglichst “unattraktiv” machen müssen? Was wäre denn, wenn “alle kämen”, wovon haben wir Angst und ist es wirklich Angst, die wir haben? 

    Auf diese Fragen gibt es keine einfachen Antworten. Das heisst nicht, dass wir nicht über sie nachdenken sollten. Die Frage nach einem sinnvollen Umgang mit Migration ist dringend und es ist moralisch erforderlich, dass wir eine – zumindest provisorische – Antwort darauf finden. Es geht nicht (nur) darum, ob wir eine  ‘abstrakte’ Verpflichtung haben, unbekannten und weit entfernten Menschen zu helfen, die von Diktatoren gefoltert, in komplexen Bürgerkriegen massakriert oder durch Umweltkatastrophen dahingerafft werden, auch wenn wir die Diktatoren gefördert, die Bürgerkriege finanziert und die Umweltkatastrophen verursacht haben mögen (das ist eine andere, auch gute Frage).Vielmehr müssen wir uns fragen, ob wir Menschen die bei uns sind oder an unsere Tür klopfen, ihrem sogenannten "Schicksal" überlassen wollen, welches bedeutet, dass wir ihnen ihr Leben so schlecht wie möglich machen, dass wir sie quälen und erniedrigen, dass wir sie nicht nur nicht aus der Seenot retten, sondern sie unter Wasser drücken, bis sie ertrunken sind (und dann vielleicht noch ein bisschen Wellen machen, damit die toten Kinder nicht an unseren Stränden angeschwemmt werden). Mit dieser Schuld müssen wir umgehen, diese Schuld müssen wir tragen. Nachdenken ist nötig. 

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