Die Maschine

Der Faschismus des 21. Jahrhunderts braucht weder Ideologie noch Faschisten. Er läuft auf Automatik, als weltweit genormtes Industrie­produkt. «Die Zukunft des Faschismus», Folge 2.

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    Was immer man gegen die USA hat, eins kann man nicht leugnen: Selten hat eine imperiale Macht so wirkungsvoll durch Soft Power regiert. Amerika ist das Land der Verkäufer. Und das Exportland für Ideen.

    Kein Wunder, veränderte Donald Trump in seinen vier Jahren Präsidentschaft die politische Debatte rund um die Welt. Plötzlich klangen die autoritären Politiker alle gleich: von den Kadern der kommunistischen Partei Chinas bis zum rechts­radikalen Präsidenten Brasiliens, von den Mörder-Generälen in Burma bis zum Sheriff-Präsidenten auf den Philippinen, vom muslimischen Diktator in der Türkei bis zum sozialistischen in Venezuela. Sie antworteten auf Vorwürfe nur noch mit: «Fake News!» Plus: «Ihr seid Feinde des Volkes.»

    Ebenso die rechten Zeitungen rund um die Welt – vom «Spectator» bis zur «Weltwoche». Gefüllt mit Artikeln zu Gender-Terror, Cancel-Culture und Woke-Ideologie, klingen sie seit Jahren alle wie «Breitbart», das Magazin von Trumps ehemaligem Chefideologen Steve Bannon.

    Zum Teil war es die pure Macht seiner Position, die Trump Wirkung verlieh. Entscheidender aber war, dass er eine kühne Abkürzung gefunden hatte: Für durchschlagende rechte Politik konnte man die Politik komplett streichen.

    Trumps Sieg war eine Sensation an Effizienz: Er eroberte Präsidentschaft und Partei ohne Plan, ohne Kenntnisse, ja ohne Interesse an Politik; seine Willkür trug zu keinem Zeitpunkt eine Maske; seine Propaganda kümmerte sich nicht einmal um die Fälschung der Wirklichkeit.

    Er bewies, wie wirksam der radikale Verzicht auf Inhalt, Manieren, Logik und Tarnung ist: Das daraus resultierende Chaos genügte, um die mächtigste Demokratie der Welt ins Kippen zu bringen.

    Trumps Reduziertheit inspirierte rechte Parteien überall auf der Welt: Faschismus im 21. Jahrhundert braucht nicht einmal eine Ideologie.

    Und sie inspirierte seine selbst ernannten Erben wie Floridas Gouverneur Ron DeSantis. Dieser hat zwar im Wahlkampf gegen Trump keine Chance. Aber er hat Trumps Politik weiterentwickelt: zu noch mehr Effizienz.

    DeSantis’ Neuerung war, die Demokratie nicht gegen, sondern mit dem Rechtsstaat zu kippen: mit einer Flut an Gesetzen, Verordnungen, Verboten.

    DeSantis’ Methoden machen sogar den Mann an der Spitze auswechselbar: ein Faschismus ohne Charisma, Inspiration und Drama. Machbar für jeden Bürokraten.

    Es ist der Faschismus als Maschine – getrieben von selbst­verstärkenden Automatismen, befeuert mit vorfabrizierten Propaganda-Elementen, die so auswechselbar wie international einsetzbar sind. Noch nie war System­umsturz so kopierbar.

    In der Tat ist das Rezeptbuch sehr einfach, anwendbar für jeden, der skrupellos genug ist. Eine Anleitung in 8 Punkten.

    1. Zerstörung genügt – egal wo

    Je mehr zerbricht – an Institutionen, Wirtschaft, Umwelt, Umgangsformen, Hoffnungen, Spielregeln, Menschen –, desto besser. Das Entscheidende für den Erfolg rechter Bewegungen ist: dass das Vertrauen verloren geht.

    Was den Vorzug hat, dass rechte Politik von Katastrophen profitiert, die sie selbst angerichtet hat. So zeigen etwa massenweise Studien, dass Finanz­krisen und Verschuldung zuverlässig zu einer Welle von rechts­populistischen Wahlsiegen führen.

    Die grösste Tugend als rechter Politiker ist deshalb: Stress zu befeuern. Die Republikaner in den USA betreiben das konsequent: Lähmung des Parlaments, Streichung von Sozial­leistungen, Sabotage der Krankenkasse, Aufhebung der Waffen­gesetze, Kinderarbeit, niedrige Löhne und als neuestes Wahlkampf-Projekt: Ende der Schulspeisung – die Zerstörung der Sicherheit ist ihr bestes Wahl­argument.

    Das deshalb:

    1. Je grösser das Chaos, desto unglaubwürdiger werden die Leute, die aufräumen wollen: die Linken und – für die Rechte noch wichtiger – die traditionellen Liberalen und Konservativen.
    2. Je grösser das Misstrauen gegen Regierung, Beamte, Richterinnen, Nachbarn, desto absurder klingen Optimismus, Lösungen, Gross­zügigkeit – desto grösser das Vertrauen gegenüber Politikerinnen, die von solchen Tugenden frei sind. Es sind zwar Schurken, aber wenigstens Schurken, die nicht darüber heucheln; realistische Schurken, die wissen, wie es läuft. Je düsterer es den Leuten geht, desto mehr leuchtet ein, dass eine gerechte Politik nicht aus Lösungen besteht. Sondern aus Rache.
    3. Das Ziel rechter Strategen sind nicht die Linken oder Minderheiten. Das wirkliche Ziel sind politisch die Bürgerlichen und wirtschaftlich die Mittelklasse. Kippt diese, ist der rechte Wahlsieg Formsache: Nichts radikalisiert Menschen so sehr wie die Angst vor dem Abstieg.

    Kein Wunder, engagiert sich die internationale Rechte so leidenschaftlich für die Klima­katastrophe: vom Kampf für fossile Heizungen über die Gegnerschaft zum Klimagesetz bis zur Sympathie für Öldiktatoren. Die zuverlässig sich entwickelnde Hölle mit verbrannter Erde, Flüchtlings­zügen, Knappheit, Kämpfen, Panik wird zum Paradies für Faschisten.

