Verhängnisvolle Fürsorge

Eine Einsendung im Rahmen des Essaywettbewerbs zum Thema "Selbstmord"

    «Glaubst du, dass du trotz aller Herausforderungen jemals in der Lage sein wirst, dein Leben in vollen Zügen zu geniessen?», fragte ich meine Schwester Malin mit zerbrechlicher Stimme, welche in die regnerische Nacht hineinhallte. Die darauffolgende Stille liess mich erschaudern. Ich hatte das Gefühl, je länger ich auf ihre Antwort wartete, desto unruhiger wurde ich. Nur das strahlende Grün des über uns thronenden Baumes konnte mich beruhigen.

    «Jemals», murmelte sie, «ist ein grosses Wort. Keiner kann…» Plötzlich unterbrach sie ihren angefangenen Satz. Kann es sein, dass sie etwas schwer belastet und sie deshalb so zögerte?

    «Weisst du», sagte ich nun in ihre Richtung, «es ist nicht deine Schuld, dass du dich so fühlst.»

    In der Ferne hörten wir die Sirenen eines Krankenwagens. Es wurde immer lauter, bis es das Rauschen der Regentropfen übertönte. «Malin, deine Depression ist zwar eine Krankheit, aber sie macht dich nicht schwach.» Meine Schwester lehnte sich daraufhin gegen den Baum und liess sich von dem Regen durchnässen. «Hanna, ich würde mich nicht so depressiv fühlen, wenn ich nicht ständig krank werden würde. Ich kann es nicht mehr ertragen, Mama ständig besorgt zu sehen.»

    Langsam dreht ich meinen Kopf zu Malin und sah wie ihr Tränen über das Gesicht strömten. Um Malin zu trösten, legte ich meine zittrige Hand auf ihre vernarbten Hände. Doch sie steckte schnell ihre Hände in ihre Jackentaschen. «Malin, du kannst doch nichts dafür, dass du immer krank wirst.»

    «Hanna», zischte Malin mit wütenden Augen, «sei doch einfach still. Du wirst mich nie verstehen. Ich bin nicht normal wie du. Selbst die Ärzte haben Schwierigkeiten meinen blöden Körper zu verstehen.»

    Verlegen wandte ich meinen Blick von Malin ab, als uns plötzlich ein lautes Hupen erschreckte. Ein blauer VW Golf raste mit hoher Geschwindigkeit auf uns zu. Malin schrie erschrocken auf und duckte sich neben dem Baum, während ich versuchte, sie aus der Gefahrenzone zu zerren. Zu unserer Überraschung hielt der blaue VW Golf vor uns an und eine Person mit Krankenschwesterkleidung stieg aus dem Wagen. Es war Mama.

    «Mama, du hast uns einen riesigen Schrecken eingejagt», rief Malin aus. Mama reagierte nicht auf ihre Worte, sondern starrte uns nur an. Ich trat einen Schritt auf sie zu und fragte besorgt: «Mama, ist alles in Ordnung?» «Hanna, wie kannst du bei diesem Regen draussen mit Malin stehen? Ich habe euch doch gesagt, dass ich euch pünktlich vor dem Krankenhaus abholen werde.»

    «Wir dachten, wir warten hier auf dich, weil es im Eingangsbereich sehr voll war», erklärte ich. Mama schien mir nicht mehr zuzuhören. Sie stiess mich beiseite und packte Malin am Arm, zerrte sie zum Auto, während Malin panisch versuchte unsere Situation zu erklären. «Mama, Hanna hat nichts falsch gemacht. Ich habe gesagt, dass wir draussen auf dich warten sollen, um etwas frische Luft zu schnappen.» Mama drehte sich abrupt zu mir um und sah mich enttäuscht an.

    «Hanna, wenn ich nicht da bin, bist du für Malin verantwortlich. Sie ist deine grosse Schwester.» Ich lenkte meinen Blick auf die offenstehende Autotür und antwortete meiner Mutter mürrisch: «Mama, ich habe verstanden. Es tut mir leid.» Genervt stieg ich ins Auto ein und während der gesamten Rückfahrt gab niemand ein Wort von sich. Zuhause angekommen, klingelte Mamas Einsatzhandy. «So ein Mist», fluchte Mama vor sich hin. «Geht ihr beide schon mal vor. Angeblich werde ich im Krankenhaus benötigt.» «Wirst du lange weg sein?, fragte Malin. «Ich weiss es nicht, mein Schatz, aber falls etwas sein sollte, ruft mich jeder Zeit an.» Dabei sah sie mich an und ich versicherte ihr, dass ich mich um Malin kümmern werde. Mit einem zuversichtlichen Lächeln verabschiedete sich Mama von Malin und bat mich, sie bis zum Auto zu begleiten.

    Ich hatte dabei ein mulmiges Gefühl. Auf eine Standpauke hatte ich im Moment keine Lust. Draussen angekommen, seufzte Mama tief. «Hanna, es tut mir leid für vorhin. Ich gerate immer in Panik, wenn ich daran denke, wie deine Schwester wieder krank wird wegen solch einer Kleinigkeit und …», sie brach mitten im Satz in Tränen aus. «Schon gut Mama. Ich kann es gut nachvollziehen.» Mama wischte sich ihre Tränen weg und sagte: «Ich bin so stolz auf dich.» Erneut klingelte ihr Einsatzhandy.

    «Ich glaube, du musst jetzt dringend los.»

    Am nächsten Morgen wurde ich von einem lauten Husten geweckt. Zunächst dachte ich, dass der Lärm von draussen kam, aber als ich meine Augen öffnete, sah ich Malin auf der anderen Seite des Zimmers, die so heftig hustete, dass ihr Mund leicht mit Blut bedeckt war. Entsetzt sprang ich von meinem Bett auf und begab mich zu ihr. «Herrgott Malin. Alles wird gut. Ist Mama schon zuhause? Soll ich vielleicht besser einen Krankenwagen rufen?» Mit geröteten Augen sah mich Malin an und würgte den Satz, «Bitte keinen Krankenwagen», hervor. Aus allen Wolken gefallen, stürmte ich in Mamas Zimmer. Als ich ihr Zimmer betrat, stand sie vor unserem Medikamentenschrank. «Mama, Malin muss stark husten und …» «Ich weiss mein Schatz. Ich kümmere mich darum.» «Mama sollen wir Malin nicht lieber ins Krankenhaus bringen? Sie hat immerhin Blut gehustet.»

    Mama legte ihre Hand auf meine Schulter und verlangte von mir, dass ich mich endlich beruhigte.

    «Hanna, wie gesagt, ich werde mich um Malin kümmern. Um dich zu schützen, wäre es besser, wenn du für einige Tage im Gästezimmer schlafen würdest. Malin hat sich wahrscheinlich aufgrund des gestrigen Regens erkältet.» Sofort fühlte ich mich schuldig für Malins Zustand. Wären wir doch gestern nicht in diesem blöden Regen gestanden. «Hannah, es ist nicht deine Schuld.» Mit diesen Worten verliess Mama zügig das Zimmer.

    Die Tage vergingen und Malins Husten wurde schlimmer. Ich sah, wie sie mit jedem Atemzug kämpfte, wie ihre Augen vor Schmerz glänzten. Mama wirkte nervös und gestresst, ständig bemüht, die Situation zu kontrollieren. Aber je mehr sie versuchte, die Fassade aufrechtzuerhalten, desto deutlicher wurde mir bewusst, dass alles aus dem Ruder lief. «Mama, es könnte sich hierbei um eine schwerwiegende Lungenentzündung handeln, lass uns Malin sicherheitshalber ins Krankenhaus bringen, damit sie gründlich untersucht wird.»

    «Nein», hörte ich Mama flehend antworten. «Die, im Krankenhaus, werden Malin nicht ernst nehmen. Sie kann nicht ins Krankenhaus. Nicht jetzt.» Die Worte trafen mich wie ein eiskalter Schauer. Malin kämpfte sich auf ihrem Bett hoch, ihr Gesicht von Schmerzen und Anstrengung gezeichnet. Sie blickte mich elendig an. «Hanna, ich werde bald wieder gesund sein. Bitte hab Geduld. Wenn es mir in den nächsten drei Tagen nicht besser gehen sollte, können wir immer noch ins Krankenhaus fahren.»

