Das Gespräch wird überschätzt

Der Dialog gilt als Königs­weg der Wahrheits­findung und der sozialen Harmonie. Doch die Idealisierung des Gesprächs steht in krassem Widerspruch zu seiner realen Erfolgsrate.

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    «Ihr müsst miteinander reden!» Wer in seiner Beziehung in Schwierigkeiten gerät, erhält unweigerlich den Rat, mit der Partnerin zu reden. Wenn das Gespräch dann wieder im Streit endet, heisst es entweder, Streit sei positiv, man müsse nur über eine gute Streit­kultur verfügen (was wahrscheinlich bedeutet, dass man keine Flammen­werfer einsetzen soll), oder dass es noch mehr Gespräch braucht. Ein Dritter muss hinzugezogen werden: «Habt ihr schon mal an eine Paar­therapie gedacht?» ist der nächste, in Frage­form gekleidete Rat­schlag. «Manchmal braucht es einfach eine neutrale Zuhörerin.»

    Auch in der Politik ist das Gespräch das Mass aller Dinge: Man darf die Covid-Leugner nicht als Covidioten bezeichnen, vielmehr muss man auf sie zugehen, das Gespräch suchen und ihnen erst einmal zuhören. Selbst nach dem Einmarsch von Putins Armee in die Ukraine entblödeten sich einige deutsche Intellektuelle nicht, dem Westen vorzuwerfen, das Gespräch mit Putin nicht zu suchen. Obwohl es keinerlei Anzeichen dafür gab, dass Putin auf ein Gespräch eingehen würde. So wenig wie die rechts­extreme Szene. Oder die Covid-Leugner. Oder die Klima­leugner.

    Entschuldigen Sie, dass ich auch diese Geschichte wieder aufwärme: Als einige Besucherinnen der Brasserie Lorraine verlangten, das Konzert der Band Lauwarm abzubrechen, weil einer von ihnen Rasta­locken trug, ging ein Aufschrei durch die Presse­landschaft. Nicht die Forderung an sich wurde kritisiert, sondern dass sich die dafür Verantwortlichen nicht der Debatte stellten. Es gibt in einer demokratischen Kultur kein schlimmeres Vergehen, als das Gespräch zu verweigern. Eben veröffentlichte der Berner Rechts­wissenschaftler Jörg Paul Müller ein Buch mit dem Titel «Dialog als Lebensnerv der Demokratie». Die Krise der Demokratie sei eine Krise des Gesprächs, meint er.

    Die Idealisierung des Gesprächs steht in krassem Wider­spruch zu seiner realen Erfolgs­rate. Noch nie hörte ich in einer politischen Debatte den Satz: «Das habe ich mir so noch nie überlegt, ich muss meine Position wohl über­denken.» Die unzähligen Debatten und Diskussionen im Fernsehen kann man, wenn man erst einmal einige gesehen hat, auch allein, sozusagen als Ein-Personen-Stück mit verschiedenen Rollen, nach­spielen. Man weiss schon zum Vorn­herein, was jede und jeder sagen und unzählige Male wieder­holen wird. Was das Ergebnis privater Beziehungs­gespräche betrifft, kann sich jeder selbst ein Bild machen.

    Seit Platon seine Philosophie in die Form des sokratischen Dialogs gegossen hat, gilt die Suche nach der Wahrheit im Gespräch auch als Königs­weg der Philosophie. Die Wahrheit wird dabei dem Konsens gleich­gesetzt: Das Gespräch gelingt, wenn Konsens erlangt wird, und es misslingt, wenn weiterhin Dissens herrscht. Deswegen ist das Gespräch die Grund­lage der Erkenntnis, des Zusammen­lebens, der Politik und des guten Lebens.

    Schaut man sich Platons Texte jedoch genauer an, ist die Ernüchterung gross. Hier ein Beispiel aus dem Dialog Theaitetos, in dem es um die wahre Erkenntnis geht. Eben hat Theodoros Sokrates seinen Freund Theaitetos vorgestellt:

    Sokrates: Theodoros sagt, [mein Gesicht] sei dem deinigen ähnlich. Jedoch wenn wir nun beide jeder eine Leier hätten und er sagte, sie wären gleich­gestimmt: Würden wir ihm das sogleich glauben, oder würden wir erst untersuchen, ob er denn auch ein Ton­kundiger wäre und so etwas behaupten könne?

    Theaitetos: Das würden wir untersuchen.

    Sokrates: Also wenn wir ihn als einen solchen erfänden, würden wir ihm glauben; wenn er aber von dieser Kunst verlassen wäre, würden wir ungläubig bleiben?

    Theaitetos: Richtig.

    Sokrates: Nun aber, meine ich wenigstens, wenn wir über die Ähnlichkeit unserer Gesichts­züge gewiss sein wollen, werden wir wohl zusehen müssen, ob er auch ein Maler ist und also hierüber etwas behaupten kann oder nicht.

    Theaitetos: So scheint es mir.