    2. Mit Fleissarbeit zum Staats­streich

    Klar scheiterte Trumps Staatsstreich am 6. Januar 2021 – zu komplex, zu neuartig, zu last minute, zu viel auf einmal.

    Das Fazit, das republikanische Strategen zogen, tauften sie: «radikaler Inkrementalismus». Inkrementalismus heisst: die pragmatische Installation von Gesetzen, wo immer es wenig Aufwand braucht.

    Es ist dieselbe Methode, die DeSantis in Florida verfolgt: ein Gesetz nach dem andern, dann eine Verschärfung nach der andern. Kein Putsch gegen den, sondern mithilfe des Rechtsstaats.

    Der Unterschied ist, dass DeSantis dabei das Scheinwerfer­licht sucht – die radikalen Inkrementalisten das Gegenteil: Sie suchen das Dunkel der bürokratischen Langeweile.

    Diverse Bündnisse von Milliardärinnen, Juristen, Aktivistinnen bearbeiten systematisch die Wahlgesetze in den republikanischen Staaten: neue Bezirke, weniger Wahlurnen in demokratischen Gegenden, Hürden für Briefwahl, Vollmachten für republikanische Gouverneure oder Wahl­leiterinnen, nicht genehme Wahl­ergebnisse für ungültig zu erklären, und so weiter.

    Kurz: Für den grossen Coup braucht es keinen grossen Coup. Der kommende Staatsstreich ist nur noch Fleissarbeit.

    3. Opportunismus = Radikalismus

    Das klingt Ihnen zu bürokratisch, Herr Hitler? Keine Sorge.

    Der Faschismus des 21. Jahrhunderts braucht nicht nur keine faschistische Ideologie. Er braucht nicht einmal überzeugte Faschisten.

    Er ist schlicht eine Funktion der Aufmerksamkeits­ökonomie. Der Wettbewerb unter politischen Karrieristen genügt: erst um immer grausamere Sprüche, dann um immer grausamere Gesetze, dann um immer grausamere Taten.

    Das, weil der Platz auf der Bühne begrenzt ist. Und im TV, im Netz, im Wahl­kampf die sicherste Faustregel ist: Nur das Lauteste wird gehört.

    Die USA sind ein perfektes Land für Lautstärke – der Wettbewerb ist riesig, aber die Zahl der Gewinnerinnen begrenzt. Schon weil in den USA mehr noch als anderswo Politik, Wirtschaft und Showbusiness nach demselben Prinzip organisiert sind – als Winner-takes-it-all-Markt: Sieger werden zu Giganten, der Rest überlebt von Tag zu Tag.

    Für republikanische Politiker gilt das verschärft:

    1. weil die Partei bereits Mitte der 90er-Jahre (unter Newt Gingrich) die Strategie der Fundamental­opposition entwickelte. Wodurch das politische Handwerk schnell weniger zählte als demonstrative Kompromiss­losigkeit. Die entscheidende Bühne verlagerte sich von den Parlamenten in die Talkshows.
    2. weil derselbe Wettbewerb auch im konservativen Medien­universum spielt. Von Fox News über «Breitbart» bis zum Heer der rechten Blogger: Alle kämpfen darum, die eigene Sache voranzubringen – und das kompromissloser als die Konkurrenz.
    3. weil das amerikanische Wahlsystem diesen Kampf noch befeuert. Die grosse Mehrheit der Wahlkreise und Bundes­staaten ist entweder klar demokratisch oder klar republikanisch. Was heisst: Die entscheidende Wahl ist die partei­interne Vorwahl – und damit die Frage: Wer ist die kompromissloseste Kandidatin?

    Drei Jahrzehnte Talkshow-Politik haben jeden Unterschied zerstört: Heute fallen in der republikanischen Partei Opportunismus und Extremismus ununterscheidbar zusammen. Um Karriere zu machen, müssen selbst biederste Funktionäre reden und abstimmen wie Fanatiker.

    Das hat teils eine düstere Komik. Aber es ist der Kern der amerikanischen Katastrophe: Denn es bedeutet, dass das zentrale Sicherheits­instrument der Demokratie ausgehebelt worden ist.

    Zugegeben, Opportunismus hat keinen besonders guten Ruf – nicht zuletzt, weil er als Berufs­krankheit der Politikerinnen gilt. Doch ganz fair ist das nicht. Opportunismus ist das zentrale Produkt einer Demokratie – weil durch das Ziel, wiedergewählt zu werden, die Politiker gerade nicht jederzeit ihren Überzeugungen folgen, sondern darauf schielen, was den Wählerinnen Eindruck macht.

    Das Ergebnis davon nervt alle brauchbaren Köpfe – es ist das politische Eiern. Fast nie liefert unsere Politik radikal neue, mutige, inspirierende Würfe. Aber das ist der Preis. Dafür, dass sie keine radikal dummen, bösartigen oder selbst­zerstörerischen Dinge tut.

    Doch bei den Republikanern spukt das automatische Kühl­system Feuer. Ihre wichtigsten politischen Projekte – Abtreibungs­verbot, Waffen­freigabe, Unterstützung Russlands, Privatisierung der Kranken­kasse, Kappen der Sozial­leistungen, Steuer­senkungen für Super­reiche, Wahl­beschränkungen, Christianisierung des Staates, Bücher­verbote, Fundamental­opposition, Trumps Wiederwahl – sind alle ziemlich unpopulär. Was aber nicht verhindert, dass ihre Positionen Woche für Woche radikaler und brutaler werden.

    Jeder, der im konservativen Universum – in Politik, Medien, Firmen, Familien – eigentlich nur einen Job, ein Einkommen, einen Platz, eine Zukunft haben will, ist gezwungen, den gesamten widersinnigen Kanon zu übernehmen. Und das in der jeweils aktuell verschärften Fassung.

