Da ich Psychologie und nicht Philosophie studiere, wird man mir hoffentlich verzeihen, wenn mein kurzer, einer Art freien Assoziation folgender Beitrag, nicht mit der logischen Konsistenz und sprachlichen Eloquenz philosophischer Texte mithalten kann. Einen Text von mehr als einer halben Seite musste ich für mein Psychologie-Studium bisher nämlich noch nicht verfassen…
„Zu Nietzsches folgenreichsten Erkenntnissen zählt, dass „all unser sogenanntes Bewusstsein ein mehr oder weniger phantastischer Kommentar über einen unbewußten, unwißbaren, aber gefühlten Text“ sei. (Georg & Zittel, 2012)
Nietzsche zu lesen ist faszinierend, es scheint, als verschriftliche er, was sein Unbewusstes ihm mitteilt. Freud und Jung hätten sich bestimmt gut mit Nietzsche verstanden – an Material für Deutungen hätte es nicht gemangelt (Irvin Yalom hat mit „Und Nietzsche weinte“ ein lesenswertes Buch über eine fiktive Therapie zwischen Freud und Nietzsche geschrieben).
Nietzsche war ein Philosoph, der in die Tiefe menschlicher Abgründe, auch seiner eigenen, blickte. Und trotzdem stark blieb – oder jedenfalls so schrieb, als ob.
Die Psychoanalytiker (als kleiner Teil der heutigen Psychotherapeuten) haben das in die Tiefe blicken zum Beruf gemacht. Wenn auch einige psychoanalytische Theorien in ihrer Einfachheit (die sie so attraktiv machen) heute kaum mehr zu stützen sind, haben wir den Psychoanalytikern viel zu verdanken. Viele Konzepte werden heute noch von Therapeuten genutzt (in Deutschland behandeln 45 % der Therapeuten nach der „Tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie“, die auf der Psychoanalyse aufbaut)
Diese Tiefe ist in den empirischen Bereichen der Psychologie (und das ist der allergrößte Teil) schon lange verloren gegangen. Ein wesentlicher Bestandteil meines Psychologie-Studiums besteht im Berechnen von Korrelationen, Signifikanzniveaus und dem Verwenden von Fachwörtern wie Operationalisierung und Konstruktvalidität, um eine Scheinexaktheit zu suggerieren.
Um fair zu bleiben: Eine gewisse Berechtigung und Wichtigkeit hat die methodische Genauigkeit natürlich, und es lassen sich so auch viele erstaunliche Erkenntnisse gewinnen. Dennoch, die menschliche Psyche wird wohl auch die nächste große Metaanalyse nicht entziffern können, die Neurowissenschaftler sind vielleicht die einzigen, die an dieser Illusion noch glaubhaft festhalten. Übrigens kann das wahrscheinlich auch keine andere Disziplin schaffen: die menschliche Psyche zu „verstehen“. Die Psychologie und vor allem auch die Philosophie und die Künste können aber einen großen Beitrag dazu leisten, wenigstens unsere eigene Psyche etwas besser zu verstehen. Das wäre ja schonmal ein Anfang, unsere eigenen Probleme zu einem gewissen Ausmaß zu verstehen und zu lösen ist ein notwendiger Schritt, um gesellschaftliche Probleme anzugehen (denn unsere Psyche spiegelt sich in der Welt wider, wie sich unsere Welt in der Psyche widerspiegelt). Wobei das letztere auch manchmal gemacht wird, um die eigenen Konflikte zu überdecken, zu lösen, zu verdrängen, zu sublimieren, zu relativieren usw. Es gibt viele Möglichkeiten…
Sinnvoll ist Psychologie gerade dann, wenn sie sich am Individuum orientiert – und in Kauf nimmt, dass eine Generalisierung des beobachteten Phänomens vom Einzelnen auf die Allgemeinheit oft nicht möglich und sinnvoll ist.
Etwas mehr Integrierung des vorhandenen Wissens wäre schön. Daten haben wir in der Psychologie viele gesammelt – aber haben wir auch tiefe Erkenntnisse gewonnen? Vielleicht ist die Integrierung in und durch andere Disziplinen Aufgabe der Philosophie. Oder vielleicht der Kunst? So wie es Hermann Hesse im „Glasperlenspiel“ beschreibt: „Das Glasperlenspiel ist also ein Spiel mit sämtlichen Inhalten und Werten unserer Kultur, es spielt mit ihnen, wie etwas in den Blütezeiten der Künste ein Maler mit den Farben seiner Palette gespielt haben mag. Was die Menschheit an Erkenntnissen, hohen Gedanken und Kunstwerken in ihren schöpferischen Zeitaltern hervorgebracht, was die nachfolgenden Perioden gelehrter Betrachtung auf Begriffe gebracht und zum intellektuellen Besitz gemacht haben, dieses ganze Ungeheure Material von geistigen Werten wird vom Glasperlenspieler so gespielt wie eine Orgel vom Organisten, und diese Orgel ist von einer kaum auszudenkenden Vollkommenheit, ihre Manuale und Pedale tasten den ganzen geistigen Kosmos ab, ihre Register sind beinahe unzählig, theoretisch ließe mit diesem Instrument der ganze geistige Weltinhalt sich im Spiele reproduzieren.“
Natürlich ist das ein Ideal, das nie erreicht werden kann, aber wie uns die psychologische Forschung zeigt: Der Weg zur Erreichung eines Ziels ist meist befriedigender, als das Ziel tatsächlich zu erreichen.
„Und wenn, wie oben zitiert, „all unser sogenanntes Bewusstsein ein mehr oder weniger phantastischer Commentar über einen ungewussten, vielleicht unwissbaren, aber gefühlten Text“ so macht Nietzsche an dieser Stelle ganz klar, dass unsere Selbstdurchleuchtung nicht auf ein ursprünglich wesenhaftes dionysisches Triebleben stößt, sondern letztlich immer wieder auf einen „Text“, also ein Interpretament, das es wie die verschiedenen „Zeichensprache der Affekte“ (Moral gdanken, Kultur) oder Metaphern des Leibes wiederum zu dechiffrieren gilt.“ (Georg & Zittel, 2012)
Frei assoziiert: Erinnert mich an Jungs Konzept des Kollektiven Unbewussten. Und an Hesses Glasperlenspiel. Ein (guter) Analytiker würde mir verzeihen.
Um wieder auf den Boden der Tatsachen zu kommen und einen bescheidenen Wunsch zu äußern: Was mir im Psychologie-Studium fehlt, ist u.a. Philosophie, Kunst und Geschichte – alles Werkzeuge, um den Menschen besser und tiefer zu verstehen. Und vielleicht wünscht sich der ein oder andere Philosophie-Student ja etwas mehr Einbezug psychologischer Forschung.
Mut zur Integration! … wie Nietzsche wohl sagen würde.