    Nach diesen Worten nickte ich stumm und wollte ihr Zimmer verlassen, als ich hörte, was Malin vor sich hin flüsterte: «Vielleicht wäre es besser, wenn ich nicht mehr da wäre. Ich bin so eine Last für euch alle.» Bevor ich auf ihre Worte reagieren konnte, fiel die Tür ins Schloss und mir schossen unverzüglich die Tränen in die Augen. Die Worte, die sie gesagt hatte, hallten in meinem Kopf wider.

    «Wenn es mir in den nächsten drei Tagen nicht besser geht… Vielleicht wäre es besser, wenn ich nicht mehr da wäre… » Ich spürte ein herzreissendes Gefühl der Sorge und Unsicherheit in mir aufkeimen. Wie sollte ich in der Zwischenzeit ruhig bleiben, während Malin kämpfte?

    Die nächsten Tage vergingen in quälender Langsamkeit. Malin blieb weiterhin in ihrem Zimmer, umgeben von Medikamenten, aber der Kampf, den sie führte, spiegelte sich in ihren Augen wider. Jeder Hustenanfall, jede schwache Regung liess mein Herz vor Besorgnis zusammenziehen. Mama hatte sich von der Arbeit freigenommen, um sich um Malin zu kümmern. Man konnte ihr die Erschöpfung deutlich ansehen, dennoch bewahrte sie ihre Ruhe und kümmerte sich liebevoll um Malin. Wie konnte Mama so ruhig bleiben, während ich innerlich bebte?

    Natürlich gab ich auch mein Bestes, um Malin zu unterstützen. Ich brachte ihr Essen, half ihr beim Gehen und verbrachte stundenlang schweigend an ihrer Seite. Die Unsicherheit zwischen uns hing wie eine schwere Wolke. Trotz meiner grossen Sorge konnte ich nicht übersehen, wie Malins Gesundheitszustand sich langsam zu verbessern begann. Ihr Husten wurde weniger häufig, und sie schien nicht mehr so sehr um Luft zu ringen. Dies waren klare Anzeichen dafür, dass sie auf dem Weg der Besserung war.

    Mit jedem Tag, der verging, konnte ich sehen, wie Malins Kraft zurückkehrte. Ihre Augen, die einst von Müdigkeit und Schmerz gezeichnet waren, begannen wieder zu strahlen. Es waren kleine Fortschritte, aber sie waren Zeichen der Hoffnung und des Kampfgeistes, den meine Schwester in sich trug.

    Auf meine Bitte hin brachte Mama Malin vorsichtshalber ins Krankenhaus, wo sie einer gründlichen Untersuchung unterzogen wurde. Die Spezialisten konnten keine spezifische Ursache feststellen, informierten uns jedoch, dass Malin eine akute Lungenentzündung entwickelt hatte.

    Nach der Untersuchung kehrten wir nach Hause zurück und wurden von Malins Klassenkameradin Ellie überrascht, die vor unserer Tür stand. "Schön, dich wiederzusehen", begrüsste sie Malin herzlich. Meine Schwester sah sie etwas überrascht an und fragte: "Warum bist du hier?" Ellie antwortete:

    «Herr Lawrence hat mich gebeten, dir das verpasste Unterrichtsmaterial zu bringen, damit du nicht zu viel versäumst.» Mama fand schnell ein nettes Wort: «Das ist aber sehr aufmerksam von dir. Möchtest du reinkommen, Ellie?»

    Ellie lächelte höflich, lehnte aber ab: «Danke, Frau Garzia, aber ich habe noch einige Erledigungen zu machen.» Mama nickte freundlich und ging ins Haus. Sobald Mama ausser Sichtweite war, packte Malin Ellie an den Schultern. «Wie sieht es mit deiner Geburtstagsfeier aus? Hast du bereits alle eingeladen? Ich habe meine Einladung jedenfalls noch nicht erhalten», fragte Malin mit einem spöttischen Grinsen.

    Ellie senkte ihren Blick und begann nervös mit ihren Schuhen Löcher in unseren Rasen zu bohren.

    «Malin, nimm es mir bitte nicht übel, aber ich habe dir keine Einladung gegeben, weil du... nun ja, du kommst gerade aus dem Krankenhaus, und ich mache mir Sorgen, dass dir auf meiner Feier etwas zustossen könnte...»

    Malins Gesicht verfinsterte sich, und man konnte förmlich sehen, wie sie innerlich brodelte. Ellie schien ihre Reaktion nicht zu bemerken und wandte sich stattdessen an mich: «Hanna, du kannst, wenn du willst morgen vorbeikommen. Wir sind...» «Wieso sollte Hanna kommen? Sie ist doch zwei Jahrgänge unter uns und kennt niemanden aus unserer Klasse", unterbrach Malin sie scharf.

    «Malin, es tut mir wirklich leid. Verzeih mir bitte. Ich mache mir nur Sorgen um dich», sagte Ellie sichtlich nervös. «Dann verzieh dich, Ellie», entgegnete Malin wütend und stürmte ins Haus. «Sie fühlt sich von allem ausgeschlossen, verstehst du? Das ist der Grund für ihre Reaktion.» Ellie sah mich überrascht an und ihre Wangen färbten sich leicht rot. «Hanna, du weisst, ich musste es ihr sagen. Ich wollte nicht, dass sie es von jemand anderem erfährt», verteidigte sie sich. Ich seufzte und nickte zustimmend. «Ja, ich verstehe, aber ich denke, du hättest es anders formulieren können und mich nicht während ihrer Anwesenheit einladen sollen»

    «Könntest du mir bitte erzählen, was mit Malin los ist?», fragte mich Ellie. Obwohl ich wusste, dass Ellie eine enge Freundin von Malin war, hatte deren Freundschaft aufgrund von Malins seltsamem Verhalten und häufiger Abwesenheit gelitten. Natürlich war mir bewusst, dass es Malins Entscheidung sein sollte, ob sie ihren Freunden von ihrer Situation berichtet oder nicht. In meinen Augen schien es jedoch, als könnte Malin die Unterstützung ihrer Freunde gut gebrauchen.

    Wir setzten uns vor der Haustür und begannen, über Malin zu sprechen. Als ich fertig erzählt hatte, bemerkte ich Tränen in Ellies Augen. «Ich hatte keine Ahnung, wie sehr sie leidet», sagte sie. «Jetzt weisst du es, und vielleicht könntest du hin und wieder versuchen, sie aufzumuntern. Malin mag dich wirklich sehr, und eure Freundschaft bedeutet ihr viel.» Ellie überlegte einen Moment und antwortete dann: «Ich muss das alles erst einmal verarbeiten, aber ich verspreche dir, dass ich öfter vorbeikommen werde.» «Das freut mich zu hören», erwiderte ich. Ohne viel Zeit zu verschwenden, nahm ich das Unterrichtsmaterial von Ellie entgegen und bedankte mich erneut bei ihr für das nette Gespräch, während ich ins Haus lief.

    «Mein Gott, wie viele Bücher hat sie mitgebracht? Ich werde mir gleich den Rücken brechen», dachte ich schmunzelnd vor mich hin, während ich auf dem Weg zu unserem Zimmer war. Als ich gerade dabei war, in unser Zimmer zu treten, stellte ich fest, dass die Tür verschlossen war. «Malin, mach bitte auf.»

    Es regte sich nichts. «Malin, bist du sauer auf mich?», fragte ich vergeblich. Langsam begann sich eine Nervosität in mir auszubreiten. Durch das Schlüsselloch spähte ich ins Zimmer, das überraschend dunkel war, obwohl draussen die Sonne schien. «Malin, bitte öffne die Tür. Das ist wirklich nicht mehr lustig», flehte ich sie an.

    Panisch rannte ich ins Schlafzimmer meiner Mutter, um den Ersatzschlüssel zu holen. Aus der Küche hörte ich Mamas Stimme. «Hanna, was ist los? Warum schreist du so rum?» Ich ignorierte sie und versuchte verzweifelt, die Tür zu öffnen. Doch vor lauter Aufregung zitterten meine Hände so sehr, dass es mir nicht gelang, das Schloss zu öffnen. Plötzlich stand meine Mutter neben mir. «Schatz,

    was tust du da?» «Mama, Malin hat die Tür abgeschlossen, ich komme nicht rein und...,» stammelte ich. Mama nahm mir den Schlüssel ab und öffnete die Tür. Als sie aufging, hatte ich das Gefühl, ins Nichts zu blicken. Mama schaltete das Licht in unserem Zimmer ein. Bevor ich sehen konnte, wo Malin war, hörte ich einen schrillen Schrei von meiner Mutter.