    Umgekehrt machen exotische Wahnsinnige steile Funktionärs­karrieren, etwa die als Verschwörungs­theoretikerin berühmt gewordene Marjorie Taylor Greene. (Eine ihrer Behauptungen: Waldbrände werden durch Laser­strahlen aus dem Weltall entfacht, abgeschossen von jüdisch finanzierten Satelliten.) Sie ist heute die Nummer 2 der Republikaner im Repräsentanten­haus.

    Und damit sofort unter Druck der Konkurrenz. So kaperte ihre Ex-Verbündete Lauren Boebert ihren lang geplanten Wahlkampf­schlager, ein Impeachment gegen Joe Biden einzuleiten. (Worauf Taylor Greene sie «little bitch» nannte.)

    Es ist nur eine Frage der Logik, dass die Republikanische Partei immer deutlicher als Haupt­gegner nicht die Demokratische Partei sieht, sondern die Demokratie selbst. Sie hat keine realistische Hoffnung, wegen ihrer politischen Ideen gewählt zu werden.

    4. Kreuzzug gegen … alles

    Was tun als ehrgeizige oder nur die Familie ernähren wollende Republikanerin? Wie beweist du deine Kompromiss­losigkeit?

    • Die traditionelle politische Debatte ist für Republikaner seit langem nicht mehr führbar: Dazu sind ihre Vorschläge viel zu unpopulär.
    • Ausserdem sind praktisch alle konservativen Dogmen über Bord geschmissen worden: der schlanke Staat, Föderalismus, Bekämpfung des Defizits, Law and Order, weniger Gesetze, pro Business, pro Demokratie, gegen Russland und Diktaturen etc. Heute vertreten die lautesten Leute der Partei das exakte Gegenteil. Dem Rest bleibt keine Chance mehr für harmlose Sonntagsreden.
    • Bleiben die Verschärfungs­wettbewerbe in den Disziplinen Trump-Treue, Demokraten- und Minderheiten­dämonisierung – aber auch hier sind Lärm und Konkurrenz derart gross, dass selbst das schockierendste Statement nur wenige Stunden in den Schlagzeilen bleibt.

    Am klügsten, du suchst dazu unberührtes Gebiet. Kein Wunder, eskaliert der Kultur­kampf Richtung … alles.

    Kein Ding ist harmlos genug, um nicht zum Schlachtfeld zu werden: DisneyfilmeBiermarkenWeihnachtenBibo (der grosse gelbe Vogel aus der «Sesamstrasse»), Mathematik­bücher.

    Ron DeSantis’ Innovation war, aus dem Sammel­surium eine Systematik zu machen. Er stellte sich an die Spitze des Kreuzzugs gegen Woke-Ideologie, Cancel-Culture, Critical-Race-Theorie.

    Das war zwar nicht neu – aber plötzlich klang das Chaos nach Programm. Der Konkurrenz leuchtete es sofort ein. Seitdem läuft der Kreuzzug weltweit.

    Tatsächlich ist, wenn man keine oder sehr unpopuläre Vorschläge hat, der Kampf gegen Woke & Co. der ideale Ersatz. Mit den Vorteilen:

    • dass das einst exotische Thema zu einer weltweit einigenden Flut angewachsen ist. Gefühlt jeder ältere deutsche Herr hat – allein in der NZZ – einen Aufsatz gegen Denk­verbote, Gendern, inter­sexuelle Toiletten, mehr als zwei Geschlechter geschrieben; jeder Rechts­radikale dazu einige Mord­drohungen verfasst; sogar Wladimir Putin rechtfertigte seinen Krieg in der Ukraine unter anderem damit, dass ein Kind nicht ein, zwei, drei Eltern haben sollte, sondern «Mama und Papa».
    • dass der chaotische Lärm dazu führt, dass der Kultur­krieger nichts mehr begründen muss. Gefragt, was «woke» – sein Wahlkampf-Hauptthema – eigentlich sei, sagte DeSantis nur: «kultureller Marxismus».
    • dass die Wolkigkeit aber nichts an Dringlichkeit wegnimmt: weil es um den «Schutz unserer Kinder» vor Ideologie und Pornografie geht (so wie bei Anti-Einwanderung um den «Schutz unserer Frauen»).
    • dass an Empörungsstoff kein Mangel ist, weil ein einziges Beispiel weiss Gott wo auf dem Planeten zum Anlass einer weiteren Lawine dienen kann – etwa eine Klage wegen einer Trigger­warnung bei Shakespeare in einem Literatur­seminar in England oder eine Transgender-Person mit Bart in einer Frauensauna in Wien.
    • dass bereits unzählige Versatzstücke zur freien Neukombination bereitliegen – Nachdenken muss bei einem Anti-Denkverbots-Artikel niemand mehr: Der Kulturkampf ist eine globale Milliarden-Dollar-Industrie.
    • dass, wer eine Minderheit angreift, alle angreift: Man kann problemlos gegen Dragqueens schreiben und damit ohne spezielle Erwähnung sagen: Frauen, Schwarze, haltet die Schnauze.
    • dass, last but not least, viele Leute das Gefühl haben, jetzt werde aber mit dem Thema übertrieben – nur dass dieses Gefühl nicht zuletzt durch die Sturzflut der Anti-Woke-Artikel selbst entsteht – wodurch die Flut sich ihre Berechtigung selbst erarbeitet.
    • dass, noch mehr last, noch weniger least, es neben der Mehrheit eine reale Minderheit der Leute gibt – Trans­menschen und ihre Familien –, denen man wirklich wehtun kann: Letztlich ist Grausamkeit der einzige im faschistischen Milieu akzeptierte Beweis, ernsthaft dabei zu sein.

    Donald Trump, der eher spät auf das Karussell aufsprang, stellte in seiner ersten Rede nach der Anklage wegen der Aufbewahrung von Geheim­dokumenten begeistert fest: «Erstaunlich, wie stark Leute darauf reagieren. Wenn ich über Steuer­senkungen spreche, sind die Leute so … (Hier folgte eine Geste matten Applauses). Wenn ich aber über Transgender spreche, drehen alle durch. Wer hätte das gedacht? Vor fünf Jahren wusste noch keiner, was zur Hölle das überhaupt ist.»

