Was ist Psychoanalysieren?

Entwicklung einer textwissenschaftstheoretischen Definition

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    1.Zum Einstieg

    Wer danach fragt, was Psychoanalysieren ist – etwa in Kontrast zum psychologischen Analysieren –, fragt nach dem Wesen der Psychoanalyse als wissenschaftliche Praxis. Begriffslogisch betrachtet verweist der Terminus Psychoanalysieren, also das Analysieren der Psyche bzw. des Psychischen, auf jene wissenschaftliche Praxis, bei der ein Gegenstand mit den Mitteln der Psychoanalyse analysiert, d.h. untersucht oder beforscht wird (Greiner 2012).

    Was auch immer dieser Gegenstand oder Objektbereich sein mag, den es zu beforschen gilt, mit psychoanalytischen Mitteln wird er wissenschaftlich untersucht. Mit der Bezeichnung Mitteln sind hier die zahlreichen methodischen Möglichkeiten gemeint, die mit den unterschiedlichen psychoanalytischen (psychodynamischen resp. tiefenpsychologischen) Theoriegebäuden gegeben sind, wie z.B. klassische Psychoanalyse/Freud, Selbstpsychologie/Kohut, Strukturale Psychoanalyse/Lacan, Individualpsychologie/Adler, Analytische Psychologie/Jung, Transaktionsanalyse/Berne etc.

    Insofern das Psychoanalysieren psychoanalytische Theoriegebäude, die freilich nicht das Geringste mit naturwissenschaftlichen Satzsystemen zu tun haben (Greiner 2016, 2017), als methodische Mittel einsetzt, lässt sich behaupten, dass psychoanalytische Methoden auf spezifische Textkulturen rekurrieren. Und was kennzeichnet den Gegenstand des Psychoanalysierens? Auch dieser ist Text, gesprochener und/oder geschriebener, verbaler (sprachlicher) und/oder nonverbaler (gestischer, mimischer, ikonischer etc.), je nachdem, welche Textart bzw. Textsorte eben untersucht wird: Therapieklient*innen-Text, biografischer Text, Interview-Text, literarischer Text etc.

    Somit lässt sich festhalten: Psychoanalysieren ist zunächst dadurch charakterisiert, dass sowohl Gegenstand/Objekt als auch Verfahren/Methode Text ist. Ergo können wir sagen:

    Beim Psychoanalysieren wird das psychoanalytische Untersuchungsobjekt unspezifischer Text mithilfe der psychoanalytischen Untersuchungsmethode spezifische Textkultur textwissenschaftlich untersucht.

    Wer Text mithilfe von Text untersucht, bewegt sich im Feld der Hermeneutik, der methodisch-systematischen Erfassung von Sinnzusammenhängen. Sehen wir uns zuerst an, wie sich das allgemeine Funktionsprinzip der Hermeneutik darstellt und richten wir danach unsere Aufmerksamkeit auf das spezielle hermeneutische Funktionsprinzip des Psychoanalysierens.

     2.Das allgemeine Funktionsprinzip der Hermeneutik

    Unter dem wissenschaftskulturellen Grundbegriff Hermeneutik versteht man im Allgemeinen die Theorie, Methodik und Praxis des sinnverstehenden Textforschens (Jung 2002, Lamnek 1995, Mayring 1990). Das basale Funktionsprinzip des hermeneutisch-sinnverstehenden Textforschens stellt sich dabei folgendermaßen dar:

    Etwas mit Etwas in Zusammenhang bringen, um Etwas als Etwas verstehbar zu machen.

    (Jung 2002)

    Schrittweise versuchen wir uns dieses allgemeine Funktionsprinzip verständlich zu machen:

    Text (Etwas1) mit Kontext (Etwas2) in Zusammenhang bringen, um Text-Teile (EtwasT/1) als Sinneinheiten des Kontexts (EtwasS/2) verstehbar zu machen.

    Dieses allgemeine Funktionsprinzip der Hermeneutik lässt sich grafisch folgendermaßen darstellen:

    B1

    3.Das spezielle hermeneutische Funktionsprinzip des Psychoanalysierens

    Im Kontext des Psychoanalysierens konkretisiert sich dieses allgemeine hermeneutische Funktionsprinzip dergestalt, dass

    1.) der Text als unspezifischer Text bezeichnet wird (z.B. Therapieklient*innen-Text, biografischer Text, Interviewtext, literarischer Text etc.), weil im Prinzip jedes beliebige Textobjekt psychoanalysiert werden kann und dass  

    2.) der Kontext stets eine spezifische Textkultur ist (z.B. klassische Psychoanalyse/Freud, Selbstpsychologie/Kohut, Strukturale Psychoanalyse/Lacan, Individualpsychologie/Adler, Analytische Psychologie/Jung, Transaktionsanalyse/Berne etc.).

    Damit stellt sich das spezielle hermeneutische Funktionsprinzip des Psychoanalysierens folgendermaßen dar: 

    Unspezifischen Text (Etwas1) mit einer spezifischen Textkultur (Etwas2) in Zusammenhang bringen, um Teile des unspezifischen Texts (EtwasT/1) als Sinnelemente der spezifischen Textkultur (EtwasS/2) verstehbar zu machen.

