Manche Philosophen und Philosophinnen erlangen einen Bekanntheitsgrad, ähnlich dem von Pop-Stars: Die Namen Platon, Arendt oder Wittgenstein kennen wahrscheinlich die meisten. Nicht so den Namen Gottlob Frege. Bekannt ist Frege vor allem innerhalb akademischer Kreise und dort hauptsächlich aufgrund seiner Logik und Sprachphilosophie. Frege hat aber auch eine Theorie des Denkens hinterlassen, die auch ausserhalb akademischer Kreise von Interesse sein dürfte und deren Kern ich in diesem Beitrag kurz darstellen will.
Beginnen wir dazu mit einer Analogie, die in Freges Theorie zwischen dem Denken und Wahrnehmen besteht, und zwar in folgender Hinsicht: Wie der Gegenstand unserer Wahrnehmung nicht unsere Wahrnehmung voraussetzt, setzt auch der Inhalt unseres Denkens nicht unser Denken voraus. Im Gegenteil: Sehen wir bspw. eine Blume oder hören einen Hund bellen, sind die Blume und das Bellen des Hundes die Voraussetzung unserer Wahrnehmung – gäbe es die Blume nicht, könnten wir sie nicht sehen; würde der Hund nicht bellen, könnten wir sein Bellen nicht hören. Analoges gilt laut Frege nun auch für das Denken und dessen Inhalt, den er "Gedanke" nennt: Wenn wir denken, dass Bern die Hauptstadt der Schweiz ist, dann ist dieser Gedanke (bzw. Denkinhalt) die Voraussetzung unseres Denkens desselben – gäbe es nicht den Gedanken, dass Bern die Hauptstadt der Schweiz ist, könnten wir ihn auch nicht denken.
Wie also unsere Wahrnehmung nicht dasjenige produziert, das wir wahrnehmen (sondern es voraussetzt), produziert das Denken nicht dasjenige, das wir Denken – den Gedanken. In Freges Worten: "Das Denken ist nicht als Hervorbringen des Gedankens, sondern als dessen Erfassen anzusehen."
(NS: 223).
Wenn man all dies zum ersten Mal hört, wird man es vielleicht befremdlich finden und sich fragen stellen wie: Ist der Gedanke nicht etwas Psychisches? Und was heisst es dann, dass wir ihn nicht hervorbringen? Nun hält Frege zwar das Denken für etwas Psychisches, aber eben nicht den Gedanken, also nicht den Inhalt des Denkens.
Ich verstehe unter Gedanken nicht das subjektive Tun des Denkens, sondern dessen objektiven Inhalt, der fähig ist, gemeinsames Eigentum von vielen zu sein. (SuB: 32; FN 1)[1]
Der Gedanke ist für Frege nämlich abstrakt, also raum- und zeitlos. "Der Gedanke [...] ist [...] zeitlos, ewig unveränderlich“ (GED: 76)[2]. Deshalb ist der Gedanke auch kein psychisches Phänomen (da diese offensichtlich nicht abstrakt sind).
Was für Gründe hat Frege nun für diese Ansicht? Entscheidend ist hierbei, dass der Gedanke der Wahrheitswertträger ist, also dasjenige, das wahr oder falsch sein kann: Der Gedanke bspw., dass Rom die Hauptstadt der Schweiz ist, ist falsch, derjenige, dass 2 + 2 = 4 ist, hingegen wahr. Wenn wir den einen denken, denken wir also etwas Falsches, und wenn wir den anderen denken, etwas Wahres. Nun ist für Frege Wahrheit zeitlos: Der Gedanke, dass 2 + 2 = 4 ist, ist nicht nur zu einer bestimmten Zeit oder an einem bestimmten Ort wahr – es war schon vor 2 Millionen Jahren wahr, dass 2 + 2 = 4 ist und es wird auch noch in 10 Millionen Jahren wahr sein, oder eben besser: es ist zeitlos wahr.