    Der Kampf gegen Woke ist ohne Zweifel der Sommerhit bei den internationalen Rechtsaussen­parteien: In Deutschland organisieren sich AfD und Querdenker damit, in der Schweiz hat die SVP den Kampf gegen «Woke-Wahnsinn» und «Gender-Terror» zum wichtigsten Wahlkampf­thema gemacht – und in den USA führen die Republikaner zumindest in der Vorwahl den Wahlkampf nicht gegen Biden, sondern gegen Wokeness.

    Was im Klartext heisst, gegen alles.

    5. Bye, Neoliberalismus! Willkommen, Illiberalismus!

    Noch vor wenigen Jahren wäre undenkbar gewesen, dass ein republikanischer Gouverneur den grössten Steuer­zahler seines Bundesstaats mit Mafia­methoden angreift, nach dem Motto: Schönes Disneyland, das Sie hier haben. Wäre schade, wenn da jemand ein Staats­gefängnis neben den Eingang bauen würde, oder?

    Und das wegen einer winzigen Protestnote des Konzerns.

    Trotzdem störte sich bei den oberen Zehntausend niemand daran. DeSantis ist weiterhin der Traumkandidat der konservativen Milliardäre.

    Was zeigt: Das neoliberale Zeitalter ist vorbei. Gross­konzerne, sogar ganze Branchen stehen nicht mehr über der Politik. Einst waren sie das gelobte Land, heute sind sie ein Teil der Kulturkampf­zone.

    Eine Geste genügt, um Zielscheibe zu werden.

    Nach einem Werbevideo mit einer Transfrau schossen Tausende Republikaner im Netz auf Bud-Light-Bier – der Rapper Kid Rock sogar mit Maschinen­pistole. Wonach die Verkäufe um 25 Prozent einbrachen. Nach dem Einsetzen einer Diversity-Stelle boykottierten konservative Christinnen die Filialen von Chick-fil-A, einer auf Hühner­sandwiches spezialisierten Fast-Food-Kette: «Chick-fil-A, ihr seid nicht mehr das Huhn des Herrn!»

    DeSantis legte in der Finanzindustrie nach und verbot Floridas staatlichen Pensions­kassen die Anlage in ESG-Investmentfonds – also in Fonds, die auf Umwelt- und Sozial­verträglichkeit achten. Weil: woke. Der weltgrösste Vermögens­verwalter Blackrock verlor zwei Milliarden Dollar an Investments.

    Texas, der führende Bundesstaat bei Windenergie, sabotierte mit einer Batterie von Gesetzen und Schikanen den Bau weiterer Windturbinen – trotz Arbeits­plätzen, trotz Steuer­einnahmen, trotz billiger Energie. Weil Wind eine woke Energieform ist.

    Die Republikaner kandidierten seit Generationen als die Pro-Business-Partei. Doch damit ist Schluss. Die republikanische Wirtschafts­politik hat das Modell des freien Marktes aufgegeben. Plus das des möglichst zurück­haltenden Staates. Neu gilt das klassisch autokratische Modell. Bei dem die einzige Frage ist: Bist du für uns oder für die andern?

    Wer falsch antwortet, wird bestraft: «Go woke, go broke

    Wer auf der richtigen Seite steht, wird belohnt. Etwa die Finanzleute, die DeSantis im Wahlkampf finanzierten. Sie bekamen die Hälfte der zwei Milliarden Pensions­gelder, die Blackrock weggenommen wurden.

    Das Sensationelle dabei war: Die Wahlkampf­spenden waren nicht das entscheidende Kriterium. Blackrock – wie auch Disney – gehörten zu den Financiers von DeSantis. Nur zählte das nicht. Politische Positionen sind plötzlich wichtiger als Spenden.

    Ebenso zum neuen Zeitalter gehört: Die Belohnungen für politische Gefälligkeiten werden nicht mehr versteckt verteilt. Sondern überdeutlich, als Zeichen.

    Kurz nachdem DeSantis seine Präsidentschafts­kandidatur auf Twitter lancierte, wurde Elon Musk belohnt: mit einem Gesetz, das Musks Firma Spacex vor Schadenersatz­klagen bei der Explosion bemannter Raketen schützt. Und mit einem Gesetz, in dem DeSantis sämtlichen Herstellern verbot, ihre Autos direkt zu verkaufen – mit einer Ausnahme: Tesla.

    Genauso unübersehbar wird politische Abweichung bestraft: So etwa legte DeSantis sein Veto gegen sämtliche Infrastruktur­projekte in Sarasota County ein – der Bezirk hatte das Pech, dass sein republikanischer Senator nicht DeSantis, sondern Trump unterstützt hatte.

    Im politischen Krieg werden Einbrüche ganzer Branchen in Kauf genommen – quasi als Kollateral­schäden: Ein brutales Gesetz gegen illegale Einwanderer in Florida (alle Betriebe mit über 25 Mitarbeitern müssen neue Angestellte überprüfen – die Polizei macht Razzien) führte dazu, dass Floridas Restaurants, seine Baubranche, die Gemüse- und Obst­farmen ab diesem Sommer ohne Personal dastehen: Sie beschäftigen mehrere zehntausend illegale Immigranten. Republikanische Abgeordnete zogen danach durch die Dörfer und betonten, das Gesetz sei «ohne Zähne» und nur dazu da, «Angst zu machen». Gut beraten, wer ihnen nicht glaubt.

    Für diese Wirtschafts­politik gibt es ein klares Modell – das Sehnsuchtsland der DeSantis-Republikaner: Ungarn.

    Ungarn ist das einzige Land in Europa, in dem die ultra­konservative Strategie­konferenz CPAC (kurz für Conservative Political Action Conference) tagte. Und das gleich zweimal. Weil republikanische Strategen das Ungarn unter Viktor Orbán als Vorbild für die Zukunft sehen. Orbáns «illiberale Demokratie» liefert das Modell für eine stabile Einparteien­herrschaft. Seine Präsidentschaft zeigt, wie man eine Demokratie zur Autokratie umbaut: schritt­weise, systematisch, durch gezielte Gesetze. Zuerst kam die Presse unter Kontrolle, dann die Banken, dann die Justiz – schliesslich die Wirtschaft.

