Café Philo Thun: Hundert Mal Philosophieren

    Hundert Mal Philosophieren

    Am 9. Mai 2023 fand im Bistro Schadau das hundertste Café philosophique statt. Nicht überraschend war die Philosophie und ihre Bedeutung in Gesellschaft und Schule das Diskussionsthema.

    Text Niklaus Schefer
    Bilder zvg Niklaus Schefer 

    Rund hundert Gäste verfolgten die Diskussion oder beteiligten sich daran, geleitet durch die Schüler:innen des Schwerpunktfaches PPP des Jahrgangs 24g. Zudem bereicherten drei Expert:innen mit differenzierten Ausführungen den Abend: Rebecca Iseli, Oberexpertin für Philosophie in der kantonalen Maturitätskommission, Peter Zimmermann, Fachdidaktiker für Philosophie an der Universität Freiburg, und Timo Junger, Philosophiestudent an der Universität Bern und ehemaliger PPP-Schüler. 

    Das Jubiläum lädt uns ein, auf die hundert Anlässe zurückzuschauen, auf den Beginn dieser Tradition, die im Herbst 1999 anlässlich des Milleniumwechsels begann und Fragen an die Zukunft stellte. Eva Sahli und Niklaus Schefer luden Eva Zoller Morf, die bekannte Kinderphilosophin und Pionierin auf diesem Gebiet, und Detlef Staude, einer der ersten Betreiber einer philosophischen Praxis in der Schweiz, zu zwei Diskussionsabenden ein. Knappe zehn Jahre weiter zurück, zu Beginn der 1990er-Jahre, etablierte sich in französischen Grossstädten ein sonntagvormittägliches Zusammenkommen in Cafés, wo philosophisch interessierte Menschen miteinander über aktuelle und zeitlose Themen ins Gespräch kamen. Diese finden auch in grösseren Städten der Schweiz regelmässig statt. Dabei wird die Diskussion durch ein:e Philosph:in moderiert. Diesen Rahmen hatten wir an unserer Schule übernommen und leicht angepasst. Das Café philosophique findet seitdem vier bis fünf Mal im Jahr statt. Interessierte Schüler:innen und Lehrpersonen treffen sich an einem Abend während der Woche. Die Moderation übernehmen Lernende aus dem SF PPP, dem EF Philosophie oder der FMS. Diese haben sich zuvor im Philosophie-Unterricht auf diesen Abend vorbereitet und das Diskussionsthema bestimmt. Wie bei den bereits erwähnten ersten und letzten Cafés philo bereicherten manchmal besondere Gäste die Diskussion: Ursula Pia Jauch, Carola Meier-Seethaler, Hans Saner, Lukas Bärfuss, Anna Goppel, Klaus Petrus, Bernhard Pulver, Marc Marthaler, Thomas Koenig, Christine Sievers waren darunter. 

    Bei den gewählten Themen stechen folgende besonders hervor: Sind dümmere Leute glücklicher? Mit dem Herzen denken; Umgang mit sich selbst; Die Wahrheit interessiert uns nicht; Menschenrechte für Affen?  

    Je zweimal waren der (gesunde?) Egoismus und die Transplantationstechnik bereits Diskussionsthema. 

    Wenn wir die 100 Themen statistisch auswerten, fallen folgende Häufungen auf: 

    • Gesellschaft: 12 
    • Angewandte Ethik: 16 
    • Ethik-Metaethik: 8 
    • Politische Philosophie: 15 
    • Religion und Philosophie: 5 
    • Erkennungstheorie: 7 
    • Philosophie des Geistes: 3 
    • Ästhetik und Lebenskunst: 7 
    • Psychologie: 2 
    • Pädogogik und Bildung: 4 
    • Gender/Sex: 6 

    Soweit ein summarischer Überblick. Aber was bedeuten hundert Café-philo-Abende eigentlich? Rechnen wir dies einmal durch. Einhundert Mal trafen sich etwa fünfzig Personen für einen neunzigminütigen Diskussionsanlass. Nehmen wir grosszügig rund dreissig Minuten durchschnittlich hinzu, die Gespräche und Denkprozesse im Vorfeld oder nach dem jeweiligen Café philo ausgelöst haben (denn die fünfzig Teilnehmenden sind eher knapp kalkuliert), so kommen wir auf 10’000 Stunden, die gefüllt sind mit Sitzen, Denken, Zuhören, Reden – kurz: philosophischen Arbeitsstunden. Mit einem Stundenlohn von bescheidenen fünfzig Franken ergibt sich daraus ein Betrag von 500’000 Franken. Eine halbe Million Franken ist das, die jemand, von aussen kommend, als reine Zeit- und Geldverschwendung definieren könnte, eine halbe Million, die man weitaus sinnvoller und produktiver hätte investieren können. 

    Allerdings herrscht nur scheinbar eine sisyphos’sche Sinnlosigkeit vor. Denn das zweckfreie Denken und (Hinter-)Fragen gehört gerade zum Wesen des Philosophierens. Erst in dieser Musse und Distanz zum Alltäglichen können wichtige existentielle Dimensionen und Sinnfragen erahnt, gespürt, gedacht und formuliert werden. Insofern ist diese halbe Million Franken, die die Veranstaltungen «gekostet» haben, für uns Menschen, für die Menschlichkeit, für Fragen der Gerechtigkeit und Wahrheit gut investiertes Geld. Mit Sokrates können wir sagen, dass wir einzeln, aber auch gemeinsam im gegenseitigen Austausch versuchen, uns Zeit zu nehmen, um «das Seiende zu rühren» oder wie im griechischen Original: «scholen agomen = wir haben genug Zeit» (vgl. Theaitetos 172b). Im griechischen Ausdruck steckt der etymologische Ursprung des deutschen Wortes «Schule». Schule und Bildung bedeuten also ursprünglich: Zeit haben, sich Zeit nehmen, um den Dingen auf den Grund zu gehen.  

     

    In unserer Gesellschaft verinnerlichen Kinder und Jugendliche schon früh den stetigen Druck, der durch Leistungserwartungen in einem System permanenter Veränderung und Beschleunigung ausgelöst wird. Darum tut es Not, diese Musse im kritischen und selbständigen Nachdenken, ja Querdenken im ursprünglichen Wortsinn, im Zuhören und Reden zu pflegen, bevor uns dieses System unhinterfragt und unwillkürlich zum Konsum oder zur vorauseilenden digitalen Überwachung weiterschubst. Insofern dürfen wir ein ganz gutes Gewissen haben und stolz sein, dass wir uns als Schule bis jetzt im Rahmen des Café philosophique bereits hundert Mal Zeit genommen haben. Und wir können uns darauf freuen, wenn wir ungefähr im Jahr 2045 das zweihundertste Café philo feiern werden, mit weiteren hundert spannenden Themen und Fragen, zu denen rund fünfzig Personen sich jeweils Gedanken machen, immer miteinander auf der Suche nach der Wahrheit, auch wenn ein Ende dieser Suche oft nicht absehbar ist.