Zu Beginn meines Psychologie-Studiums an einer bayerischen Universität stellte ich schnell fest, dass die einzelnen Fächer der ersten Semester im Bachelor nicht so ganz zusammenpassen wollten. Allgemeine Psychologie, Biologische Psychologie, Geschichte der Psychologie, Neurowissenschaften. Ich hatte das Gefühl, dass jedes dieser Fächer unterschiedliche Blickwinkel auf „die“ Psychologie als Wissenschaft werfen wollte, am Ende aber als Subfeld für sich eigene Wahrheiten beanspruchte, die nicht so richtig zu „einer“, „der“ Wahrheit über die Psychologie als Wissenschaft und damit über den Menschen zusammenkamen. Vergeblich suchte ich nach einem Subfeld, welches sich ausschliesslich damit beschäftigte, das wissenschaftlich-psychologischen Spezialwissen zu vereinen. Mit Vorfreude las ich also, dass das Fach „Methodenlehre“ über laut Regelstudienplan zwei Semester am Ende meines Bachelors gelehrt wurde. In diesem Fach erhoffte ich mir ein einendes Fachinteresse zu spüren. Was ist „die“ Psychologie? Was will sie genau? Warum so viele Subfelder? Wie kann man so viel hochspezialisiertes Wissen zusammenflicken? Wie einen Patchwork-Teppich. Solche Dinge. Das bekam ich, zumindest ein wenig. Die Methodenlehre in der Psychologie, aber auch in anderen Wissenschaften beschäftigt sich mit der Diskussion von Wissenschaftsmethodik – in der Psychologie kann das heissen, dass der methodische Baukasten, die Statistik unter die Lupe genommen wird oder, dass über sinnvolle Definitionen von Konstrukten, also Phänomen, die die wissenschaftliche Psychologie erklären möchte, nachgedacht wird. Wie es anmutet, war es dann auch – im Kern super spannend, aber dann doch staubtrocken in der Lehre. Bis auf wenige philosophische Einwürfe von Kuhn und Popper, so viel sollte man dem Ganzen lassen. An trockene, theoretische Fächer sind wir als Psycholog*innen gewöhnt. Dennoch war meine Enttäuschung wieder einmal gross, dass das Fach „Methodenlehre“ meinen Wunsch nach mehr Einigkeit in meinem Fach, die ich während des Bachelors vermisste, nicht richtig erfüllen konnte. Ich glaube, dass es damals zwar auch darum ging, dass man selbst nicht so ganz wusste, ob Psychologie das richtige Studienfach war etc., jedoch hasste ich es, dass meine Unzufriedenheit, deren Ursprung ich noch nicht richtig in Worte fassen konnte, meistens mit dem Spruch „Lehrjahre sind keine Herrenjahre“ oder so ähnlich abgefertigt wurde, wenn ich das mit meinen Studiumsfinanzierer*innen besprach. Komischerweise wurde die Unzufriedenheit, die ich verspürte, von anderen mit „An sich hast du schon recht, ich verstehe auch nicht so genau, warum wir das jetzt in der und der Form lernen sollen, vielleicht klärt sich das ja noch auf.“ kommentiert, aber so richtig „wehrte“ sich eigentlich niemand. Manchmal kribbelte es mich, in Vorlesungen aufzustehen und einfach: „What is the bigger picture?“ zu rufen. Ich glaube, die Kritik, die ich versuche zu formulieren, betrifft insbesondere Grundlagenfächer am Anfang des Bachelors, aber auch hin zum Master. Kognitionspsychologie usw., das sollte vielen in lernreicher Erinnerung sein. Vieles hängt sicherlich auch an der Lehre und nicht nur an Grundsatzproblemen der Einigkeit in der wissenschaftlichen Psychologie.
Von der Replikationskrise haben die meisten Psychologie-Studierenden mal etwas gehört („War da nicht etwas mit Experimenten, die, wenn sie repliziert, also nochmals durchgeführt wurden, genauso wie es im experimentellen Protokoll vermerkt war, nicht dieselben, geschweige denn ähnliche Ergebnisse erzielen konnten?“). Dennoch wird diese Krise nur sporadisch von Dozierenden erwähnt. Man hat das Gefühl, da spricht sich keine*r ab. Was ist ihr Ursprung? Was sind ihre Folgen? Was tut die wissenschaftliche Psychologie, um ihre sogenannte „credibility“ wieder zu erlangen, nachdem in den 2010er Jahren, einige der ungefähr basalsten und man glaubte zuverlässigsten Ergebnisse psychologischer Forschung sich einfach nicht replizieren liessen? Ich glaube, meine Unzufriedenheit mit wissenschaftlicher Psychologie ab Start des Studiums ist meine persönliche Replikationskrise. Ich war erst 12 als die Replikationskrise begann, grössere Wellen zu schlagen. Mit Anfang 20 erlebte ich dann die Krise meines Fachs wie eine lang anhaltende zweite Pubertät. Wie soll ich in diesem in Einzelteile zersprungenen Feld befriedigt arbeiten? Mir fehlt die Kohärenz. Meine Frustration lässt sich zusammenfassen mit der langen Frage: Wie akkumulieren psychologisch-wissenschaftliche Ergebnisse aus Subfeldern zu einem nachvollziehbaren Strang an psychologisch-wissenschaftlichen Wissen?
