Camus gehört zu den Autoren, dessen Worte mich auf eine besondere Art und Weise affektieren. Auf der einen Seite bewundere ich die Schönheit ihrer Form und die Klarheit dessen, was sie zum Ausdruck bringen – auf der anderen Seite betrübt mich ihren Inhalt. Ich bewundere den Philosophen, der es geschafft hat, seine eigene Stimme zu finden und damit eine Welt von innen nach aussen zu tragen – ich bemitleide den Mann, dessen Leben mit so viel Elend besetzt ist, dass diese Welt mit dem absurden Bild des Sisyphos verglichen werden muss.
Albert war noch keine 2 Jahre alt, als sein Vater im Zuge des Ersten Weltkrieges von der französischen Armee eingezogen wurde und in einem Lazarett in der Bretagne verstarb. Seine Mutter, welche die Familie anschliessend unter grösster Not alleine durchbringen musste, war Analphabetin, sein Bruder sprachbehindert. Mit 17 Jahren, mitten in der Vorbereitung für das hart erarbeitete Abitur (das Baccalauréat), erkrankte Albert an Tuberkulose und wurde damit schneller wieder einer sich langsam stabilisierenden Welt entrissen, als diese sich hätte formen können. Zum Zeitpunkt des Sisyphos-Essays war Camus bereits von einer schmerzhaften Ehe geschieden, die Krankheit war ihm über die körperlichen Leiden hinaus ein Hindernis in seiner beruflichen Entwicklung geworden und die politische Stimmung begann zunehmend einen immer wie stärkeren braunen Ton anzunehmen. Es verwundert somit nicht, dass "Der Mythos des Sisyphos" mit den berühmten Worten beginnt
Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord. Sich entschieden, ob das Leben es wert ist, gelebt zu werden, heisst auf die Grundfrage der Philosophie zu antworten (5).
Ich kann mich glücklich genug schätzen, dass sich mir die Frage, ob das Leben wert sei, gelebt zu werden, als solche nicht stellt. Meine Perspektive auf das Leben beginnt nicht mit einem Gefühl der Absurdität – im Gegenteil, ich bin dankbar für jeden Moment und versuche selbst im Leiden1 noch die Klarheit zu wahren Gedanken an Selbstmord als rein psychologisches Problem zu betrachten.
Mit den folgenden Zeilen versuche ich mich also nicht einem allgemeinen philosophischen Problem zu nähren – wie es Camus Formulierung nahelegt; mich interessieren vielmehr die Umstände, welche den Autor zu diesem Problem führten. Ich gehe davon aus, dass die Camu’sche Frage nach dem Wert des Lebens immer im Zusammenhang mit der individuellen Lebenserfahrung der Person steht, die sie aufwirft. Auf einer abstrakten Ebene im Sinne einer Grundfrage DER Philosophie, so werde ich argumentieren, ist das Problem bedeutungslos.
I.
Erst mit der Vollendung des letzten Kapitels vom Sisyphos veröffentlichte Camus seinen Essay unter dem Namen, den er heute trägt. Ursprünglich entwarf er ihn als "Das Absurde" oder "Abhandlungen über das Absurde". Ein Arbeitstitel, welcher den Hauptbegriff des Essays zum Ausdruck bringen sollte. Der Mensch wird in eine Welt geboren, welche ihm durch die vielen kleinen und grossen Illusionen des Alltags bzw. der Metaphysik vertraut gemacht wird. Er steht jeden Morgen auf, verrichtet seine Arbeit, freut sich über das neue Auto oder ist traurig wegen einer nicht funktionierenden Partnerschaft und glaubt dabei an etwas, vor dem all das (s)einen Sinn ergibt.
Nun kommt es zu einem Bruch mit letztgenanntem Glauben und der Mensch befindet sich plötzlich in einer ihm fremden Welt. "Eine Welt, die man – selbst mit schlechten Gründen – erklären kann, ist eine vertraute Welt. Aber in einem Universum, das plötzlich der Illusionen und des Lichts beraubt ist, fühlt der Mensch sich fremd" (17-18). Der Camu’sche Mensch gerät in eine existenzielle Krise und es stellt sich ihm die Frage, ob das Leben überhaupt wert sei, gelebt zu werden. Wieso überhaupt aufstehen? Wozu Leben, wenn doch alles sinnlos ist? Kurz – seine Beziehung zur Welt wird absurd. "Diese Entzweiung zwischen dem Menschen und seinem Leben, zwischen dem Handelnden und seinem Rahmen, genau das ist das Gefühl der Absurdität" (18).
II.
Die Art, wie sich das Problem des Selbstmordes in dem von Camus beschriebenen Menschen also zu formen beginnt, ist durch das alles andere überschattende Gefühl der existenziellen Unsicherheit – der Absurdität. Dies ist der Ausgangspunkt, von dem aus Camus zu denken beginnt. "Die erste und im Grunde einzige Voraussetzung für meine Untersuchung ist, gerade das, was mich niederdrückt, festzuhalten […]". Das Ziel, welches er dabei verfolgt, besteht nicht etwa darin, etwas gegen das unangenehme Gefühl an sich, welches ihn bis zur äussersten Verzweiflung – bis zur Frage nach dem Selbstmord – treibt, zu unternehmen, sondern vielmehr zu lernen, mit ihm zu leben. "[…] Wichtig ist nicht", wie er meint, "gesund zu werden, sondern mit seinem Leiden zu leben." (51).