    Das Faszinierende für die republikanischen Strategen ist: Alles läuft legal.
    Und sehr kapital­freundlich. Orbán setzt auf eine Mischung aus Staat und befreundeten Unternehmern. Der Staat macht Druck – etwa auf einen Presseverlag. Die zentrale Waffe ist Bürokratie: Gesetze, Gängelung, Steuern. Und sobald das Unternehmen rote Zahlen schreibt, folgt die wirtschaftliche Übernahme: durch einen Verkauf an Parteigänger.

    Die Basis von Orbáns politischer Macht ist im Kern ein Wirtschafts­modell.
    Die «illiberale Demokratie» ist nicht einfach antidemokratisch, sondern tatsächlich antiliberal: Nicht wer die Wirtschaft hat, hat die Macht, sondern wer die Macht hat, hat die Wirtschaft.

    Das spüren zunehmend auch ausländische Konzerne. Deutsche, französische, skandinavische Banken, Versicherungen, Fabriken werden mit Sondersteuern überzogen – immer mehr Firmen werden durch Freunde Orbáns Kauf­angebote gemacht. Wird abgelehnt, folgt die volle staatlich-juristisch-publizistische Walze: Formulare, Kontrollen, Presse­kampagnen, Ermittlungen, Prozesse, über Nacht massgeschneiderte Gesetze, Drohung mit Verstaatlichung, Besuch von Geheimdienstlern im Büro wie zu Hause.

    Kurz: Ungarns Wirtschafts­modell ist die Mafia – nur weniger blutig, weil ungleich mächtiger: mit Parlament, Presse, Justiz im Rücken.

    Ungarn als Modell ist das strahlende Versprechen der Republikaner an Glücksritter aller Art: Hilf uns, wie auch immer, an die Macht – und wir werden reich.

    Das Versprechen von ultrarechten Strategen wie DeSantis ist nicht zuletzt der Umbau der Republikanischen Partei in eine kriminelle Organisation. Mit der Aussicht auf die grösste Beute des Planeten: die Vereinigten Staaten von Amerika.

    6. Propaganda der Grausamkeit

    Das Fussvolk hingegen hofft nicht auf Geld. Sondern auf Vergeltung.

    Trumps vier Jahre Präsidentschaft waren im Rückblick beinahe harmlos. Der Grund, warum Trumps Untätigkeit, Unfähigkeit, Unflätigkeit, sein Egoismus, seine Dummheit, seine Grausamkeit ihn keine Wähler kosteten? Weil das gerade die Mittel waren, die das von Trumps Wählerinnen Gewünschte lieferten: Entsetzen, Erschrecken, Ekel auf der Gegenseite.

    Er war die Handgranate in den verhassten Villen­vorgärten.

    Doch 2024 genügen diese Sorte Scherze niemandem mehr. Die Kandidaten müssen mehr bieten. Und sie tun es, jeder in seinem Stil. DeSantis, wie immer Systematiker, verspricht die disziplinierte Säuberung von der «Woke-Geisteskrankheit», Trump sagt dasselbe, nur Trump-mässig: «Ich bin eure Vergeltung.»

    Im Wettbewerb um Kompromiss­losigkeit werden Beweise verlangt. Und die Steigerung von reiner Symbolik lautet: echte Grausamkeit. Trump hat dabei den Vorsprung des Pioniers, der zuerst Tabus brach. Seine Aufforderung im Wahlkampf 2016, man solle Störer «windelweich schlagen», er bezahle die Anwälte, war unerhört. So wie später seine offene Mordlust, als der Secret Service «Black Lives Matter»-Demonstrierende vor dem Weissen Haus verprügelte. Oder sein Aufstacheln der Menge am 6. Januar 2021 vor dem Sturm aufs Capitol: «Wenn ihr nicht kämpft wie die Hölle, werdet ihr kein Land mehr haben!»

    Sein selbst ernannter Erbe DeSantis hat die Grausamkeit bürokratisiert: Hundert­tausende Menschen haben sie erlebt. Schwangere, die wegen des Abtreibungs­verbots gezwungen werden, ein Kind ohne Nieren zu gebären. Illegale Migrantinnen, die in Florida keinen Job mehr finden. Trans­personen. Familien mit einem Transkind. Entlassene Lehrerinnen. Flüchtlinge, die mit falschen Versprechungen in Flugzeuge gelockt und in demokratisch regierte Städte geschickt wurden. 250’000 Leute, die wegen Fehlern in den Formularen aus der Krankenkasse geworfen wurden.

    Kein Zweifel, der kalte Sadismus schlägt den heissen. Objektiv liegt DeSantis in Sachen Grausamkeit weit vor Trump: Er hat ungleich mehr Leben an den Rand des Abgrunds gebracht. Trump war bisher dazu schlicht zu desinteressiert an fremden Menschen. Seine Grausamkeit funktioniert anders: Er will zusehen – möglichst in sicherer Entfernung. Sie besteht nicht zuletzt darin, dass grundsätzlich andere Leute sie für ihn begehen: Anwälte, Anhänger, Armee, Attentäter.

    Exakt auf diesem Unterschied beruht das Wahlkampf-Konzept von DeSantis: Er setzt Grausamkeiten persönlich um, während Trump sie nur provoziert. Und damit seiner lebenslangen Praxis folgt, anderen die Drecksarbeit zu überlassen.

    Womit DeSantis beweist, dass er keine Ahnung von Menschen hat. Denn Trumps Feigheit verschafft ihm paradoxer­weise eine weit loyalere Anhängerschaft, als der Allein­organisator DeSantis sie je haben wird.

    Das, weil Trump seinen Anhängern eine tragende Rolle gibt.

    Man ist nicht den Leuten verbunden, die etwas für einen tun; sondern den Leuten, für die man etwas tut. Der Grund, warum man seine Kinder (aber auch Gurus oder Betrüger) liebt, ist die Arbeit, die man in sie steckt.