    Ich folgte dem Blick meiner Mutter, welcher sie zum Schreien brachte und fand Malin mit schäumendem Mund auf dem Bett liegen. Mamas Augen fielen auf Malins leere Medikamentenbox, die auf dem Boden lag. «Sie hat alle Medikamente auf einmal genommen. Es ist eine Überdosis, Hanna. Rufe sofort den Krankenwagen», sagte Mama mit panischem Ton. Obwohl ich ihre Worte hörte, schienen meine Beine wie festgefroren zu sein. Alles, was ich tun konnte, war, Malin anzustarren. Wie konnte sie so etwas tun? Das konnte doch kein Unfall sein. Wollte sie sich wirklich ihr Leben nehmen?

    «Hanna, gib mir sofort dein verdammtes Handy!», schrie Mama mich an. Ich reichte es ihr. Alles, was danach geschah, fühlte sich an, als würde die Zeit sich in Zeitlupe bewegen. Ich konnte nur noch wahrnehmen, wie Mama die Anweisungen des Notarztes befolgte, während ich einfach dastand und Malins leblosen Körper enttäuscht anstarrte.

    Im Krankenhaus wurde Malin der Magen ausgepumpt, und sie wurde auf der Intensivstation behalten. Mama und ich sassen im leeren Wartezimmer und hofften verzweifelt auf gute Nachrichten. Nach einer gefühlten Ewigkeit kam der behandelnde Arzt von Malin ins Wartezimmer. «Ich habe gute Neuigkeiten. Ihre Tochter ist jetzt in einem stabilen Zustand. Sie ist im Moment nicht ansprechbar, also müssen Sie sich gedulden», teilte er uns mit.

    «Wissen Sie, wie es zu dieser Überdosis kam?», fragte ich leise. Der Arzt sah mich tröstend an. «Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder hat sie versehentlich ihre normalen Medikamente in einer zu hohen Dosis genommen, oder sie hat die Absicht gehabt, sich das Leben zu nehmen.»

    Nach diesen Worten herrschte Stille im Raum. «Haben Sie als Familie bemerkt, dass Malin in letzter Zeit suizidale Gedanken hatte?», erkundigte sich der Arzt. Ich nickte, während Mama die Frage verneinte. Der Arzt sah uns überrascht an. «Wir werden mehr wissen, wenn Malin wieder bei Bewusstsein ist. Dennoch werde ich sicherstellen, dass sie einen Psychologen aufsucht. Das könnte ihr helfen.»

    «Aber meine Malin braucht so etwas nicht. Sie hat doch mich.», entgegnete Mama. «Ich möchte später nochmals mit ihnen über die Medikamente sprechen, die Malin einnimmt.»

    «Selbstverständlich.» Der Arzt nickte kurz und verliess das Wartezimmer. «Mama, ist das dein ernst? Malin zeigt eindeutig Anzeichen von Suizidalität, und du leugnest es?», fragte ich fassungslos.

    «Hanna, wie kannst du wissen, was Malin fühlt? Du kannst nicht in ihren Kopf sehen», erwiderte Mama ruhig. «Du darfst nicht die Augen davor verschliessen, Mama. Malin hat oft das Gefühl, eine Last für uns zu sein, und sie wünscht sich manchmal, nicht mehr hier zu sein», rief ich verzweifelt aus.

    «Erhebe deine Stimme nicht, Hanna», ermahnte mich Mama. Wut durchströmte mich, als ich ihre Worte hörte. Wie konnte sie nur so blind sein? «Ich werde dem Psychologen die gesamte Situation erklären und ihm sagen, dass Malin keine psychischen Probleme hat», sagte Mama entschlossen, während ich sie entsetzt anblickte.

    «Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn Malin heute nicht überlebt hätte.» Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, traf mich eine schmerzhafte Ohrfeige. Erschrocken starrte ich meine Mutter an.

    «Wie kannst du so etwas sagen, Hanna?» «Wenn du Malin keine professionelle Hilfe zukommen lässt, dann wird dies die Realität sein. Heute konnten wir es noch verhindern. Aber was machen wir, wenn sie es erneut versucht, und wir beide nicht da sind?»

    «Hanna, ich möchte dich jetzt nicht mehr sehen. Wenn du Malin besuchen willst, komm zuerst zur Vernunft», sagte Mama und ging davon und liess mich allein im Wartezimmer zurück.

    Am nächsten Tag, auf dem Heimweg von der Schule, erreichte mich eine Nachricht von Mama. Darin stand, dass Malin das Bewusstsein erlangt hatte und ich sie besuchen konnte. «Hey Hanna, was

    machst du hier?», fragte mich Ellie, als ich mein Handy beiseitelegte und sie vor mir stehen sah, umgeben von anderen Freunden. «Ich komme gerade von der Schule. Warum fragst du?», erwiderte ich.

    «Ich dachte, du wärst bei Malin im Krankenhaus», sagte sie. «Woher weisst du, dass Malin im Krankenhaus ist?», fragte ich überrascht. «Deine Mutter hat Herrn Lawrence informiert, und wir haben ihn gebeten, gemeinsam Malin zu besuchen. Zuerst war sie verärgert, dass die ganze Klasse in ihrem Zimmer aufgetaucht ist und hat uns verscheucht. Sie hat nur mir Herrn Lawrence gesprochen. Ich glaube, wir konnten ihr das Gefühl geben, dass wir hinter ihr stehen und sie sich auch auf uns verlassen kann.»

    «Wann wart ihr bei ihr?», erkundigte ich mich. «Heute Morgen um 9 Uhr. Deine Mutter war auch da, deshalb hat es mich überrascht, dass du nicht da warst», antwortete Ellie. Warum hatte Mama mir nicht früher Bescheid gegeben? War sie immer noch wütend auf mich?

    Genervt verdrehte ich die Augen. «Ist zwischen dir und Malin etwas vorgefallen, dass du heute nicht aufgetaucht bist?» «Ich kann nicht ständig in der Schule fehlen, nur weil Malin im Krankenhaus ist», sagte ich schnippisch. Ellie sah mich überrascht an. «Tut mir Leid, aber ich muss gehen. Bis später, Ellie.» Ohne noch ein weiteres Mal nach Ellie zu sehen, eilte ich direkt zum Krankenhaus.

    Vor Malins Zimmer stand Mama mit dem Arzt. «Frau Garzia, ich frage mich, wer ihnen dieses Medikament für Malin verschrieben hat? Können sie mir den Namen des Arztes oder der Praxis mir zukommen lassen? Besten Dank.» Der Arzt erblickte mich, wie ich auf sie zukam. «Du kannst reingehen, deine Schwester ist in bester Verfassung.» Mama drehte sich zu mir um und sagte: «Denk daran, was wir gestern besprochen haben.» «Jaja hab´s verstanden.» Ich nahm einen tiefen Atemzug und betrat den Raum.

    Das Zimmer war äusserst sauber und ordentlich eingerichtet. Überall, wo ich hinsah, fand ich Blumen vor. Vermutlich haben Malins Klassenkameraden diese mitgebracht. «Hanna?», rief Malin, die aufrecht im Bett sass. «Willst du die ganze Zeit dort stehenbleiben?», fragte sie mich mit einem Lächeln. Irgendetwas fühlte sich seltsam an. Ich konnte Malins Worte nicht ernst nehmen. Ich spürte, dass sie mir etwas vorspielte. Ohne um den heissen Brei zu reden, fragte ich sie direkt: «Hast du versucht, dir das Leben zu nehmen?»

    Erstmals herrschte absolute Stille im Raum. «Du weisst, dass es ein Versehen war», sagte Malin schliesslich. «Lüg mich nicht an, Malin», zischte ich sie an. «Wenn es wirklich ein Versehen war, warum war dann die Tür abgeschlossen? Und warum waren die Rollläden heruntergelassen? Ich habe sie definitiv nicht heruntergelassen.» Malin antwortete mir ruhig: «Hanna, du hast vergessen, die Rollläden hochzuziehen, als wir ins Krankenhaus gefahren sind. Erinnerst du dich?»

