Migration ist eines der prägendsten Phänomene zeitgenössischer Gesellschaften. Ende 2020 hielten sich 82.4 Millionen Menschen in einem fremden Land auf, weil sie gezwungen waren, ihre Heimat zu verlassen. Seit Ausbruch des Ukraine-Krieges sind fast 6 Millionen Geflüchtete dazugekommen – ganz zu schweigen von den vielen Menschen, die in den vergangenen zwei Jahren ebenfalls vor Konflikten, wie etwa in Afghanistan, oder sich radikal verschlimmernder klimatischer Bedingungen fliehen mussten.
Geflüchtete Menschen bilden allerdings nur einen Teil aller Migrant:innen weltweit – wenn auch den vulnerabelsten. Im Jahr 2019 wurden 272 Millionen Menschen als Migrant:innen gezählt, 196 Millionen davon waren Teil des internationalen Arbeitsmarktes. Ohne diese Arbeitnehmenden wäre die Aufrechterhaltung der gewohnten gesellschaftlichen Organisation sogenannter „high-income“ Länder kaum möglich.
Der Umgang westlicher, demokratischer Gesellschaften mit dem Thema Migration ist zwiegespalten: Auf der einen Seite sind sie oftmals auf diese in Form von Arbeitskraft angewiesen. Auf der anderen Seite bemühen sie sich darum, die Einwanderung von Geflüchteten und anderen Migrant:innen, die nicht als benötigte Arbeiter:innen gesehen werden, auf ein Minimum zu reduzieren – notfalls auch mit Gewalt. Ob dies mit den Grundwerten demokratischer Gesellschaften, wie etwa den Menschenrechten, vereinbar ist, bleibt fraglich.
Die Schweiz bildet hierbei keine Ausnahme. Ende 2020 lebten auf ihrem Territorium 2.21 Millionen Menschen mit ausländischer Staatsbürgerschaft – wobei der Grossteil dieser Menschen aus einem anderen europäischen Land stammt. Basierend auf Daten des Zeitrahmens 2013-2017 sind 25,9% der Arbeitnehmenden in der Schweiz in die Schweiz migriert. Demnach spielen Mitgrant:innen auch hier eine signifikante Rolle in der Reproduktion der Gesellschaft.
Der Umgang mit Geflüchteten lässt aber auch in der Schweiz zu wünschen übrig. Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter kam in einem 2022 publizierten Bericht zum Schluss, dass die Situation von Geflüchteten in den Asylzentren zwar grundrechtskonform sei, doch gerade bezüglich der Prävention von Gewalt und der Unterstützung der Bedürfnisse verletzlicher Menschen, noch einiges Verbesserungspotenzial bestehe. Von Menschenrechtsorganisationen wie auch Geflüchteten selbst wird oftmals darauf hingewiesen, dass im Speziellen die Praxis der Nothilfe, bei welcher Menschen, die keine Aufenthaltsbewilligung erhalten, mit lediglich 10 Franken am Tag unterstützt werden, das Führen eines normalen Leben verunmöglicht.
Was bedeutet diese Doppelrolle der Migration für die (politische) Philosophie? Wie kann mit dieser Gratwanderung zwischen systemischer Relevanz und territorialer Souveränität umgegangen werden? Gibt es ein Recht auf Migration? Oder legitimiert die staatliche Souveränität den aktuellen Umgang mit Migrant:innen und Geflüchteten? Wie hängen sogenannt „legale“ und „illegale“ Migration zusammen? Und wie können diese Aspekte philosophisch-systematisch aufgearbeitet werden?
Der thematische Schwerpunkt Migrationsphilosophie soll einen Beitrag zur Beantwortung dieser Fragen leisten. Ein Hauptanliegen hierbei ist, den Diskurs zu öffnen und ihn für Menschen ausserhalb der professionellen Philosophie zugänglich zu machen. In erster Linie sollen, neben Philosoph:innen, auch geflüchtete Personen – wie dies bereits im Projekt „Fluchtgeschichten“ geschehen ist –, Migrant:innen, Menschen, die professionell mit Migration zu tun haben und zuständige Organisationen und Institutionen zu Wort kommen. Daraus soll ein Überblick über die Lage in der Schweiz entstehen, der aus verschiedenen Blickwinkeln informiert ist und dadurch neue Perspektiven und Ideen zu erschliessen vermag.
Text des Vortrags von Rudolf Albonico
Rudolf Albonico, Aktuar des Vereins "Alle Menschen", hat am 1.7.23 in den Vignes du Pasquart in Biel einen Vortrag mit grundsätzlichen Ideen zu unserem Asyl- und Migrationssystem gehalten. Lesen Sie hier den vollen Text des Vortrags:
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