    Die rechte Revolution ist eine Mitmach­bewegung. Die Macht Trumps beruht darauf, dass ihm ein zu allem bereiter Mob egal wohin folgt: Wer von Trump im Netz beleidigt wird, erhält Mord­drohungen; wer ihn ärgert, braucht Personen­schutz; bei seiner Abwahl stürmten Tausende das Capitol.

    Ohne Mob wäre Trump nur ein schimpfender Verrückter. Was auch der Mob weiss – und schätzt. Denn gerade deshalb kann der Mob ihm vertrauen: Trump gehört – Milliardär hin, Präsident her – nicht zu denen da oben, sondern auf Gedeih und Verderb zu ihnen. Er ist ihr Mann.

    Kurz: Trumps Machtmodell beruht auf systematisch unsystematischem Terror. Die Attacken sind keineswegs zufällig, die Täter und Opfer oft schon: Der Wetter­moderator, der nach Mord­drohungen seinen Job aufgeben muss; die linke Demonstrantin, die nach einem Aufmarsch von Rechts­radikalen über den Haufen gefahren wird; der Ehemann der Parlaments­sprecherin Nancy Pelosi, der zu Hause von einem Irren mit dem Hammer überfallen wird.

    Die DeSantis-Republikaner machen dasselbe, nur organisierter. Sie folgen einer klassischen faschistischen Strategie zum Aufbau der Bewegung – indem sie mit der Radikalisierung im lokalen Mikro­kosmos beginnen, wo der Widerstand nicht gross ist: bei zuvor unpolitischen Institutionen wie Wahlbüros, Gemeinde­verwaltungen, Schulpflegen.

    Der Grossteil der Bücherverbote in Schul­bibliotheken wurde von ein paar wenigen Aktivistinnen beantragt. (Im Schuljahr 2021/22 kam die Mehrheit von rund tausend Verbots­anträgen von elf Personen.) Hauptziel sind Bücher mit Schwarzen oder nicht hetero­sexuellen Protagonistinnen – aber von Sach­büchern zu Menschen­rechten über Shakespeare bis zum Tagebuch von Anne Frank ist alles dabei.

    Trick 1: Es ist kein Zufall, dass die Zensur­gesetze fast durchgehend alle extrem vage formuliert sind. Für den Verbots­antrag muss man die Bücher nicht einmal gelesen haben. Oder eine präzise Begründung liefern.

    (Das Gedicht «The Hill We Climb» der jungen Poetin Amanda Gorman, verfasst zu Bidens Amts­einführung, wurde etwa auf Aufruf einer Mutter aus dem Regal genommen, die als Autorin des Werks fälschlicherweise die Talkmasterin «Oprah Winfrey» angab und als Begründung für die Entfernung: «indirekte Hass­botschaften» – während sie selbst zugab, das Gedicht nie in seiner ganzen Länge gelesen zu haben. «Ich bin kein Buchmensch. Ich bin nur eine Mutter, die ihre Kinder erzieht.»)

    Trick 2: Je vager die Zensur­gesetze sind, desto drakonischer fallen die Strafen aus: Im Moment liegt Arkansas in Führung, wo Lehrern und Bibliothekarinnen für das Zugänglich­machen unpassender Bücher bis zu sechs Jahre Gefängnis oder 10’000 Dollar Busse drohen.

    Trick 3: Wegen rechtlicher Unklarheit (und Bedrohung) müssen ganze Regale abgeräumt und die betreffenden Bücher von speziell angestellten Leuten einzeln geprüft werden. Was mehrere 100’000 Dollar kostet. Und unglaublich viel Zeit verschlingt.

    Das Resultat aus republikanischer Sicht: Erfolg! Erfolg!! Erfolg!!!

    Die Bücher­zensur wurde zu einer Mitmach­bewegung – und besonders aktiv dabei waren: rechte Frauen. Die 2021 gegründeten «Moms for Liberty» (Mütter für die Freiheit) sind eine der am schnellsten wachsenden, mächtigsten Organisationen der militanten Rechten, eng vernetzt mit ultra­nationalistischen Christinnen, der Partei­spitze und para­militärischen Gruppen wie den Proud Boys.

    An der diesjährigen Konferenz der Freiheits­mütter traten gleich vier republikanische Präsidentschafts­kandidaten auf – darunter Trump und DeSantis –, doch den grössten Applaus und die grössten Schlagzeilen bekam die Gründerin Tiffany Justice, die eine Frau verteidigte, die Hitler zitiert hatte: «Ich stehe zu dieser Mutter!»

    Es ist keine sehr friedliche Organisation: Lehrer, die sich wehren, werden als Pädophile angegriffen, und im Fall einer unkooperativen Bibliothekarin bedauerte eine der Chefinnen, «keine Geistes­krankheit zu haben», weil sie die Frau sonst über den Haufen schiessen würde.

    Doch Schusswaffen sind kaum mehr nötig. Der Terror, der durch Aktivismus und Bürokratie ausgeübt wird, funktioniert auch ohne.

    Etwa in Florida:

    • Lehrerinnen kündigen. Auch diejenigen, die bleiben, sagen, dass die letzten Monate unerträglich waren.
    • Immer mehr Familien mit Transkindern verlassen Florida, teils finanziert durch Crowdfunding, falls das Geld für den Umzug knapp ist.
    • Zur gleichen Zeit ziehen Migranten-Familien weg, nicht selten nach Jahren, in denen sie ihre Existenz aufgebaut haben. Sie verlassen ihre Wohnungen, Nachbarn, Schulen und Jobs, um weiter im Norden wieder mit nichts zu starten.

    Die Befürchtung, dass es noch weit grausamer werden könnte, hat Gründe. Denn das einzige Leben, das die Republikanische Partei noch schützt, ist das von Embryonen.

    Nach der Geburt ist es vorbei mit dem Interesse: Schuss­waffen sind heute in den USA die Haupt­todes­ursache von Kindern. Trotzdem werden die Waffen­gesetze in den republikanischen Staaten weiter gelockert.