    Dieses spezielle hermeneutische Funktionsprinzip des Psychoanalysierens lässt sich grafisch folgendermaßen darstellen:

    2

    4. Psychoanalysieren textwissenschaftstheoretisch definiert

    Vor dem Hintergrund der bis dato geführten Diskussion gewinnen wir nun die folgende textwissenschaftstheoretische Definition des Psychoanalysierens:

    Psychoanalysieren ist eine variantenreiche Praxis der Textintegration – oder konkreter gefasst – Psychoanalysieren ist die textwissenschaftliche Praxis des Integrierens von unspezifischem Text in spezifische Textkulturen, um spezifisches Textwissen über den unspezifischen Text zu generieren.

    (Greiner 2012)

    Zur besseren Nachvollziehbarkeit verschmelzen wir nun das spezielle hermeneutische Funktionsprinzip des Psychoanalysierens von vorhin mit der soeben präsentierten textwissenschaftstheoretischen Definition:

     Unspezifischen Text (Etwas1) in spezifische Textkulturen (mit Etwas2) dergestalt integrieren (in Zusammenhang bringen), dass dadurch Teile des unspezifischen Texts (um EtwasT/1) als Sinnelemente der spezifischen Textkulturen (als EtwasS/2) lesbar werden (verstehbar zu machen).

     In konkreten psychoanalytischen Untersuchungszusammenhängen könnten sich dabei folgende exemplarische Erkenntniskonstellationen ergeben:

    Beispiel 1)

    Das Artikulationsgeschehen eines bestimmten Therapieklienten (unspezifischer Text) in die Psychoanalyse nach Sigmund Freud (spezifische Textkultur) dergestalt integrieren, dass dadurch eine bestimmte verbale und nonverbale Artikulationsfigur in diesem Geschehen (ein bestimmter Teil des unspezifischen Texts) beispielsweise als „Übertragungsakt“ im Sinne der Psychoanalyse (ein bestimmtes Sinnelement der spezifischen Textkultur) lesbar wird.

    Beispiel 2)

    Die biografische Erzählung einer bestimmten Person (unspezifischer Text) in die Transaktionsanalyse nach Eric Berne (spezifische Textkultur) dergestalt integrieren, dass dadurch eine bestimmte lebensgeschichtliche Episode in dieser Erzählung (ein bestimmter Teil des unspezifischen Texts) beispielsweise als „durch eine Trübung des Erwachsenen-Ich-Zustands bedingte Erfahrung“ im Sinne der Transaktionsanalyse (ein bestimmtes Sinnelement der spezifischen Textkultur) lesbar wird.

     Beispiel 3)

    Das Mitteilungsmaterial einer Auskunftsperson im Rahmen eines Interviews (unspezifischer Text) in die Individualpsychologie nach Alfred Adler (spezifische Textkultur) dergestalt integrieren, dass dadurch eine bestimmte Meinungsäußerung in diesem Material (ein bestimmter Teil des unspezifischen Texts) beispielsweise als „überkompensatorische Reaktion“ im Sinne der Individualpsychologie (ein bestimmtes Sinnelement der spezifischen Textkultur) lesbar wird.

     Beispiel 4)

    Die fiktionale Geschichte eines populären Fantasy-Romans (unspezifischer Text) in die Analytische Psychologie nach C.G. Jung (spezifische Textkultur) dergestalt integrieren, dass dadurch die figurale Darstellung der Protagonistin dieser Geschichte (ein bestimmter Teils des unspezifischen Texts) beispielsweise als „archetypisches Bild des weiblichen Helden“ im Sinne der Analytischen Psychologie (ein bestimmtes Sinnelement der spezifischen Textkultur) lesbar wird.


    Literatur

    Greiner, K. (2012). Psychoanalytische Forschung: Ein zeitgemäßer Bestimmungsversuch wissenschaftstheoretischer Art (S. 13-24). In: Greiner, K.; Jandl, M. J.: Das Psycho-Text-Puzzle und andere Beiträge zu Psychotherapiewissenschaft und Philosophie. SFU Verlag, Wien.

    Greiner, K. (2016). Wenn der Penis auf dem Kopf sitzt: psychoanalytische Symboldeutung und logopoietische Hermeneutik. When the penis sits on the head: psychoanalytical symbol interpretation and logo-poetical hermeneutics. Psychotherapie-Wissenschaft, Jahrgang 6, Heft 1, 30-40.

    Greiner, K. (2017). Wie man Poppers philosophischen Knüppel in einen Blumenstrauss für die Psychoanalyse verwandelt: ein psychotherapiewissenschaftstheoretischer Essay. How to turn Popper’s philosophic baton against psychoanalysis into a flower bouquet: an epistemological essay on psychotherapy. Psychotherapie-Wissenschaft, Jahrgang 7, Heft 2, 77-83.

    Jung, M. (2002). Hermeneutik zur Einführung. Junius Verlag, Hamburg.

    Lamnek, S. (1995). Qualitative Sozialforschung. PVU Beltz, Weinheim.

    Mayring, P. (1990). Einführung in die qualitative Sozialforschung. PVU Beltz, Weinheim.