Wir denken im Alltag selten darüber nach, wie es Insekten geht. Die nervige Fliege wird zerklatscht, das Gemüse mit Pestiziden besprüht. Der Konsum von Insektenprodukten wird als ökologische und ethische Alternative zum Fleischkonsum angepriesen. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass der Grossteil der westlichen Welt auf Insektenprodukte umsteigen wird, aber auch heute schon werden Unmassen von Insekten in der Landwirtschaft getötet. Was aber, wenn auch Insekten Schmerz empfinden oder ein Bewusstsein haben? Dann wäre auch eine vegane Ernährung nicht ohne Opfer.
Verspüren Insekten Schmerzen?
Ein Hauptargument für den moralischen Status von Säugetieren, Vögeln und Fischen ist, dass sie Schmerzen verspüren können. Sie besitzen ein uns ähnliches Nervensystem und Schmerzrezeptoren. Wenn Tiere verletzt werden, geben sie Laute von sich und sie vermeiden Situationen, die ihnen Schmerzen zufügen. Kaum ein Biologe würde aussagen, dass Tiere keine Schmerzen verspüren. Bei wirbellosen Tieren war man lange der Ansicht, dass sie keinerlei Schmerz verspüren, da sie keinen Neokortex besitzen, welcher beim Menschen eine entscheidende Rolle in der Schmerzempfindung darstellt.[1] Nur weil wirbellose Tiere diesen nicht haben, heisst es aber nicht zwingend, dass sie keine Schmerzen empfinden. So gibt es wirbellose Tiere, die keinen visuellen Kortex wie der Mensch haben, aber trotzdem sehen können.
Klar ist, dass Insekten auf Stimuli reagieren und sogenannte Nozizeptoren aufweisen.[2] Nozizeptoren sind Neuronen, die Warnsignale zum Gehirn aufgrund eines schmerzenden oder potenziell schmerzenden Stimulus schicken. Bei Säugetieren wird dann ein Schmerzempfinden ausgelöst, um auf die Verletzung aufmerksam zu machen.[3] Bei Insekten sind diese Neuronen anders vernetzt als bei uns, aber sie reagieren auf ähnliche Stimuli, wie hohe Temperaturen oder Verletzungen. Es kann natürlich sein, dass dies eine blosse physische Reaktion ist ohne Empfinden oder Schmerzerfahrung. Es finden sich einige Beispiele, um für diese Interpretation zu argumentieren: Gewisse Insekten essen weiter, während sie selbst gegessen werden oder konsumieren ihre eigenen Organe.[4] Neuere Experimente scheinen jedoch in eine andere Richtung zu deuten.
Eine Möglichkeit, Schmerzerfahrung von einem reinem Reflex zu unterscheiden ist, sich situationsabhängig für den Schmerz entscheiden zu können. So nehmen wir den Stich der Nadel in Kauf, wenn wir beim Arzt sind, oder halten beim Tätowieren still, obwohl es sehr weh tut. In einem Experiment wurden künstliche Blumen erhitzt, welche dann von den Bienen gemieden wurden.[5] Wurde aber eine genügend hohe Belohnung auf die heissen Blumen getan, landeten die Bienen auf ihnen trotz ihres Unbehagens. Wenn Insekten rein mechanisch reagieren würden, könnten sie situationsabhängig den Reflex ignorieren? Solche und weitere Experimente scheinen unsere bisherigen Ansichten über Insekten in Frage zustellen.
Sind Insekten philosophische Zombies?
Auch wenn Insekten Schmerz verspüren, hiesse das nicht automatisch, dass sie ein Bewusstsein besitzen. Gewisse Menschen verspüren aufgrund eines medizinischen Zustandes keinen Schmerz und trotzdem haben sie ein Bewusstsein. Ein bewusstseinsfähiges Wesen zu sein, heisst, es gibt da jemanden, der die Welt erlebt. Wir würden ganz anders mit jemandem umgehen, wenn wir wüssten, dass diese Person keinerlei innere Welt hat und es im Innern «dunkel» ist. Dies ist nach Chalmers ein philosophischer Zombie. Sie reagieren äusserlich genau wie wir, aber es ist alles reiner Reflex und es geht keine subjektive Erfahrung im Innern einher. Es könnte sein, dass Insekten die philosophischen Zombies der Natur sind.[6] Sie verhalten sich, als ob sie Schmerzen empfinden, bewegen sich in der Welt und reagieren auf Stimuli, aber im Innern bleibt es leer.
Von aussen ist es unmöglich zu bestimmen, ob Insekten – oder andere Menschen – sicher ein Bewusstsein haben. Mögliche äussere Indikatoren können Verhaltensweisen sein, die unnütz sind und scheinbar keinem Ziel dienen, ausser dass sie Spass machen. Wenn ich ein philosophischer Zombie ohne innere Welt wäre, wieso würde ich aus Spass zuhause zu Musik tanzen? Solches Spielverhalten ist in einem Experiment auch bei Hummeln beobachtet worden. So rollten sie immer wieder Holzkugeln herum, obwohl sie keinerlei Belohnung erhielten und genügend Futter zur Verfügung hatten.[7] Den Forschern fiel keine andere Erklärung ein, als dass es den Hummeln Spass machte.