So ist z.B der Gedanke, den wir im pythagoräischen Lehrsatz aussprachen, zeitlos wahr, unabhängig davon wahr, ob irgend jemand ihn für wahr hält. Er bedarf keines Trägers. Er ist wahr nicht erst, seitdem er entdeckt worden ist, wie ein Planet, schon bevor jemand ihn gesehen hat, mit anderen Planeten in Wechselwirkung gewesen ist. (GED: 69)
Aus der Zeitlosigkeit der Wahrheit folgt auch diejenige des Gedankens bzw. seine Abstraktheit (da was zeitlos ist, auch nicht räumlich ist) und daraus ergibt sich dann die zu Beginn genannte Analogie zur Wahrnehmung: Wenn der Gedanke abstrakt ist, dann kann er nicht entstehen, also kann auch unser Denken ihn nicht erschaffen, sondern setzt ihn eben voraus, so wie unser Sehen einer Blume diese voraussetzt. In dieser Hinsicht ist der Gedanke wie die Blume: Damit wir die Blume sehen können, muss sie auch existieren. Und sie existiert unabhängig davon, ob wir sie sehen oder nicht. Damit wir denken können, dass Bern die Hauptstadt der Schweiz ist, muss dieser Gedanke auch existieren und seine Existenz ist davon unabhängig, ob wir ihn denken oder nicht, denn der Gedanke ist zeitlos.[3]
Trotzdem, fragt man vielleicht weiter: Wie kann das Denken seinen Inhalt voraussetzen? Der Inhalt des Denkens setzt doch das Denken voraus, so wie Bewusstseinsinhalte, z.B. Schmerzen, das Bewusstsein voraussetzen? Aber hier ist das Wort "Denkinhalt" bzw. "Inhalt" etwas irreführend. Frege selbst erklärt das Denken als das Fassen eines Gedankens (GED: 62), wobei es sich um einen bildlichen Ausdruck handelt, der aber nicht von ungefähr kommt:
Der Ausdruck "Fassen" ist ebenso bildlich wie "Bewusstseinsinhalt". Das Wesen der Sprache erlaubt es eben nicht anders. Was ich in der Hand halte, kann ja als Inhalt der Hand angesehen werden, ist aber doch in ganz anderer Weise Inhalt der Hand und ihr viel fremder als die Knochen, die Muskeln, aus denen sie besteht, und deren Spannungen. (GED: 74; FN 6)
Wie ich den Baum nicht dadurch erzeuge, dass ich ihn sehe, und wie ich den Bleistift nicht dadurch entstehen lasse, dass ich ihn ergreife, so bringe ich auch den Gedanken nicht durch Denken hervor. Und noch viel weniger sondert ihn das Gehirn ab, wie die Leber die Galle.
Die Gleichnisse, die den sprachlichen Ausdrücken des Fassens eines Gedankens, des Auffassens, Erfassens, Begreifens, Einsehens, des Capere, Percipere, Comprehendere, Intelligere zu Grunde liegen, geben die Sachlage in der Hauptsache richtig wieder. Das Gefasste, Begriffene ist schon da, und man bemächtigt sich nur seiner. Ebenso ist das, wohinein man schaut, oder das, was man aus einem Gemenge herausliest, schon da und entsteht nicht erst durch diese Tätigkeiten. Freilich hinken alle Gleichnisse irgendwie. Wir sind geneigt, das von unserem Seelenleben Unabhängige als etwas Räumliches, Stoffliches anzusehen, und die eben angeführten Wörter lassen den Gedanken in der Tat so erscheinen. (NS: 149)
Dass der Gedanke der Inhalt unseres Denkens ist, heisst also nicht, dass er sich wortwörtlich innerhalb unseres Denkens oder Bewusstseins befindet. Vielmehr ist der Gedanke in dem Sinn Inhalt unseres Denkens, wie eben ein Stift oder ein anderes Objekt Inhalt unserer Hand ist, wenn wir dieses fassen, wobei hier eben ein wichtiger Unterschied besteht: Wenn wir ein Objekt fassen, kann es als Inhalt unserer Hand verstanden werden, aber dieses Objekt setzt unsere Hand nicht voraus. Ebenso kann man ein Buch, das in einer Schublade liegt, als Inhalt der Schublade ansehen, aber das Buch setzt die Schublade ebenso nicht voraus: Um zu existieren, braucht das Buch nicht in der Schublade zu liegen; muss diese Schublade nicht einmal existieren.
