Die ausgerufene „Zeitenwende“ verlangt dem Einzelnen einiges ab: Steigende Energiekosten, Inflation und Zinsen führen zu Einschränkungen und Verhaltensänderungen. Trotzdem steigt die Gewissheit, dass diese Maßnahmen kaum ausreichen, um den ökologisch sterbenden Planeten zu retten und die negativen Konsequenzen multipolarer Konflikte zu kompensieren: Weitreichendere Anpassungen des Individuums sind notwendig, da der gegenwärtige Stand der alternativen Energietechnologien den bisherigen Lebensstil kaum unterstützen kann und wirksamere globale Lösungen in einer multipolaren Welt ausbleiben.
Die immer eklatanteren Widersprüche dieser Transformation – steigende Monopolgewinne bei sinkenden Einkommen der Bevölkerungsmehrheit, Rüstungs- statt Ökologieprogramme – erzeugen Unsicherheit. Die politische Klasse ist sich dessen bewusst und greift auf finanzielle Mittel der Befriedung zurück, um potenziellen Widerstand zu verhindern. Diese Maßnahmen werden mit Mahnungen zur „Anpassung“ des Einzelnen ergänzt. Individualität und Selbstverwirklichung – so wie sie zuletzt von verschiedenen Konzepten (New-Work, Startups, Plattformarbeit …) versprochen wurden – nehmen an Relevanz ab: „Die Frage der individuellen Selbstverwirklichung ist angesichts der Bedrohungen durch den Klimawandel zweitrangig. Selbsterhaltung kann nur als kollektives Projekt gelingen“, so der Berliner Soziologe Philipp Staab. Beteiligung an staatlichen Maßnahmen des Umweltschutzes etwa würden dem Individuum dann eine „Erfahrung kollektiver Freiheit und Mobilisierung“ bringen.
Wenn Verhaltensänderungen notwendig sind, stellt sich die Frage, welche Auswirkungen die Fokussierung auf „individuelle Anpassung“ haben kann. Der Anpassungsdruck für den Einzelnen ist doch heute schon hoch, Partizipation und Demokratie global im Abwärtstrend. Die demokratisierende „Öffnung“ traditioneller Institutionen (Politik, Medien, Kultur) mit dem Ziel der breiten Deliberation gesellschaftlicher Issues im Habermas’schen Sinne ist trotz der Potenziale sozialer Medien weitgehend fehlgeschlagen.
Die Aufrufe zur individuellen Anpassung, aber auch mangelnde Fortschritte bei der politischen Partizipation, hängen wohl auch mit dem Konfrontationskurs der globalen Hegemonien (Westen, China, Russland und „der Rest“) zusammen. Die Akteure der multipolaren Welt gehen von einer weitgehenden hierarchischen Unterordnung des Individuums aus, betrachten Klassengegensätze als weitgehend gelöst und nutzen globale Konfrontationen, um ihre unflexiblen Strukturen und damit die Anpassung des Individuums zu legitimieren: Die Arbeiterinnen und Arbeiter von Amazon und Alibaba kooperieren so eben nicht in einer globalen Gewerkschaft, sondern sind Teil der disziplinierten Workforce ihrer jeweiligen Hegemonien.
Widerstand innerhalb der multipolaren Hegemonien wird jedoch schwieriger, je mehr Anpassung gefordert wird. Dies ist in autoritären Gesellschaften nur zu offensichtlich. Paradoxerweise geben gerade diese den Hinweis darauf, wie wichtig Widerstand ist, um Fortschritt und Korrekturen zu gewährleisten. Denn, so der auch im Westen bekannte chinesische Autor Cixin Liu in seinem Roman Spiegel: „Eine Gesellschaft, die keinerlei moralische Fehltritte kennt, ist tot.“ Ohne Widerstand tritt Stillstand ein und noch mehr Anpassung wird notwendig. Dieser Teufelskreis ist auch für autoritäre Hegemonien irgendwann untragbar.
In Demokratien werden Beschränkungen und Anpassungen noch von kaum jemandem explizit gefordert – allein die Deutsche Bank verwies bisher auf die Notwendigkeit einer „gewissen Öko-Diktatur“ – und müssen dann auf indirekte, mehr oder weniger subtile Art wirksam werden.
In ihrer berühmten politischen Utopie Planet der Habenichtse beschrieb Ursula K. Le Guin in den 1970er Jahren einen ökologisch siechenden Planeten mit einer egalitären Gesellschaft, welche ihren Mitgliedern gesellschaftlich notwendige Aufgaben zuteilt, ohne diese offen dazu zu zwingen. In einem zentralen Dialog des Romans zeigt sich jedoch, welcher Druck auf den Bürgerinnen und Bürgern lastet. Zwar könne man diese Arbeiten auch ablehnen, aber dies tue kaum jemand, da das „soziale Gewissen“ das Individuum dazu zwingen würde, von eigenen Ideen und Motivationen Abstand zu nehmen: „Wir kooperieren nicht, wir gehorchen.“ Philip Staab erwähnt in seinen Ausführungen zur Anpassung das Beispiel südkoreanischer Studentinnen, welche zu Aufforstungsmaßnahmen eingeteilt wurden. Vielleicht hatten die Studenten die Möglichkeit, diese Arbeit abzulehnen, was sie aber kaum tun würden, da dies gegen ihr Pflichtverständnis verstoßen würde.