    Während der Covid-Pandemie sahen die Republikaner in der Bekämpfung von Impfungen und Masken die Chance auf politisches Kapital. Studien zeigen den Preis: In republikanisch regierten Bezirken (Countys) war die Übersterblichkeit 73 Prozent höher als in demokratisch regierten.

    7. Prorussisches Roulette

    12 Millionen Amerikaner befürworten mittlerweile politische Gewalt, damit Trump ins Weisse Haus zurückkehren kann. Mehr als 300 Millionen allerdings nicht.

    So sehr die Republikaner im Namen von «Normalität» und «Mehrheit» reden – die Situation ist eine völlig andere. Die Republikaner sind in praktisch allen Fragen radikal in der Minderheit: Würde die Präsidentschaft einfach nach Stimmen­mehrheit vergeben, hätten sie nach 1988, als George Bush Präsident wurde, nur eine einzige Wahl gewonnen: 2004.

    Und mit ihrer faschistischen Maschine hätten sie keine Chance.

    Eine Chance auf die Macht­ergreifung haben die Republikaner nur, weil die Demokratie in den USA sehr komplexe Checks-and-Balances-Mechanismen kennt: das Electoral College, auf Lebenszeit gewählte oberste Richterinnen, die Manipulierbarkeit von Wahlkreisen, die Filibuster-Blockade im Senat, das Zwei-Parteien-System.

    Die Republikaner bearbeiten die Checks and Balances systematisch, weil sie wissen, dass sie so das System kippen können. Und seine Zerstörung ist die einzige Chance auf Machterhalt im Fall eines Sieges: der Umbau der USA in eine illiberale Demokratie.

    Was heisst: In jeder Wahl spielt die mächtigste Demokratie und mit ihr auch der Rest der Welt auf unabsehbare Zeit russisches Roulette.

    Kein Wunder, reden die autoritären Politiker rund um die Welt fast alle wie die Republikaner. Sie setzen ihr Kapital auf den grossen Coup.

    Bei Trumps Wahl 2016 standen die Chancen etwa 30:70. Was knapp zwei scharfen Patronen in einem Trommel­revolver entspricht.

    8. Import/Export im Industrie­faschismus

    Ideen in der Provinz sind fast immer Importe aus dem Zentrum. Nur mit Verspätung. Was der Grund ist, dass die USA eine ziemlich brauchbare Glaskugel für die westliche Welt sind: Man sieht, wenn auch verzerrt, in die eigene Zukunft.

    Das gilt umso mehr für die illiberale Rechte. Erstens, weil die ideologischen Versatzstücke fast eins zu eins importierbar und exportierbar sind. Sie haben wenig mit der konkreten Wirklichkeit lokaler Fakten zu tun, aber viel mit der Strategie, diese durch eine andere zu ersetzen. Die Anti-Soros-, Anti-Impfungs-, Anti-Woke-, Anti-Ukraine-, Anti-Windkraft-, Anti-Wissenschaft-, Anti-Eliten-, Anti-Sie-wissen-schon-Artikel klingen weltweit fast wörtlich gleich, egal ob in Ungarn, der Schweiz oder bei Fox News.

    Der Import vereinfacht sich, wenn das politische Ziel die Zerstörung jeder vernünftigen Debatte ist, jedes Kompromisses, jeder Lösung. Und nichts sabotiert so wirksam wie der Lärm, der durch Wiederholung entsteht. Wiederholung überspült alle Argumente, verschiebt Normalität, verleiht Dringlichkeit. Und ist ohne gedankliche Kosten herstellbar. Also hocheffizient. Kein Wunder, flutet die nationale Rechte weltweit das eigene Land mit international produzierter Industrie­scheisse.

    Zum Zweiten ist Faschismus kein Endzustand, sondern ein Prozess: Egal, was man ihm gibt, egal, was er erreicht, egal, wie radikal die eigenen Leute sind, egal, wie unterwürfig die anderen, es ist nie genug. Es geht immer weiter, Stufe um Stufe: neue Gegner, radikalere Forderungen, radikalere Taten, ewiger Kampf. Faschismus ist keine politische Meinung, sondern politischer Krebs.

    Was für Faschistinnen den Vorteil hat, dass sie tief unten einsteigen können. Im Lokalen, im Lächerlichen. Und dort weiter gehen, wo sie Echo finden. Als die internationale Rechte auf fast nirgendwo existierende Intergender-Toiletten schoss, klang das noch absurd. Inzwischen verlassen die Familien mit Transkindern Florida. Aus esoterischen Impf­gegnerinnen wurde ein internationales Gesundheits­problem. Aus dem Protest gegen nicht fossile Heizungen wächst eine gemeinsame Sprache von CDU und AfD.

    Neben der international standardisierten Sprache sind die Methoden internationalisiert: Eine Dragqueen-Lesung für Kinder wird von DeSantis in Florida, von Vize-Ministerpräsident Aiwanger in München oder von SVP-Nationalrat Köppel in Zürich identisch attackiert – als Angriff aufs Kindeswohl. Die Folge: Drohungen, Demonstrationen, Polizeischutz.

    Trumps Strategie, für das eigene politische Gewicht den Mob zu mobilisieren, funktioniert von Mar-a-Lago bis zum Zürich­see gleich. Als der SVP-Nationalrat Andreas Glarner den Flyer für einen Gender-Tag in der Sekundar­schule Stäfa veröffentlichte («Wer greift durch und entlässt die Schulleitung?»), folgten Beschimpfungen, Mord­drohungen, Pornobilder – und der Tag musste abgesagt werden, weil mehrere Leute ankündigten, die Kinder auf dem Schulweg abzufangen.

    Der Gemeinderat von Stäfa fand ein präzises Wort dafür: «Hetze». Darauf angesprochen, sagte FDP-Gemeinde­präsident Christian Haltner: «Ich wüsste nicht, wie wir seine Aufrufe gegen den Gendertag sonst bezeichnen sollen. Glarner weiss ganz genau, welche Klientel er uns auf den Hals hetzt.»