    Ein Gefühl der Unruhe breitete sich plötzlich in mir aus. Das konnte doch nicht sein, oder? Ich war mir sicher, die Rollläden hochgezogen zu haben. «Du hast recht. Ich habe die Tür abgeschlossen, weil ich sauer auf dich war. Du wurdest zu Ellies Geburtstagsfeier eingeladen, ich jedoch nicht, weil ich ja die

    «Spezielle» bin», gestand Malin genervt und verdrehte dabei die Augen.

    «Hör auf, mich zu verwirren. Warum hast du deine Medikamente alle auf einmal genommen? Wolltest du...?», mitten im Satz brach ich ab, als ich Malins emotionslosen Gesichtsausdruck ansah. «Hanna, vertraust du mir?», fragte sie. Ich schwieg. «Es war ein Versehen. Wie oft soll ich es dir noch sagen?», fuhr sie fort und stand dabei auf, um auf mich zu zukommen. «Aber wenn ich darüber nachdenke, wäre es vielleicht besser gewesen, wenn ich es doch nicht überlebt hätte.» Kaum hatte sie den Satz beendet, hallte der Klang meiner Ohrfeige durch den Raum. Meine Hände zitterten unaufhörlich, während sich Malin schmerzhaft die Wange hielt.

    «Ich kann nicht verstehen, was in dir vorgegangen ist, aber Selbstmord ist niemals die Antwort. Damit zeigst du nur, dass du aufgibst. Du bist doch eine Kämpferin. Hast du gedacht, dass Mama und ich nach deinem Selbstmord normal weiterleben könnten? Du magst denken, dass du uns nicht mehr zur Last fallen würdest, aber in Wirklichkeit hinterlässt du uns nur Schmerz und Leid. Und dieses Gefühl lässt sich nicht einfach abschütteln, Malin. Du musst dringend professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.»

    «Das kannst du vergessen, Hanna. Ich habe der Psychologin abgesagt», sagte sie bestimmt. Ihre Worte trafen mich wie ein Schock. «Was?», brachte ich überrascht heraus. «Du hast mich richtig verstanden. Ich brauche keine Hilfe. Zwar werde ich immer wieder körperlich krank, aber psychisch bin ich gesund», erklärte sie. «Aber vor ein paar Wochen hast du mir doch selbst gesagt, dass du das Gefühl hast, eine Depression zu haben.»

    «Hanna, könnten wir über etwas anderes sprechen?», sagte Malin plötzlich. Ich starrte sie verdutzt an.

    «Meinst du das ernst?», platze es aus mir heraus. Malin sah mich weiterhin ohne jede Emotion an. Langsam bewegte sie sich zum Fenster und sagte, ohne sich zu mir umzudrehen: «Wenn du nicht aufhören kannst, über dieses Thema zu sprechen, dann möchte ich, dass du gehst.» Überwältigt von Gefühlen brach ich in Tränen aus. «Das ist nicht fair. Ich will doch nur das Beste für dich», schluchzte ich.

    In einem Anfall von Wut stürzte ich auf Malin zu, die ihrerseits laut zu schreien begann. Fachpersonal eilte ins Zimmer, gefolgt von Mama und dem Arzt, doch sie schafften es nicht, uns voneinander zu trennen. Alles, was ich in diesem tumultartigen Moment herausbringen konnte, waren Worte wie: «Gib es zu, Malin. Du lügst. Du Lügnerin. Warum tust du dir das an? Hör auf.»

    Vor dem Krankenzimmer erhielt ich eine Standpauke von Mama. Ehrlich gesagt hörte ich ihr kaum zu, da ich mit meinen Gedanken ganz wo anders war. Als Mama endlich mit ihrer Standpauke fertig war, liess sie mich im Gang stehen und betrat das Zimmer, in dem Malin war.

    «Hanna, richtig?», fragte mich plötzlich die Krankenschwester, die mich zuvor aus dem Zimmer herausgezerrt hatte. Beschämt nickte ich ihr zu. Die Krankenschwester überreichte mir eine Visitenkarte. «Das ist die Karte der Psychologin, die vorher Ihre Schwester besucht hatte. Wenn Sie besorgt um Ihre Schwester sind, dann könnten Sie sich vielleicht an sie wenden.» Mit einem bemitleidend Lächeln verschwand die Krankenschwester wieder im Zimmer zu Malin. Überrascht betrachtete ich die Visitenkarte genauer und tatsächlich, es war die der Psychologin.

    Ich wollte keine Zeit verschwenden und begab mich an einen ruhigen Ort, um ungestört mit der Psychologin zu telefonieren. Beim ersten Versuch ging sie nicht ans Telefon. Ich versuchte es mehrmals, bis sie schliesslich abhob. «Annette Vineyard hier. Wie kann ich Ihnen helfen?», sagte sie in einem angenehmen Tonfall.

    «Ich bin Hanna Garzia. Ich wollte mich wegen meiner Schwester Malin Garzia erkundigen», begann ich zu erklären. Es herrschte einen Moment Stille, bevor die Psychologin antwortete: „Nun ja, Ihre Schwester hat sich der aufgebotenen Therapie entzogen, und ich kann leider nicht viel tun, da es keine eindeutigen Anzeichen dafür gibt, dass sie wirklich suizidal ist und…»

    «Bitte geben Sie nicht auf. Ich bin fest davon überzeugt, dass sie professionelle Hilfe benötigt», unterbrach ich sie verzweifelt.

    «Frau Garzia, ich verstehe Ihre Verzweiflung, aber da Malin 18 Jahre alt ist, kann nur sie entscheiden, ob sie zu uns in die Sprechstunden kommen möchte», erklärte die Psychologin. Verzweifelt lief ich hin und her. «Kann ich einen Termin für sie vereinbaren und in der Zwischenzeit versuche ich Malin zu überreden?»

    «Leider sind wir momentan komplett ausgebucht. Das Einzige, was ich noch tun kann, ist, Malin auf die Warteliste zu setzen», sagte sie bedauernd. «Wie lange würde sie warten müssen?», fragte ich zögerlich. «Schwer zu sagen, Frau Garzia. Es könnte drei bis sechs Monate dauern.» Als ich das hörte, fühlte es sich an, als würde der Raum um mich herumdrehen. Drei bis sechs Monate waren viel zu lange. Was, wenn in der Zwischenzeit etwas mit Malin passiert? Ich schüttelte den Kopf, um mich wieder zu konzentrieren. «Setzen Sie sie bitte auf die Warteliste», antwortete ich ohne zu zögern.

    «Frau Garzia, wenn Sie feststellen sollten, dass es Ihrer Schwester extrem schlecht geht, können Sie sich jederzeit an den SOS-Ärzteverband wenden. Die werden Ihnen sofortige Hilfe bieten», sagte die Psychologin und diktierte mir deren Nummer. Ich speicherte sie in meinem Handy ab, bedankte mich bei der Psychologin und beendete schliesslich das Gespräch.

    Nachdem Malin einige Tage im Krankenhaus verbracht hatte, wurde sie entlassen. Seit ihrer Rückkehr nach Hause lag eine spürbare Spannung zwischen uns. Wir sprachen kaum miteinander und wenn doch, waren es oberflächliche Gespräche über belanglose Themen. Selbst Mama war besorgt über unser distanziertes Verhalten zueinander. Sie konnte nicht ahnen, dass ich geduldig auf den richtigen Moment wartete, um Malin von der Notwendigkeit einer Therapie zu überzeugen. Bis dahin blieb mir nichts anderes übrig, als geduldig abzuwarten.

    Die Tage vergingen und wurden zu Wochen, die schliesslich zu Monaten wurden, doch zwischen uns änderte sich nichts. An einem Abend lag ich auf dem Bett und schaute meine Lieblingsserie auf meinem Laptop an, als Malin ihn einfach zuklappte und mich grinsend ansah. «Spinnst du?», fuhr ich sie ärgerlich an.

    «Ich wollte dich fragen, ob du zu Ellies Geburtstagsfeier kommen willst», sagte sie. Misstrauisch fragte ich: «Warum interessiert es dich?» «Du bist doch auch eingeladen», entgegnete sie mir. «Ja und?