Ich freue mich immer von Projekten zu lesen, die versuchen, Wissen zu akkumulieren und gut zu kommunizieren (man könnte meinen, das ist eine der generellen Kerntätigkeiten aller wissenschaftlichen Praxis). Das Blue Brain-Projekt an der EPFL ist ein solches Projekt, das dieses Jahr ausgelaufen ist und in meinen Augen die höchste Achtung verdient, weil es etwas versucht hat, das einfach noch zu wenig passiert: gemeinsam und interdisziplinär Richtung übergreifende Theorien zu erarbeiten. Und damit die Vielfalt an Wissenschaften (nicht nur Subdisziplinen eines Feldes) zu nutzen, um gemeinsam zu übergreifenden Erkenntnissen zu gelangen. Und das öffentlichkeitswirksam. Dass schon die Psychologie an sich, als wissenschaftliche Disziplin so divers ist, ist Fluch und Segen zugleich. Es ist praktisch, dass wir uns aufteilen, wenn wir merken, dass Spezialist*innen besser, meint effizienter, zu mehr Wissen gelangen. Es muss aber genauso ein Weg zurückgefunden werden, damit hoch-spezialisiertes Fachwissen, das allgemein-verfügbare Wissen über die Psyche des Menschen und seine Motive von Handlungen usw. anreichert und der Elfenbeinturm nicht umsonst verschlungener und verschlungener wird.
Ein Forschungsfeld, in dem ich mit diesen Fragen und Zweifeln an der richtigen Stelle zu sein scheine, ist das im Kontext der Replikationskrise aus dem Boden gestampfte Feld der Metawissenschaft. Das Nachdenken über Wissenschaft als Wissenschaft ist an sich überhaupt kein neues Konzept. Jedoch scheint die Psychologie systematische Metawissenschaft erst recht spät entdeckt zu haben. Metawissenschaft ist „science on science“ oder „research on research“ und lässt Metaforscher*innen einen “birds eye view” einnehmen, wie es John Ioannidis, Metaforscher und Advocatus Diaboli der Replikationskrise beschreibt. Metawissenschaft ist eigentlich wie ein*e Arzt/Ärztin, der/die sich bemüht, die seit langer Zeit schwelenden, durch die Replikationskrise entdeckten Wunden der wissenschaftlichen Psychologie zu heilen. Oder wahrscheinlich erstmal zu verstehen, wie sich die Psychologie diese Wunden eigentlich zufügen konnte. Schon das ist nicht ganz klar. Was ist an psychologischen Forschungsdesigns, an statistischen Methoden, an bestimmten Theorien etc. so falsch oder zumindest noch nicht wirklich korrekt verstanden? Einige psychologische Forscher*innen haben versucht, ihre Wissenschaft zu verbessern. Mehr „computational models“, nicht mehr, sondern bessere Theorie, bessere Verbindungen zwischen Theorien und Daten, mehr open science Praktiken, mehr Transparenz. Im Grunde sind dies metawissenschaftliche Vor- und Ratschläge.
Was mir an Metawissenschaft gefällt, ist, dass sie den Blickwinkel einnimmt, der mir zu Beginn meines Psychologie-Studiums gut getan hätte. Im Master war die Metawissenschaft und -kritik an wissenschaftlicher Psychologie nur in einem Seminar. In vielen Seminaren scheinen zwar Tonnen an Papers auseinandergenommen zu werden aufgrund ihrer Theorien, Methodik, Analysen – was bleibt jedoch von diesen Kritikpunkten rein pragmatisch? Warum wird im Psychologie-Studium so hinter dem Berg gehalten mit den genauen Überlegungen und Lösungsvorschlägen zur Replikationskrise? Warum wird nicht Metawissenschaft, warum wird nicht das Fach „Open Science“ explizit und vor allem verpflichtend unterrichtet? Die Tücken des Systems, das in der Psychologie, wie in anderen wissenschaftlichen Fächern, über Jahrzehnte aufgebaut wurden, sollten wir genauso lernen (oder zumindest ein paar davon besser kennen), um zu verstehen, dass unser so zerstückeltes Forschungs- und Arbeitsfeld hoffentlich in Richtung einer Akkumulation des Wissens hinarbeitet. Und wenn am Ende herauskommt, dass die wissenschaftliche Psychologie nun mal ein Flickenteppich aus den und den Gründen ist – ok. Dann wissen wir wenigstens, warum man sich im Laufe des Studiums an die in Teilen verwirrend breite Kombination an Subfächern gewöhnen sollte und warum diese notwendig ist. Der Versuch eines „bigger picture“ der wissenschaftlichen Psychologie wäre wünschenswert – im Studium und später.