Neben der genannten Analogie zwischen dem Denken und dem Wahrnehmen, gibt es nun auch einen wichtigen Unterschied: Der Gedanke ist nicht sinnlich wahrnehmbar, denn er ist abstrakt – man kann ihn nicht sehen, tasten, schmecken, hören oder riechen. Die Frage, wie wir zu solch einer abstrakten Entität Zugang haben können; wie sie uns überhaupt etwas sein kann, ist nicht ganz unberechtigt. Laut Frege erhält der Gedanke ein sinnliches Gewand, und zwar durch die Sprache:
Der an sich unsinnliche Gedanke kleidet sich in das sinnliche Gewand des Satzes und wird uns damit fassbarer. Wir sagen, der Satz drücke einen Gedanken aus. (GED: 61)
Gedanken werden von Sätzen ausgedrückt (wie bspw. in diesem Text) und erhalten dadurch ein sinnliches Gewand: Den Satz "2 + 2 = 4 " können wir wahrnehmen (sehen; hören; tasten), auch wenn wir den Gedanken, den er ausdrückt, nicht wahrnehmen können. Eine naheliegende Interpretation von Freges Philosophie lautet daher, dass das Denken letztlich einfach ein Sprechen ist und weiter, dass wir in der Sprache den Zugang zu den abstrakten Gedanken finden: Dass wir Gedanken also mittels Sprache fassen können.
Dies war nur ein sehr kurzer Einblick in Freges Theorie des Denkens und allgemeiner in seine Philosophie, der viele Fragen offenlässt. Für interessierte Leser und Leserinnen habe ich am Schluss noch Sekundärliteratur aufgelistet. Vor allem bei Frege bietet es sich allerdings auch an, die Primärtexte zu lesen, da sein Schreibstil sehr zugänglich ist. Für seine Theorie des Denkens eignet sich besonders sein Essay "Der Gedanke. Eine logische Untersuchung" von 1918.
Literaturempfehlung:
Als Einführungen in Freges Denken eignen sich vor allem die folgenden zwei Bücher, die sehr zugänglich geschrieben sind. Allerdings sind sie leider etwas schwer in die Hände zu bekommen.
- Stepanians, Markus: Gottlob Frege zur Einführung, Hamburg: Junius, 2001.
- Mayer, Verena: Gottlob Frege, München: Beck, 1996.
Eine äusserst ausführliche, aber auch anspruchsvollere Darstellung von Freges Philosophie findet sich in Wolfgang Künnes Buch (2010), das auch mehrere Frege-Texte enthält, davon eines der oben erwähnte Aufsatz von 1918.
- Künne, Wolfgang: Die Philosophische Logik Gottlob Freges, Frankfurt am Main: Klostermann, 2010.
Spezifisch zum Themenbereich Denken (und damit verbunden: Urteilen) empfehlen sich auch:
- Pfisterer, Christoph: Wahrheit, Urteilen, Behaupten. Der Urteilsbegriff in der Philosophie Gottlob Freges. University of Zürich, Philosophische Fakultät, 2013.
- Stepanians, Markus: Frege und Husserl über Urteilen und Denken, Paderborn [u. a.]: Schöningh, 1998.
Sehr empfehlenswert ist auch:
- Frege, Gottlob: Ausgewählte Schriften zur Philosophie der Logik und der Sprache. Herausgegeben von Dolf Rami. Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht, 2021
Darin sind viele von Freges Schriften enthalten (ebenfalls der Gedanke von 1918) sowie weitere Literaturempfehlungen.
Literaturverzeichnis
Ich habe die folgenden Abkürzungen verwendet:
GED = Der Gedanke. Eine logische Untersuchung
SuB = Über Sinn und Bedeutung
NS = Nachgelassene Schriften
Frege, G. (1918). Der Gedanke. Eine logische Untersuchung. In Künne, W. (2010). Die Philosophische Logik Gottlob Freges. Vittorio Klostermann GmbH.
Frege, G. (1983). Nachgelassene Schriften, herausgegeben von Hermes, H., Kambartel, F., Kaulbach, F. Zweite, erweiterte Auflage. Felix Meiner Verlag.
Frege, G. (2019). Über Sinn und Bedeutung. Herausgegeben von Uwe Voigt. Reclam Philipp Jun.
[1] Vgl. auch NS: 138; 144; 157-58; 214
[2] Vgl. auch NS: 146
[3] Das wirft natürlich Fragen auf bzgl. Gedanken, deren Wahrheit auf ersten Blick sehr wohl zeitlich scheint, und die deshalb selbst zeitlich scheinen, wie eben der Gedanke, dass Bern die Hauptstadt der Schweiz ist oder der Gedanke, dass heute Montag ist. Diesen Fragen kann ich hier aber nicht nachgehen, da es mir nur um einen kleinen Einblick in Freges Theorie des Denkens geht.