    Und so geht es immer weiter. Nicht einmal zum Stichwort­geber taugt Theaitetos, er nickt lediglich ab, was Sokrates von sich gibt. Mit einem Dialog hat das eigentlich rein gar nichts gemein. Die Dialog­form soll Platon lediglich den Beweis liefern, dass die Wahrheit in jedem Einzelnen schlummert und im Gespräch hervor­geholt werden kann. Nicht zufällig war Sokrates’ Mutter Hebamme.

    Der Wert des Gesprächs in der westlichen Philosophie steht in engem Zusammen­hang mit der zentralen Bedeutung der Wahrheit. Darin, dass die Wahrheit das Ziel jeden Philosophierens sei, scheinen sich alle einig zu sein. Dennoch hat die Philosophie bis heute kein allgemein anerkanntes Kriterium für die Wahrheit gefunden. Selbst das traditionelle Wahrheits­kriterium, die Überein­stimmung von Sache und Begriff – adaequatio intellectus ad rem –, vermag nicht zu überzeugen.

    Das Bild einer Pfeife ist ebenso wenig eine Pfeife wie das Wort Pfeife. Niemand weiss genau, wie sich der Übergang von der Sache Pfeife in der Aussen­welt zur Vorstellung Pfeife im Inneren gestaltet. Dazu müsste man ja einen Aussen­standpunkt, ausserhalb der Welt der inneren Vorstellungen, einnehmen können – und diesen haben selbst Philosophierende nicht. Philosophie ist also jenes merkwürdige Unter­fangen, das lediglich beweisen kann, dass sie ihr Ziel immer verfehlen wird.

    Wenn kein Wahrheits­kriterium den hohen Ansprüchen an Allgemeinheit und Objektivität genügt, bleibt einzig der Konsens übrig, der im Gespräch erzielt wird. Wenn zwei darin überein­stimmen, dass dies eine Pfeife sei, steigt die Wahrscheinlichkeit erheblich, dass sie die Wahrheit treffen. Doch selbst der Konsens genügt auf sich allein gestellt nicht. Die Beteiligten müssen Gründe für ihren Wahrheits­anspruch angeben können, und diese liefert die Vernunft. Vernunft plus Konsens ergeben also erst zusammen eine einigermassen verlässliche Wahrheit.

    Doch merkwürdigerweise trauen viele Philosophien weder dem Gespräch noch der Vernunft. Das liegt nicht nur an der Schwäche der Wahrheits­kriterien, sondern auch an dem meta­physischen Gewicht der Wahrheit. Die Wahrheit wird von Platon als die Idee des Guten und Schönen bestimmt; sie ist also weit mehr als die banale Überein­stimmung von Sache (Pfeife) und Vorstellung (Bild der Pfeife). Wahrheit ist Überein­stimmung an sich, die schöne Fügung der Welt zu einem harmonischen Ganzen. Der Konsens ist deswegen auch mehr als eine ober­flächliche Überein­kunft, er ist vielmehr Abbild der göttlichen Harmonie und das Gespräch sein mundaner Ausdruck.

    In diesem Sinne bietet Hannah Arendt das sokratische Gespräch auch als Modell der individuellen Reflexion an:

    Selbst wenn ich ganz allein leben würde, so lebte ich doch mein Leben lang im Zustand der Pluralität. Ich muss mit mir selber zurecht­kommen, und nirgendwo zeigt sich dieses Ich-mit-Mir deutlicher als im abstrakten Denken, das immer ein Dialog in der Gespaltenheit, zwischen den Zweien-in-Einem ist. Der Philosoph, welcher der Grund­bedingung der menschlichen Pluralität zu entkommen sucht und in die absolute Einsamkeit flieht, ist dieser jedem Menschen inhärenten Pluralität sogar noch radikaler ausgeliefert als ein anderer. Denn es ist ja das Gespräch mit anderen, das mich aus dem aufspaltenden Gespräch mit mir selbst herausreisst und mich wieder zu Einem macht – zu einem einzigen, einzigartigen Menschen, der nur mit einer Stimme spricht und von allen als ein einziger Mensch erkannt wird.

    Hannah Arendt: «Sokrates. Apologie der Pluralität», Seite 57.


    Ganz im Sinne der Tradition stellt auch Arendt die Gleichung auf, Gespräch gleich Konsens, Konsens gleich Einheit, und Einheit gleich Wahrheit. Auch im Sinne der Tradition fragt sie sich nicht, ob die ideale Überein­stimmung, mit sich selbst oder mit anderen, überhaupt erstrebens­wert ist. Sicher ist jedenfalls, dass der Anspruch nach Harmonie nicht erfüllt werden kann.

    Jedes Denken ist durch Lebens­erfahrung getränkt, und weil es keine identischen Leben gibt, kann es keinen vollkommenen Konsens geben. Und das ist gut so. Nur Roboter ohne Lebens­geschichte können zu gleichen Ergebnissen kommen. Dies trifft auch auf das arendtsche Selbst­gespräch zu: Nur wer eine lineare und bruchlose Lebens­geschichte hat, kann mit sich selbst überein­stimmen.