Dadurch wird Camus Schaffen von einem durchklingenden Mollton dominiert. Einen Ton, welchen er unter dem Leitsatz "der Kunst kann nicht besser gedient werden als durch negatives Denken" (..) explizit als Tonart seiner Philosophie bestimmt. Das Negative ist scharf gestellt – während das Positive erst auf den zweiten Blick sichtbar wird. An erster Stelle steht der unausweichliche Tod und daraus resultiert die Frage: Worin besteht der Sinn einer solchen Existenz?
III.
Camus Absurdität entsteht also aufgrund der unausgesprochenen Annahme, dass Du, als Lebender, in der Position seist, nach dem Sinn dieses Lebens zu fragen – und aufgrund der enttäuschenden bzw. nicht vorhandene Antwort dieses infrage zu stellen. Aber ist es in Wahrheit nicht genau umgekehrt? Ist es nicht das Leben selbst, welches die Fragen nach Sinn stellt und wir sind lediglich diejenigen, die sie zu beantworten haben? Fragt nicht schon Zarathustra "Warum?" und erhält als einzige Antwort; "Du fragst warum? Ich gehöre nicht zu denen, welche man nach ihrem Warum fragen darf.“2
Viktor Frankl, der österreichische Arzt und Psychotherapeut, hat in einem seiner Vorträge3 folgende Analogie aufgestellt: Die Frage nach einem allgemeinen Sinn des Lebens müsste uns vorkommen wie etwa die Frage eines Reporters, welcher einen Schach-Meister fragt: "Nun sagen Sie, was ist der beste Zug im Schach?"
Es ist nicht möglich, diese Frage unabhängig von einer bestimmten Partie und einer bestimmten Stellung zu beantworten; und so verhält es sich auch mit der Frage nach dem Sinn und Wert des Lebens. Es gibt keinen allgemeinen personen- und kontextunabhängigen Sinn des Lebens. Sinn existiert immer nur im Besonderen – im Kontext der Lebensumstände einer spezifischen Person.
Ich kann den Sisyphos-Essay nicht lesen, ohne mir dabei zu denken; wenn Du feststellst, dass Deine Beziehung zum Leben absurd ist, d. h. dass Deine Erwartung im Widerspruch mit Deiner Erfahrung stehen, dann liegt es doch an Dir, dies zu ändern! Du kannst entschieden, wie Du die Aufgaben, die Dir das Leben auferlegt, bewältigst. Der Autor jedoch, dessen Worte ich hier vor mir habe, scheint diese grundlegende Erfahrung genau umzukehren. Anstatt das absurde Gefühl als das zu betrachten, was es meiner Argumentation nach tatsächlich ist, – nämlich als eine zu bewältigende Aufgabe – kapituliert er vor ihm und konstruiert sich eine dazu passende Realität.
IV.
Es ist diese verkehrte Annahme, welche den absurden Menschen zur Verzweiflung treibt – und in dessen Umkehrung sich dementsprechend auch schon die Lösung verbergen würde. Es ist nicht nötig, das alltägliche Leben, Freundschaften, Familie, Arbeit und all die anderen Dinge, welche das Leben des Camu’schen Menschen vor seiner Krise auszufüllen vermochten, zu einer blossen Illusion zu degradieren. Das Gefühl der Absurdität ist nicht Erkenntnis, sondern eben Gefühl!
Und dennoch will ich, um damit den Kreis zu schliessen, die ursprüngliche Bewegung würdigen, welche mit der Frage nach dem Selbstmord beginnt und mit dem glücklichen Sisyphos – oder besser, mit dem glücklichen Camus – endet. Die Erkenntnis und Akzeptanz der Absurdität befreiten den Camu’schen Menschen, sich von ihr verstecken zu müssen. Er lernt, "für nichts" zu arbeiten und zu schaffen, "[…] in Ton formen, zu wissen, dass sein Werk keine Zukunft hat, sein Werk in einem Tag zerstört sehen und wissen, dass das im Grunde keine andere Bedeutung hat als das Bauen für Jahrhunderte." Dies ist die schwierige Weisheit, durch die Camus den Sisyphos – und damit sich selbst – von einer existenziellen Sinn-Krise zu befreien versucht. Wie dieser Versuch tatsächlich aussieht und ob es überhaupt sinnvoll ist, diese existenzielle Sinnkrise am Beispiel des Sisyphos darzustellen, sind Fragen für die nächste Auseinandersetzung.
Literatur:
Camus, Albert: “Der Mythos des Sisyphos”, original “Le Mythe de Sisyphe” ed., 1942: Rohwolt, 2013.
[1] Welches ich damit in keiner Weise mit dem von Camus vergleichen will.
[2] Friedrich Nietzsche: "Also sprach Zarathustra". Kritische Studienausgabe, S.282.
[3] Viktor E. Frankl: "Über den Sinn des Lebens". Beltz, 2021.