Individuelle Anpassung macht Widerstand unwahrscheinlicher. Dieser wäre zudem immer auch suspekt, da er möglicher Agent einer anderen Hegemonie sein könnte. Weltweit agierende Ökologie-, Friedens- oder Arbeiterbewegungen gibt es auch aus diesen Gründen nicht. Das „Hacking“ des digital gestützten Hegemonialsystems wird somit kaum die Aufgabe einer groß angelegten Counter Culture sein, sondern eher die von Spezialisten wie Wikileaks oder Greenpeace, die darauf verzichten, eine legitimierende Massenbewegung zu suchen und für Aktionen auf Profis zurückgreifen, die in der Lage sind, risikoreiche Aktionen auf sich zu nehmen.
Wenn breiter Widerstand kaum eine Option ist, bleibt die Flucht als Korrektiv. Dass die Welt in den nächsten Jahren aufgrund der Klimakrise und ihrer ökonomischen und politischen Konsequenzen Fluchtbewegungen ausgesetzt sein wird, die weg von den zunehmend unerträglichen Äquatorialgebieten führen, ist naheliegend.
Parallel dazu wird es aber auch zu einem neuen Exodus in den Cyberspace kommen. Die erste derartige Bewegung fand bereits Anfang des neuen Jahrtausends statt, als frustrierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Techindustrie begannen, sich nach ihrer offiziellen Arbeitszeit auf Plattformen selbst zu organisieren und Projekten zu widmen, die sie „wirklich interessierten“ (Open-Source-Projekte, Wikipedia) und deren Ergebnisse sie der Öffentlichkeit kostenfrei zur Verfügung stellten (u.a. das Linux-Betriebssystem, der Apache-Server und der Mozilla-Browser).
Einiges spricht dafür, dass es nun zu einer neuen, massiveren Absetzbewegung in den virtuellen Raum kommen könnte. So versuchen bereits jetzt Länder des Südens wie etwa Südafrika, ihre Arbeiterinnen und Arbeiter auf derartige Plattformen zu „migrieren“, damit sie für westliche Unternehmen arbeiten können, ohne ihr Land verlassen zu müssen. Aber auch Individuen im Westen steht dieser Weg prinzipiell offen: Im Cyberspace können die Restriktionen der physischen Welt (Klimakrise, Automatisierung, multipolare Konflikte) eher überwunden beziehungsweise negiert werden.
Es gibt derzeit schätzungsweise 35 Millionen Unternehmen weltweit, die unabhängig von ihrer geografischen Lage operieren können. Daher überrascht es nicht, dass Länder wie Tunesien (Metatunisia), die VAE (Virtual Commercial City, Dubai) und Armenien (Armenian Network State) bereits versuchen, Teile dieses Kuchens zu ergattern, indem sie in der Cloud angegliederte „Staaten“ aufbauen, die den dort versammelten „digitalen Bürgerinnen und Bürgern“ und ihren Unternehmen eine Verbindung zu ihrem Staatsgebiet und Dienstleistungen ermöglichen und so auch ihre hegemoniale Wettbewerbsfähigkeit erhöhen.
Vielleicht entstehen in der Cloud – wie der US-Unternehmer Balaji Srinivasam vorschlägt – auch eigene Gesellschaftsformen mit einer Verfassung, mit der Kapazität für kollektives Handeln und mit einem eigenen „Staatsgebiet“ (dem global verteilten Eigentum der Community-Mitglieder, das durch das Internet verbunden ist).
Michael Hardt und Antonio Negri erhoffen, dass derartige neue „Kommunen“ innovative Technologien entwickeln beziehungsweise „öffentliche digitale Güter“ nutzen könnten und diese „maschinischen Gefüge“ dann die festgefahrenen Situationen demokratisierend aufbrechen könnten: Millionen von Arbeiterinnen und Abeiter treten in diese global verteilten, innovativen Cloud-Republiken ein, entscheiden über deren Innenpolitik und verbessern so auch die Verhandlungsposition gegenüber den Regierungen jener Länder, in denen sie Staatsbürger sind. Diese müssen die Forderungen der Cloud-Arbeiterschaft akzeptieren, da sie sonst ihre Positionen im multipolaren Wettbewerb einbüßen.
Und schließlich könnten sich diese Kommunen verbinden, gibt doch es eine gewisse Übereinstimmung der Motive und Fähigkeiten. Kann sich so eine neue kollektive Stimme in der multipolaren Welt erheben? Abwanderung ist oft der einzige Ausweg. In diesem Fall ist es eine aktive Bewegung, die auf der Flucht Neues schaffen kann. Le Guins Roman endet bezeichnenderweise damit, dass der Protagonist den Planeten der Habenichtse verlässt, weil er nur an einem anderen Ort neue Lösungen entwickeln kann.