    Das heisst nicht automatisch, dass ich hingehen werde», erwiderte ich ihr.

    «Komm schon, lass uns gemeinsam Spass haben», versuchte sie mich zu überreden. «Weiss Mama davon?», fragte ich skeptisch. Malin verdrehte die Augen. «Natürlich nicht. Sie würde es mir verbieten.»

    «Also erwartest du von mir, dass ich dir helfe, damit ich Ärger bekomme, wenn etwas schiefgeht? Nein danke», sagte ich entschlossen und öffnete wieder meinen Laptop, um meine Serie weiterzusehen. Doch Malin entriss mir den Laptop. «Hanna, bitte», begann sie zu schmollen. «Mein Gott, okay.»

    Unten angekommen, trat Mama uns entgegen und musterte uns skeptisch an. «Wo wollt ihr so spät hin?», fragte sie. Als ich ihr antworten wollte, liess mich Malin nicht zu Wort kommen und antwortete:

    «Wir wollen Schlittschuh laufen gehen.» Mama zog eine Augenbraue hoch und beobachtete uns misstrauisch, gab jedoch schliesslich nach. «Also gut, ihr könnt gehen, aber nicht, bevor du deinen Multisaft getrunken hast.»

    Malin verzog angewidert das Gesicht. «Mama, seit Wochen zwingst du mir das Zeug auf. Der Geschmack wird nicht besser. Es schmeckt, als ob ich eine Metallstange ablecken würde.»

    «Wenn ihr gehen wollt, dann müsst ihr das trinken», beharrte Mama. Malin seufzte und zwang sich, den Saft zu trinken. Mama reichte mir ebenfalls einen Becher, den ich unauffällig in einen nahegelegenen Blumentopf leerte.

    Als wir auf Ellies Geburtstagsfeier ankamen, sah ich überall Menschen, die ich nicht kannte. Einige Gäste tanzten wild auf der Tanzfläche, während andere sich an der Bar betranken. Ich fühlte mich völlig fehl am Platz. Ellie, leicht schwankend, kam auf uns zu, umarmte uns und zog Malin mit sich weg. Ich stand verloren da und suchte nach Malin, aber sie war nicht zu finden. Um die Zeit totzuschlagen, setzte ich mich in eine ruhige Ecke und scrollte auf meinem Handy herum.

    Nach einer endlosen Zeit kam Malin schliesslich auf mich zu, und man konnte förmlich den Alkoholgeruch an ihr wahrnehmen. Ihr Blick war ängstlich. «Was ist los?», fragte ich besorgt. «Hanna, ich war gerade auf der Toilette und mein Urin ist blutig», stammelte sie vor sich hin. Ich verzog das Gesicht. «Ich weiss, ich bin angetrunken, aber ich habe es gesehen. Ich habe solche Angst. Mir ist, als ob ich mich übergeben müsste.» Ich legte meine Hand auf ihre Stirn und spürte, wie heiss sie war. Hatte Malin Fieber? Was zum Teufel passiert hier?

    «Malin, lass uns nach Hause gehen», sagte ich und griff ihr unter die Arme. Doch bevor wir gehen konnten, erbrach sie sich auf den Boden. Alle Gäste starrten uns an, und plötzlich waren wir der Mittelpunkt der Party. Ellie kam eilig auf uns zu und sah uns besorgt an. «Malin, ist alles in Ordnung? Soll ich einen Krankenwagen rufen?», fragte sie. Ich nickte ihr zu, und sie holte sofort Hilfe. Malin erbrach sich mehrmals, und zwischen den Anfällen entschuldigte sie sich weinend bei Ellie, dass sie ihre Party ruiniert hatte.

    Während Malin im Krankenhaus behandelt wurde, rief ich Mama an, um ihr mitzuteilen, dass wir uns dort aufhielten. Als Mama eintraf, schrie sie mich an, weil wir sie belogen hatten. Sie trichterte mir erneut, dass ich für Malin verantwortlich sei und zeigte sich sehr enttäuscht von mir. Ich konnte kaum ein Wort herausbringen. Mir war nur wichtig zu erfahren, dass es Malin gutging.

    Nach einer langen Wartezeit konnten wir endlich zu Malin. Sie lag beschämt im Bett und vermied unseren Blick. Bevor ich etwas sagen konnte, betrat die Ärztin das Zimmer. «Es ist gut, dass ich euch alle hier beisammen habe. In Bezug auf Malins Beschwerden konnten wir feststellen, dass sie etwas zu viel Alkohol getrunken hat und sich deshalb übergeben musste. Bezüglich des Bluts im Urin konnten wir keine genauen Ursachen finden. Es könnte eine Erkrankung im ableitenden Harnweg oder in der Niere sein. Es könnte sich auch um einen Tumor handeln. Im Moment sieht jedoch alles stabil aus. Sobald dein Fieber abgeklungen ist, kannst du nach Hause gehen», erklärte die Ärztin.

    «Also habe ich eine neue Krankheit, sie vermutlich unheilbar ist?», fragte Malin niedergeschlagen.

    «Genaueres können wir im Moment noch nicht sagen. Nach weiteren Untersuchungen werden wir mehr wissen», erklärte die Ärztin und verliess den Raum.

    Nachdem die Ärztin den Raum verlassen hatte, herrschte für einen Moment Stille. Malin sass auf ihrem Krankenhausbett, ihr Blick war in Gedanken versunken. Ich setzte mich neben sie und berührte sanft ihre Hand. «Malin», begann ich zögerlich, «es wird alles gut werden. Die Ärzte werden herausfinden, was mit dir los ist, und wir werden dich unterstützen, egal was passiert.» Sie sah mich und Mama mit emotionslosen Augen an. Ich konnte keinen Funken Hoffnung in ihrem Blick erkennen.

    «Ich weiss nicht, Hanna», sagte sie leise. «Es ist beängstigend, nicht zu wissen, was mit meinem Körper schon wieder passiert.» Ich spürte ihre Verzweiflung. Ich drehte mich zu Mama und fragte sie, ob sie uns kurz alleine lassen konnte. Sie nickte kurz und verliess mit wässrigen Augen das Zimmer.

    «Du bist stark, Malin», flüsterte ich sanft, meine Hand fest um ihre gelegt. «Du hast bereits so viel durchgestanden, und wir werden diese Herausforderung gemeinsam bewältigen. Ich liebe dich über alles, Schwesterherz.» Sie lächelte schwach und drückte meine Hand dankbar und flüsterte: «Ich dich auch.» «Du weisst, wenn du jemals von deinen Gefühlen und Gedanken überwältigt wirst, kannst du immer noch einen Psychologen aufsuchen», fuhr ich fort. «Du kannst dort dein Herz ausschütten, und sie werden dir zuhören und versuchen dir zu helfen. Glaubst du, das könnte dir guttun?» «Ich werde es mir überlegen, kannst du Mama reinschicken, wenn du raus gehst.» Ich nickte und verliess das Zimmer.

    Einige Tage vergingen. Malins Fieber war mittlerweile gesunken und trotz intensiver Untersuchungen konnte keine Ursache für das Blut im Urin gefunden werden. Spät am Abend rief Mama mich an.

    «Hanna, könntest du Malin bitte abholen? Meine Schicht dauert länger als erwartet», sagte sie erschöpft. «Ja, natürlich», antwortete ich. Hanna, denk daran, einen Regenschirm für Malin mitzunehmen. Bleibt nicht zu lange draussen im Regen», ermahnte mich Mama. «Ich hab verstanden», versicherte ich ihr, bevor ich mich auf den Weg machte, um Malin abzuholen.

    Auf dem Weg zum Krankenhaus geriet der Bus in einen Stau. Ungewöhnlicherweise waren zu dieser Zeit mehrere Polizeifahrzeuge auf der ansonsten leeren Strasse unterwegs. Ihre Sirenen wurden immer lauter und übertönten schliesslich das Rauschen der Regentropfen. Das Blaulicht erhellte die gesamte Strasse. Etwas genervt schaute ich aus dem Fenster und fragte mich, wie lange es wohl dauern würde, bis die Polizei das Verkehrschaos in den Griff bekam. Während ich geduldig wartete, schrieb ich Malin, dass ich mich aufgrund der Verzögerung im Krankenhaus etwas verspäten würde.

    Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte ich endlich das Krankenhaus. Ich eilte zu Malins Zimmer. Als ich die Tür öffnete, fand ich es leer vor. Verwirrt schaute ich mich um. Wo konnte sie sein? Eine Krankenschwester ging am Zimmer vorbei. «Entschuldigung, wissen Sie, wo meine Schwester ist?», fragte ich sie besorgt. Sie sah mich überrascht an. «Ihre Schwester hat sich bereits vor zwei Stunden ausgecheckt.» Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Warum hatte sie sich selbst entlassen?

    Ich versuchte Malin anzurufen, doch sie nahm nicht ab. Ohne zu zögern rannte ich aus dem Krankenhaus und machte mich auf den Weg zu Ellies Haus. An ihrer Haustür klingelte ich hektisch. Ellie öffnete. «Hanna, ist alles in Ordnung? Du bist ja klitschnass.»

    «Ist Malin bei dir?», fragte ich aufgeregt. «Nein, ich habe sie seit der Geburtstagsfeier nicht mehr gesehen», antwortete Ellie. Innerlich bebend fragte ich mich, wo sie sein könnte. Die vorbeifahrenden Polizeiwagen mit heulenden Sirenen machten es mir schwer, einen klaren Gedanken zu fassen.

    «Hanna, komm doch erstmal rein», schlug Ellie vor. «Nein, ich weiss nicht, wo Malin ist. Ich muss sie finden. Hätte ich bloss nicht den Bus genommen», murmelte ich verzweifelt vor mich hin. Plötzlich stand Ellies Mutter neben ihrer Tochter und sah mich besorgt an.

    «Hanna, Liebes, ist alles in Ordnung?», fragte sie sanft. Die Tränen brachen aus mir heraus. Ellies Mutter nahm mich in den Arm. Im Hintergrund hörte ich den Fernseher im Wohnzimmer. «Es ist mit Zugverspätungen zu rechnen», sagte eine Nachrichtensprecherin. «Laut der Polizei hat sich heute Nacht eine Person vor dem Zug geworfen. Unsere Gedanken sind bei den Hinterbliebenen …»

    In Ellies Haus herrschte eine gespenstische Stille, während die Nachrichten im Fernsehen weiter über den tragischen Vorfall berichteten. Tränen liefen über mein Gesicht, und meine Gedanken rasten. Wo konnte Malin sein? War sie in Gefahr? Wird von ihr in den Nachrichten berichtet? Die Gewissheit, dass sie sich in dieser dunklen Nacht draussen aufhielt, schnürte mir die Kehle zu.

    Ellies Mutter drückte mich enger an sich und versuchte, mich zu beruhigen. «Hanna, wir müssen die Polizei anrufen und ihnen mitteilen, dass Malin vermisst wird», schlug sie vor, während Ellie besorgt zuhörte.

    Zitternd griff ich nach meinem Handy und wählte die Notrufnummer. Der Polizeibeamte am anderen Ende der Leitung hörte sich geduldig meine verzweifelte Erklärung an und versprach, sofort Massnahmen zu ergreifen.

    Die Minuten vergingen wie Stunden, während wir auf Neuigkeiten warteten. Schliesslich klingelte das Telefon, und ich griff sofort danach, um den Anruf entgegenzunehmen. Der Polizist teilte mir mit, dass sie eine Suche nach Malin eingeleitet hätten und versicherte mir, dass sie alles tun würden, um sie zu finden.

    Während wir weiterhin auf Nachrichten von der Polizei warteten, spürte ich die unerträgliche Unsicherheit, die mich quälte. Die Gedanken an Malins Wohlbefinden liessen mich nicht los. Ich betete inständig, dass sie bald gefunden und in Sicherheit gebracht werden würde.

    In den folgenden Stunden durchkämmte die Polizei die Umgebung und setzte alles daran, Malin zu finden. Die Ungewissheit frass an mir, und die Minuten vergingen quälend langsam. Schliesslich kam der ersehnte Anruf, doch die Nachricht, die ich erhielt, traf mich wie ein Schlag ins Gesicht.

    Der Polizeibeamte am anderen Ende der Leitung sagte mit ernster Stimme: «Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir Malin gefunden haben. Sie wurde heute Nacht von einem Zug erfasst.»

    Mein Herzschlag setzte einen Moment aus, und ich konnte die Worte kaum fassen. Ellie und ihre Mutter sahen mich besorgt an, während die Worte des Polizisten wie ein schmerzhafter Echo in meinen Ohren nachhallten. Ich wollte schreien, weinen, fliehen vor dieser schrecklichen Wahrheit. Malin, meine geliebte Schwester, war nicht mehr da.

    In einem Nebel aus Trauer und Schock verliess ich Ellies Haus. In der Ferne hörte ich ihre Rufe, aber ich ignorierte sie. Die Strassen waren nass vom Regen, der immer noch unaufhörlich fiel, als ob der Himmel selbst um Malin weinte. Ich konnte nicht aufhören zu zittern, als ich mich auf den Weg nach Hause machte, wo die Leere ihres Fehlens mich erdrückte. Zuhause angekommen, kam mir Mama entgegen. Sie sah mich überrascht an. «Wo ist Malin?» Bei dieser Frage brach ich in Tränen aus und überbrachte ihr die traurige Nachricht. Sie packte mich zornig am Kragen. «Was hast du getan?»

    Mamas Worte durchdrangen mich wie spitze Messer. Der Schmerz in ihren Augen spiegelte meinen eigenen wider. «Es war nicht meine Schuld, Mama», wimmerte ich zwischen meinen Tränen hindurch. Doch meine Worte verhallten in der kalten Stille des Hauses, die nur noch von den Regentropfen durchbrochen wurde, die gegen die Fensterscheiben prasselten.

    In einem Versuch, meine Mutter zu beruhigen und gleichzeitig meine eigene Qual zu lindern, begann ich zu erzählen. Ich erzählte von Malins Kampf, von ihrer Einsamkeit, von ihrer Verzweiflung, die sie so meisterhaft verborgen hatte. Ich sprach über wie verzweifelt ich versucht hatte, ihr zu helfen. Aber egal wie sehr ich versuchte, meine Handlungen zu erklären, es schien, als ob meine Worte in einem endlosen Abgrund verschwanden.

    Mama gab mir überraschend eine Ohrfeige und trat zurück. Ihr Blick war leer, als würde sie in die Dunkelheit ihrer eigenen Gedanken versinken. Dann, ganz plötzlich, brach sie erneut in Tränen aus. Nicht die Tränen der Wut, sondern die Tränen des unermesslichen Verlusts und der unendlichen Trauer. Sie sank auf die Knie und ihre schluchzenden Worte drangen zu mir vor. «Mein Schatz, meine arme Malin.» Sie zeigte auf mich und sagte: «Du hast sie in den Tod getrieben. Sie hat es mir selbst gesagt. Du selbst hast mir gesagt, dass es besser wäre, wenn Malin tot wäre.» Fassungslos sah ich Mama an, während weinend auf dem Boden lag. Das Einzige, was in meinem Kopf hallte, waren die Worte meiner Mutter: Du hast sie in den Tod getrieben. Die Schuldgefühle nagten an mir. Hätte ich etwas tun können, um sie zu retten?

    Einige Wochen sind vergangen seit dem tragischen Tod von Malin. Mama, die von unfassbarem Schmerz und Wut überwältigt war, fand einen Sündenbock für diese Tragödie – mich. In ihrer Trauer beschuldigte sie mich, Malin in den Tod getrieben zu haben. Es war, als ob sie eine emotionale Zielscheibe für ihre eigenen unermesslichen Schmerz suchte und mich dafür verantwortlich machte. Es gab keine Worte des Trostes oder der Rechtfertigung, die diesen Schmerz mildern konnten.

    Einige Menschen aus unserer Nachbarschaft wandten sich von mir ab und verbreiteten Gerüchte über mich. Andere versuchten, mir Beistand zu leisten, doch die Spannungen waren deutlich spürbar.

    Selbst Ellie, die immer an meiner Seite gestanden hatte, wirkte unsicher und distanziert.

    Während die Trauerfeier für Malin näher rückte, spürte ich die Blicke der Menschen, die mich verurteilten. Der Schmerz, den ich in ihren Augen sah, schnürte mir die Kehle zu. Ich fühlte mich von unserer Nachbarschaft entfremdet, von meiner eigenen Familie getrennt und von meinem eigenen Gewissen zerfressen.