    Wonach der Chefredaktor der NZZ, Eric Gujerin einem Leitartikel den Gemeinderat von Stäfa als «überrumpelte Lokalpolitiker» angriff. Und insbesondere dessen Präsidenten wegen der Aussage, man solle sich lieber mit echten Problemen beschäftigen, etwa Inflation oder Altersvorsorge.

    Gujers Artikel mit dem Titel «Ein bärtiges Wesen in der Frauen-Sauna» war in mehrerer Hinsicht das perfekte Beispiel für leicht veredelte Fliessband­produktion:

    Zum Ersten durch die Technik, das Thema mit einer irrelevanten Anekdote von irgendwoher aus der Welt einzuleiten: Jemand mit Bart und Penis hatte in Wien eine Frauen­sauna besucht. Was erstens an Ort gelassen zur Kenntnis genommen wurde, zweitens wahrscheinlich nur der Stunt eines Trolls war. Also eigentlich nicht der Rede wert. (Natürlich folgte trotzdem tagelang Polemik. Plus weltweite Aufmerksamkeit.)

    Zum Zweiten durch den Trick, den Wirbel als Rechtfertigung für den Wirbel zu nehmen. Und zwar nicht nur für den eigenen Artikel, sondern auch für die SVP-Attacke auf die Schul­leitung in Stäfa: Man könne «nicht nur von Parteipolitik sprechen», wenn sich von «Emma» bis Erz­konservativen alle über Gender-Themen aufregten. «Sie artikulieren ein Unbehagen.»

    Nur: Dieses Unbehagen wird nicht zuletzt durch den Lärm hervorgerufen, der zum grossen Teil aus der Flut von Polemiken, Kommentaren und Empörungen entsteht. Hierzulande vor allem in der NZZ.

    Drittens, und am wichtigsten: das politische Ziel. Der eigentliche Adressat von Gujers Polemik sind die «Parteien der Mitte». Und vor allem die Liberalen, denn sie «beharren darauf, dass Gender-Fragen nicht zu ihren Kernthemen gehören»: «Das dachte man in Stäfa auch, bis die Polizei aus Sorge um die öffentliche Sicherheit zur Absage des Gendertags riet.»

    Kurz:

    1. Der Kulturkrieg ist berechtigt, weil es ihn gibt.
    2. Je übler der Kulturkrieg, desto notwendiger die Teilnahme am Kulturkrieg, weil sie auf die Eskalation des Kulturkriegs reagiert.
    3. Hetze im Kulturkrieg ist dann berechtigt, wenn sie funktioniert. Weil das Ausmass des Terrors als Mass des Unbehagens gelesen wird, das ihn legitimiert.
    4. Es gibt keine Neutralität. Abseits­stehen rechtfertigt den Angriff, schon weil durch den Angriff klar wird, dass die Abseits­stehenden zumindest in dem Punkt schuldig sind, dass sie die Realität des Kulturkriegs nicht anerkannt haben.

    Bemerkenswert ist, was Gujer nicht interessiert: die Adressatinnen des von Glarner ausgelösten Terrors. Der Gender-Tag an der Schule in Stäfa war eigentlich nur ein umständlicher Name für Aufklärungs­unterricht. Der Grund für die Hetze war eindeutig nicht der Tag, sondern das Gender-Wort: Der freigesetzte Hass war eine Botschaft an alle, die eine queere Identität haben. Plus an alle, die diese Identität akzeptieren: Freunde, Familien, Behörden.

    Die Botschaft heisst: Ihr gehört nicht dazu. Gegen euch ist alles erlaubt. Und wehe allen, die eure Existenz akzeptieren.

    Das funktioniert. Ich etwa sorge mich seitdem um die kluge Primarschul­freundin meiner Tochter, die ich einst als klugen Jungen kennenlernte.

    Aber das ist nicht das, was Gujer interessiert. Was ihn interessiert, ist das politische Spiel. Genauer gesagt: die Integration der bürgerlichen Mitte in den Kultur­kampf von Rechtsaussen.

    In der Tat geht es bei der Zukunft des Faschismus vor allem um eine Frage: Was macht das Bürgertum? Bleiben die Liberalen und die Konservativen bei ihren traditionellen Werten?

    Im Fall Stäfa, zum Beispiel: Liberalität und Umgangs­formen.

    Oder gelingt es der internationalisierten Rechten, sie in den Sog des Anti-Woke-Kulturkriegs hineinzuziehen? Ihr die Sprache mit genormten Versatz­stücken aufzudrücken?

    So hielt etwa der zweifellos amerikanisierteste Politiker der Schweiz, SVP-Nationalrat Roger Köppel, in Ungarn auf der republikanischen CPAC-Konferenz eine Rede. Sie war über weite Strecken so standardisiert wie ihr Titel: «Woke ist ein Virus der Eliten». Kurz vor Schluss legte Köppel dem Publikum seine wichtigste Botschaft ans Herz: «Was mich besorgt, sind nicht woke Linke. Was mich besorgt, sind woke Konservative.»

    Das entscheidende Schlachtfeld ist, aktuell auch bei den Schweizer Wahlen: das bürgerliche Lager. Und ganz konkret die Frage, ob die FDP der Listen­verbindung mit der SVP zustimmt.

    Wie es aussieht, können Gujer, Glarner, Köppel zufrieden sein:

    • Als SVP-Nationalrat Glarner vor vier Jahren die Telefon­nummer einer Lehrerin im Netz veröffentlicht und einen Mob auf sie gelenkt hatte, war die Empörung überall gross, sogar in der eigenen Partei, sodass er sich wenige Tage später entschuldigen musste. Diesmal nicht mehr.
    • In Zürich, Aargau, Baselland und weiteren Kantonen schluckte die FDP mit etwas Protest die Kröte. Und akzeptierte die Listen­verbindung.
    • Bei der Wählerbefragung stellte sich heraus: Hauptärgernis der Schweizer Wählerinnen sind … 58 Prozent: Credit-Suisse-Pleite; 51 Prozent: Klimakleber; 50 Prozent: Gender-Debatte, Wokeness.

    Es geht voran Richtung Amerika. Die USA bleiben eine brauchbare Glaskugel.