Ein moralisches Dilemma im Trillionenbereich?
Falls Insekten Schmerz verspüren und/oder bewusstseinsfähige Wesen sind, könnte uns das in ein ziemliches moralisches Dilemma stürzen. Durch Pestizide, Züchtung, Land-wirtschaft und Klimawandel wäre die Anzahl Insekten, welche routinemässig von uns verletzt werden, im Trillionenbereich.[8] In der Tierethik nimmt man grundsätzlich an, dass Quantität eine Rolle spielt und wenn man zwischen dem Schaden Vieler und dem Schaden Weniger entscheiden muss, man sich für die Wenigen entscheiden soll. Es scheint absurd, das Leben von Insekten über das Leben von Säugetieren zu stellen. Eine Möglichkeit, dies zu umgehen, wäre, Insekten nicht als Individuuen zu sehen, sondern als verschiedene Superorganismen und Kolonien[9].
Eine weitere Möglichkeit ist, dass Insekten mit Erhaltung eines moralischen Status nicht automatisch gleiche Behandlung bekommen würden. Es macht Sinn, verschiedenen Wesen unterschiedliche Rechte und Status zuzuschreiben.[10] Eine Interessenbasierter Ansatz wiederum favorisiert Wesen mit höheren Interessen bei Entscheidungen. Da Menschen zukunftsorientiert sind, Träume und Pläne haben, bedeutet ein schmerzloser Tod die Vernichtung all dieser Pläne und ist daher nicht harmlos.[11] Für Tiere aber, die keine zukunftsorientierten Interessen haben, wäre ein schmerzloser Tod unproblematisch. Es kann ebenfalls dafür argumentiert werden, dass Insekten keine moralischen Ansprüche an uns stellen, während «höhere» Tiere dies tun.[12] Solche Theorien legen die Möglichkeit dar, dass wir bei einem Einschluss von Insekten in die moralische Gemeinschaft unsere Art des Umgangs mit ihnen nicht drastisch ändern müssten. Aber man sollte wohl nicht zum Spass der Spinne die Beine ausreissen.
[1] Vgl. Elwood, R.W. (2011), "Pain and suffering in invertebrates?" in Institute of Laboratory Animal Resources Journal. 52 (2), S. 177.
[2] Vgl. Mikhalevich, Irina/ Powell, Russell (2020), “Minds without spines: Evolutionarily inclusive animal ethics.”, in Animal Sentience 29(1), 10.
[3] Vgl. Elwood, R.W. (2011), "Pain and suffering in invertebrates?" in Institute of Laboratory Animal Resources Journal. 52 (2), S. 175.
[4] Vgl. Mikhalevich, Irina/ Powell, Russell (2020), “Minds without spines: Evolutionarily inclusive animal ethics.”, in Animal Sentience 29(1), S. 10.
[5] Vgl. Chittka, Lars (2023), “The Inner Lives Of Insects.” in Scientific American 329, S. 30-1.
[6] Vgl. Mikhalevich, Irina/ Powell, Russell (2020), “Minds without spines: Evolutionarily inclusive animal ethics.”, in Animal Sentience 29(1), S. 8.
[7] [7] Vgl. Chittka, Lars (2023), “The Inner Lives Of Insects.” in Scientific American 329(1), S. 30.
[8] Vgl. Monsó, Susana/ Osuna-Mascaró, Antonio,(2020), “Problems with basing insect ethics on individuals’ welfare.”, in Animal Sentience 29(8), S. 3.
[9] Vgl. ebd., S. 4.
[10] Vgl. Mikhalevich, Irina/ Powell, Russell (2020), “Minds without spines: Evolutionarily inclusive animal ethics.”, in Animal Sentience 29(1), S. 14.
[11] Vgl. ebd., S. 15.
[12] Vgl. Carruthers, Peter (2007), “Invertebrate Minds: A Challenge for Ethical Theory”, in The Journal of Ethics 11, S. 297.
Literaturverweise
Monsó, Susana/ Osuna-Mascaró, Antonio,(2020), “Problems with basing insect ethics on individuals’ welfare.”, in Animal Sentience 29(8). DOI: 10.51291/2377-7478.1589
Mikhalevich, Irina/ Powell, Russell (2020), “Minds without spines: Evolutionarily inclusive animal ethics.”, in Animal Sentience 29(1). DOI: 10.51291/2377-7478.1527
Elwood, R.W. (2011). "Pain and suffering in invertebrates?" in Institute of Laboratory Animal Resources Journal. 52 (2), S. 175–84. doi:10.1093/ilar.52.2.175
Chittka, Lars (2023), “The Inner Lives Of Insects.” in Scientific American 329(1), S. 30-1. Online Version: https://www.scientificamerican.com/article/do-insects-feel-joy-and-pain/
Carruthers, Peter (2007), “Invertebrate Minds: A Challenge for Ethical Theory”, in The Journal of Ethics 11, S. 275–297. https://link.springer.com/article/10.1007/s10892-007-9015-6