    In den dunkelsten Stunden suchte ich Trost in den Erinnerungen an die guten Zeiten mit Malin. Ich erinnerte mich an ihr Lächeln und die unzähligen Momente, die wir gemeinsam geteilt hatten. Doch diese Erinnerungen wurden von dem Gewicht der Schuld und der Trauer überschattet.

    Nach der Trauerfeier begab ich mich nach draussen, um frische Luft zu schnappen, während die anderen dabei halfen, Mama beim Aufräumen zu unterstützen. Plötzlich kamen zwei Männer in teuren Anzügen auf mich zu. «Hanna Garzia?» fragte der eine von ihnen. «Ja», antwortete ich verwirrt. «Hanna Garzia, wir nehmen Sie hiermit fest.»

    Ich starrte die Männer fassungslos an. «Was habe ich getan, dass Sie mich festnehmen?» Ich bekam keine klare Antwort. «Wir haben Beweise, dass Sie möglicherweise Ihre Schwester zum Selbsttod angestiftet haben», sagte der andere Mann kalt. «Das ist lächerlich! Warum sollte ich so etwas tun? Lassen Sie mich los!» flehte ich, während ich nach meiner Mutter rief.

    Unglücklicherweise kamen meine Mutter und die restlichen Gäste, die noch geblieben waren, dazu. Die Männer erklärten meiner Mutter die Vorwürfe. «Du hast es verdient. Du sollst für das, was du Malin angetan hast, in der Hölle schmoren», rief meine Mutter voller Wut aus. Die Anwesenden sahen mich mit Verachtung an, während ich weiterhin meine Unschuld beteuerte.

    Inmitten des Chaos und der Anschuldigungen versuchte ich verzweifelt, meine Unschuld zu beteuern. Tränen liefen mir über das Gesicht, während ich wieder und wieder versicherte, dass ich Malin niemals Schaden zufügen würde. Doch meine Worte verhallten ungehört, erstickt von der Wut und Trauer, die in der Luft hingen.

    Die Männer brachten mich zum örtlichen Polizeirevier, wo ich in einem kalten, kargen Raum auf meine Vernehmung wartete. Mein Herz pochte heftig, als ich darüber nachdachte, wie meine Welt innerhalb weniger Stunden in Trümmern lag. Plötzlich öffnete sich die Tür, und ein Ermittler betrat den Raum.

    Sein Gesichtsausdruck war ernst, als er sich mir gegenüber setzte.

    «Wie können Sie sich zu den Vorwürfen äussern, Miss Garzia?», begann der Ermittler. Ich erklärte meine Unschuld erneut, während er meine Geschichte aufnahm. Ich erzählte von Malins Kampf, von ihrer psychischen und physischen Gesundheit, von meiner eigenen Hilflosigkeit und Verzweiflung.

    Der Ermittler schien meine Worte ernst zu nehmen und versprach, die Angelegenheit gründlich zu untersuchen. Während die Stunden vergingen, durchlebte ich eine emotionale Achterbahn, von der Hoffnung auf Gerechtigkeit bis hin zur Angst vor einer ungewissen Zukunft.

    Die Vernehmung erstreckte sich über Stunden, in denen der Ermittler jede Einzelheit meiner Geschichte genau prüfte. Er stellte unzählige Fragen und hörte geduldig zu, als ich meine Verzweiflung über Malins Zustand und meine eigene Hilflosigkeit schilderte. In seinen Augen konnte ich sehen, dass er bemüht war, die Wahrheit herauszufinden.

    Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, lehnte sich der Ermittler zurück und seufzte tief. «Miss Garzia, wir werden die nötigen Ermittlungen durchführen. Es gibt Hinweise darauf, dass Sie möglicherweise involviert sind, aber wir müssen alles gründlich prüfen.»

    Die Nachricht fühlte sich wie ein winziger Lichtstrahl in der Dunkelheit an. Trotzdem konnte ich die Angst nicht abschütteln. Die Welt draussen schien so weit entfernt zu sein, während ich in diesem kalten Raum gefangen war, umgeben von Unsicherheit und Misstrauen.

    Nach weiteren Stunden des Wartens erhielt der Ermittler einen Anruf. Sein Gesichtsausdruck änderte sich, als er telefonierte. Ich konnte nicht verstehen, was am anderen Ende der Leitung gesagt wurde, aber die Spannung in der Luft war spürbar.

    Schliesslich legte der Ermittler auf und sah mich ernst an. «Miss Garzia, es scheint, als hätten wir Beweise gefunden, die Ihre Schuld an dem Tod ihrer Schwester beweist. Sie werden vorerst festgenommen.»

    Ein eisiger Schauer durchfuhr mich, als die Worte des Ermittlers meine Ohren erreichten. Ich konnte nicht fassen, was ich gerade gehört hatte. Die Welt, die für einen winzigen Moment Hoffnung gegeben hatte, brach erneut über mir zusammen. «Das kann nicht wahr sein», flüsterte ich, meine Stimme brüchig vor Verzweiflung.

    Die Männer, die mich hergebracht hatten, traten näher und legten mir Handschellen an. Mein Verstand war wie gelähmt, während ich versuchte zu begreifen, wie sich das Blatt so schnell wenden konnte. «Ich habe nichts getan. Ich würde niemals meiner Schwester etwas antun», stammelte ich, meine Worte klangen selbst für mich wie ein verzweifelter Appell an die Wahrheit.

    Der Ermittler ignorierte meine Beteuerungen und führte mich aus dem Raum. Draussen wartete bereits ein Streifenwagen, bereit, mich zu einem Ort zu bringen, an dem ich nicht sein wollte.

    Im Gefängnis angekommen, wurde ich in eine kalte Zelle geführt. Die Tür wurde mit einem dumpfen Klang hinter mir geschlossen, und ich blieb allein zurück. Der Raum war klein, der Blick aus dem winzigen Fenster ein einziger trübseliger Anblick.

    Ich liess mich auf dem harten Bett nieder und kämpfte gegen die Tränen an, die meine Augen füllten. Mein Verstand war ein Wirrwarr aus Gedanken und Emotionen. Wie konnte das passieren? Wie konnte ich so schnell zum Täter werden? Es war, als ob die Welt, die ich kannte, in sich zusammenbrach, und ich war gefangen in den Scherben meiner eigenen Unschuld.

    Ich brach in Tränen aus. «Deshalb bin ich hier, um ihnen meine Sichtweise der Geschehnisse zu schildern», sagte ich durchs Mikrofon. «Miss Garzia, vielen Dank für Ihre ausführliche Schilderung der Ereignisse bis zu diesem Zeitpunkt», sagte mein Anwalt dankbar zu mir. Mein Anwalt kam auf mich zu und bat mich, wieder an meinen Platz zurückzukehren. Ich nickte ihm zu und gehorchte.

    «Geschätzte Geschworenen, Hanna Garzia hat uns allen im Gerichtssaal gezeigt, wie sehr Malin unter ihrer Depression litt. Hanna hat alles in ihrer machtstehende getan, um ihrer Schwester zu helfen. Die einzigen belastenden Beweise gegen Hanna stammen von ihrer eigenen Mutter, in dem sie in ihrem Tagebuch aufgeführt, dass Malin ihr am vorherigen Tag bevor Malins vermeintlichen Tod, sie ihrer Mutter bekannt gab, dass sie Angst vor Hanna habe. Angeblich habe Hanna Malin erzählt, wie sehr sie ihrer Schwester den Tod wünscht. Auch in Malins Tagebuch gibt es eine Seite, in welchem sie sich fragt, wieso Hanna ihrer Mutter erzählt hat, dass es besser gewesen wäre, wenn Malin doch beim ersten Suizidversuch von ihnen gegangen wäre.

    Aufgrund dieser Beweislage verbrachte Hanna ein Jahr im Jugendgefängnis. Wir haben neue Beweise gefunden, die Hannas Unschuld beweisen. Aus diesem Grund möchte ich gerne Anastasia Garzia in den Zeugenstand aufrufen.»