    Dies ist letztlich der Grund, warum Philosophinnen dem Konsens und der Vernunft nicht getraut haben. Schon bei Plato führen Vernunft und Gespräch zwar bis zu einem bestimmten Punkt, aber das letzte Wegstück muss jeder allein zurück­legen, selbst ohne Stütze in der Vernunft. Das ändert sich über die Jahr­hunderte nicht: Die Grenzen der Vernunft und des Gesprächs müssen überschritten werden, um die Wahrheit zu finden. In gewisser Weise ist die Geschichte der Philosophie die Geschichte der Versuche, ihre eigenen Grund­lagen – Gespräch und Vernunft – zu über­winden.

    In unserer post­metaphysischen, post­religiösen Zeit gibt es nicht einmal mehr den Ausweg einer von oben verordneten Wahrheit. Es hat den Anschein, dass wir heute mehr denn je auf das Gespräch angewiesen sind. Jürgen Habermas, Deutschlands Leit­stern der Philosophie der jüngsten Jahr­zehnte, forderte deshalb, das Gute müsse in einem herrschafts­freien Diskurs ermittelt werden. Im Gespräch also. Doch im Zusammen­führen von herrschaftsfrei und Diskurs liegt die Achilles­ferse dieser Theorie: Einen herrschafts­freien Diskurs gibt es ebenso wenig wie einen friedlichen Krieg, denn ein Gespräch, in dem es um die Wahrheit geht, geht immer auch um Macht.

    Es setzt sich nicht durch, wer recht hat, sondern es hat recht, wer sich durch­setzt. Das wusste schon Nietzsche. Das gilt für das intime Beziehungs­gespräch ebenso wie für die politische Debatte, in Friedens­verhandlungen ebenso wie am Familien­tisch. Dass das persönliche Gefühl heutzutage die Vernunft als Wahrheits­träger abgelöst hat, unterstreicht den Macht­aspekt noch.

    Achten Sie darauf, wie häufig in einer Debatte ein Argument oder ein Positions­bezug mit der Floskel eingeleitet wird: «Für mich ist … (es so und so).» Das ist keine Bescheidenheit, sondern das Gefühl der Überein­stimmung mit sich selbst als letztes Argument.

    Der Erste, der die Nötigung zum Gespräch als Macht­ausübung durch­schaute, war wohl Herman Melville in seiner Erzählung «Bartleby, der Schreiber». Bartleby ist Kopist in einer New Yorker Anwalts­kanzlei. Seine Aufgabe besteht im hand­schriftlichen Kopieren der juristischen Schrift­sätze. Eines Tages antwortet er auf eine kleine Bitte seines Chefs: I prefer not to, was mit lieber nicht nur unzureichend übersetzt ist. Weder weigert er sich rund­heraus noch führt er den Auftrag aus, er möchte es einfach lieber nicht tun.

    So geht es weiter, immer weiter. Am Ende reagiert er auf jede Bitte, auf jeden Befehl und auf jedes Flehen mit der Floskel I prefer not to. Weil Bartleby weder die Arbeit direkt verweigert noch sein Verhalten vernünftig begründet, sieht sich der Anwalt ausser­stande, ihm zu kündigen. Er endet daraufhin in der Irren­anstalt. Nicht etwa Bartleby, sondern der Chef.

    In der Geschichte gab es immer wieder Bewegungen, die erkannten, dass schon verloren hat, wer sich überhaupt auf das Gespräch einlässt, weil damit implizit die bestehenden Macht­verhältnisse akzeptiert werden. Selbst dann, wenn man laut und aggressiv wird oder alle Fakten auf seiner Seite hat. Die Dadaisten, Surrealisten, Situationisten, Anarchisten, aber auch gewisse mystische und neomystische Strömungen versuchten deshalb, konsequent der vernünftigen Debatte auszuweichen und auf andere Weise ihre Anliegen zum Ausdruck zu bringen oder die Wahrheit zu suchen.

    Das Haupt­problem besteht heute nämlich gar nicht mehr darin, in der Debatte zu unterliegen, sondern dass sie zum Selbst­zweck degeneriert ist. Dass das Gespräch meist keine Handlung, keine Veränderung und keine politische Aktion einleitet, sondern sie ersetzt.

    In seiner ersten Zürcher Poetik­vorlesung zeigte Milo Rau auf, wie das leere Kreisen um minimale Differenzen jede politische Aktion und damit auch jede Veränderung letzten Endes unterbindet. Solange debattiert wird, können sich die Herrschenden beruhigt zurück­lehnen, sie müssen nicht einmal nach Sharm al-Sheikh reisen.

    Die Klima­bewegung reiht sich deshalb in eine lange Tradition von Bewegungen ein, die wie Bartleby in der Gesprächs­verweigerung derzeit eine ihrer stärksten politischen Waffen sehen. Die Frage ist deshalb nicht, ob es vernünftig war, van Goghs Sonnen­blumen, beziehungs­weise das Glas davor, mit Tomaten­suppe zu bewerfen.

    Die Aktion ergab zweifellos überhaupt keinen Sinn. Und genau das verleiht ihr ihre politische Kraft.