    Meine Mutter betrat den Raum. Unsere Blicke trafen sich kurz, doch ich vermied es, ihr direkt in die Augen zu sehen. Sie setzte sich hin und lauschte aufmerksam den Worten meines Anwalts. «Mrs. Garzia, können Sie mir sagen, was Sie auf dem Bildschirm sehen?» fragte mein Anwalt. Mutter richtete ihren Blick auf den Bildschirm. «Das ist mein Tagebuch», antwortete sie. «Und was haben Sie alles in Ihrem Tagebuch niedergeschrieben?» Mutter schmunzelte leicht. «Nun ja, man schreibt eben alles auf, was einem durch den Kopf geht.»

    Mein Anwalt projizierte ein weiteres Bild auf den Bildschirm. «Können Sie mir erklären, was diese Buchstaben und Zahlen bedeuten?» Mutter wurde sichtlich nervöser. «Mrs. Garzia, können Sie mir erklären, was diese Buchstaben und Zahlen für eine Bedeutung haben?» hakte mein Anwalt nach.

    «Ich habe notiert, welche Medikamente meine Tochter einnehmen musste», sagte Mutter. "Über welche Tochter sprechen wir hier, Mrs. Garzia?» fragte mein Anwalt nach. «Malin hat Medikamente genommen.» «Warum variieren die Zahlen von Woche zu Woche?» fragte er weiter. «Die Dosierung wurde von den Ärzten festgelegt», verteidigte sich meine Mutter. «Können Sie mir den Namen des Arztes nennen, der solch eine Dosierung verordnet hat?»

    Während der Befragung war ich sichtlich verwirrt. Warum wurde meine Mutter über Medikamente befragt? «Mrs. Garzia, ich helfe Ihnen auf die Sprünge. Wir haben mit allen Ärzten Kontakt aufgenommen, die Malin jemals behandelt haben. Keiner von ihnen hat ihr diese Medikamente verschrieben. Nun stellt sich die Frage: Wie ist Malin an diese Medikamente gelangt?»

    «Mrs. Garzia, welchen Beruf üben Sie aus?», fragte mein Anwalt. «Ich bin Krankenschwester im Krankenhaus St. Luzio», antwortete Mutter. «Seit wie vielen Jahren sind Sie in diesem Beruf tätig?» erkundigte er sich weiter. «Ich übe diese Tätigkeit aus, seit ich 24 Jahre alt bin», erklärte sie.

    «Dann möchte ich Ihnen einige Aufnahmen aus dem Krankenhaus zeigen.» Mein Anwalt zeigte Bilder, auf denen meine Mutter in der Medikamentenkammer zu sehen war, wie sie mehrere Medikamente in ihre Taschen steckte. Er ging auf meine Mutter zu und legte einige der Medikamentenverpackungen vor sie hin. «Mrs. Garzia, erkennen Sie diese wieder?» Meine Mutter sah meinen Anwalt verwirrt an.

    «Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen. Das sind dieselben Medikamente, die Sie in der Medikamentenkammer gestohlen haben. Diese haben wir in ihrem Haus vorgefunden.»

    «Hanna hat uns berichtet, dass Malin vor der Geburtstagsfeier einen Multisaft getrunken hat, den sie schon seit längerem konsumierte. Sie hat sich immer darüber beschwert, dass der Saft seltsam schmeckte. Dies lag daran, dass das Getränk mit diesem Blutverdünnungsmedikament gemischt wurde, was dazu führte, dass Malin Blut im Urin hatte», sagte mein Anwalt ruhig.

    «Ich habe so etwas nie getan!», fauchte meine Mutter meinen Anwalt an. «Sie bestreiten also, Ihrer Tochter Malin Medikamente gegeben zu haben, die sie nicht gebraucht hätte?», fragte er nach. «Ja, das behaupte ich. Ich könnte so etwas meiner Malin niemals antun», entgegnete sie vehement.

    Mein Anwalt lächelte leicht. «Euer Ehren, ich würde gerne den Psychiater als nächstes in den Zeugenstand aufrufen.»

    Der Psychiater wurde zunächst gefragt, ob eine hohe Dosis an Blutverdünnungsmedikamenten zu Blut im Urin führen kann. Dies bestätigte er. «Die variierenden Dosen der Medikamente von Woche zu Woche haben schwerwiegende Folgen», erklärte der Psychiater. «Eine so unregelmässige Einnahme der Medikamente kann dazu führen, dass die Person, die sie einnimmt, erheblich erkrankt.»

    Dann stellte mein Anwalt die entscheidende Frage während der gesamten Gerichtsverhandlung. «Sie haben Mrs. Garzia untersucht. Basierend auf den vorliegenden Indizien, zu welchem Schluss sind Sie gekommen?» Der Mediziner rückte näher an das Mikrofon heran. «Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass Mrs. Garzia am Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom leidet.»

    Die Worte des Gerichtsmediziners hallten durch den Gerichtssaal, und ein Raunen ging durch die Menge. Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom war ein schwerwiegender Befund, der auf das bewusste Herbeiführen oder Simulieren von Krankheiten bei einer anderen Person hinwies.

    Mein Anwalt fuhr fort: «Können Sie uns näher erläutern, was das Münchhausen-Stellvertreter- Syndrom bedeutet und wie es sich auf Malin ausgewirkt haben könnte?»

    Der Psychiater erklärte, dass das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom eine psychische Störung sei, bei der eine Person, in diesem Fall meine Mutter, absichtlich Krankheiten oder Symptome bei einer anderen Person, in diesem Fall Malin, hervorruft oder vortäuscht, um Aufmerksamkeit, Mitgefühl oder Anerkennung zu erlangen. Er erläuterte, wie die unregelmässigen Dosen der Medikamente, die Malin verabreicht wurden, zu ihren gesundheitlichen Problemen geführt hatten.

    Der Psychiater verdeutlichte, dass die Beweise und seine Untersuchung zu dem Schluss führten, dass Malin aufgrund der Handlungen meiner Mutter gelitten hatte. Die Geschworenen hörten gespannt zu, und die Wahrheit über die schmerzhaften Erfahrungen, die meine Schwester durchgemacht hatte, wurde im Gerichtssaal offengelegt.

    Während meine Mutter sich rechtfertigen wollte, wurde sie von ihrem Anwalt zurückgehalten. Nach den schockierenden Enthüllungen im Gerichtssaal fanden sich alle Anwesenden in einem Meer aus Stille wieder. Die Wahrheit über das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom meiner Mutter und die Qualen, die meine Schwester durchlitten hatte, waren nun offenbart worden. Die Geschworenen blickten ernst und nachdenklich, während die Anklage meiner Mutter eine bedrückende Atmosphäre im Saal hinterliess.

    Mein Anwalt erhob sich und sprach mit einer festen Stimme: «Euer Ehren, die Beweise und die Aussagen des Psychiaters zeigen deutlich, dass Malin durch das Handeln ihrer eigenen Mutter ernsthaft geschädigt wurde. Die Indizien weisen klar darauf hin, dass meine Mandantin, Hanna Garzia, unschuldig ist und die Handlungen ihrer Mutter nicht nur dazu geführt haben, dass Malin krank wurde, sondern auch zu ihrem tragischen Tod.»

    Die Geschworenen zogen sich zur Beratung zurück, und während dieser Zeit spürte ich eine Mischung aus Erleichterung und Angst. Die Aussicht auf Gerechtigkeit für Malin und meine Unschuld war zum Greifen nah, aber die Ungewissheit über den Ausgang des Prozesses nagte an meinen Nerven.

    Nach einer langen Wartezeit kehrten die Geschworenen zurück und nahmen ihre Plätze ein. Ihr Gesichtsausdruck wirkte ernst, als die Jury-Sprecherin das Urteil verkündete: «Im Namen des Volkes erklären wir die Angeklagte, Hanna Garzia, für nicht schuldig an allen gegen sie erhobenen Anklagepunkten.»

    Ein erleichtertes Aufatmen durchflutete den Gerichtssaal, und meine Tränen brachen unaufhaltsam hervor. Mein Anwalt umarmte mich vor Freude und sagte: «Hanna, wir haben gewonnen. Wir haben es geschafft.» Ich schüttelte energisch den Kopf. «Sie haben vielleicht gewonnen, und ich bin Ihnen unendlich dankbar dafür. Aber ich habe jedoch alles verloren. Zuerst meine Schwester und jetzt meine Mutter. Ich habe niemanden mehr. Ich bin jetzt ein Niemand …